OGH vom 14.09.2021, 11Os102/21s (11Os103/21p, 11Os108/21y)

OGH vom 14.09.2021, 11Os102/21s (11Os103/21p, 11Os108/21y)

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. BachnerForegger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Vizthum als Schriftführerin in der Auslieferungssache der Elena A*****, Zahl 306 HSt 24/20w der Staatsanwaltschaft Wien, AZ 311 HR 157/20a des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über deren Anträge 1./ auf Erneuerung des Verfahrens in Bezug auf die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom , GZ 311 HR 157/20a23, und des Oberlandesgerichts Wien vom , AZ 22 Bs 116/21a, sowie 2./ auf Hemmung des Auslieferungsverfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit Beschluss vom , GZ 311 HR 157/20a-23, erklärte die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Auslieferung der Staatsangehörigen der russischen Föderation Elena A***** zur Strafverfolgung wegen der Straftat der Unterschlagung nach Art 160 Abs 4 des russischen Strafgesetzbuchs über Ersuchen der dortigen Generalstaatsanwaltschaft vom , Nr 81/3-561-20, für zulässig.

[2] Der Beschwerde der Betroffenen (ON 28) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom , AZ 22 Bs 116/21a, nicht Folge (ON 33).

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich der auf die Behauptung einer Verletzung der Art 3 und 6 MRK gestützte (fristgerechte) Antrag der A***** auf Verfahrenserneuerung, verbunden mit einem „Antrag“ auf vorläufige Hemmung der Auslieferung.

[4] Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag (RIS-Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737, RS0128394). Dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; RIS-Justiz RS0122737 [T13]).

[5] Demnach hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (Grabenwarter/Pabel, EMRK7§ 13 Rz 16) – auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS-Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS-Justiz RS0124359, RS0128393) und – soweit er (auf Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seine Argumentation auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zu entwickeln (RIS-Justiz RS0125393 [T1]).

[6] Den oben dargestellten Erfordernissen wird das gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts gerichtete Vorbringen insgesamt nicht gerecht.

[7] Indem der Antrag – ohne auf die Argumentation des Oberlandesgerichts auch nur einzugehen – die Behauptung eines im ersuchenden Staat drohenden Verstoßes gegen Art 3 und Art 6 MRK nicht auf der Tatsachenbasis der Rechtsmittelentscheidung, sondern aus davon abweichenden Prämissen entwickelt, verfehlt er die Kriterien erfolgversprechender Antragstellung (RIS-Justiz RS0125393 [T1]). Die bloßen Behauptungen, es hätte „einer eingehenden Erörterung bzw Begründung“ bedurft, weshalb den Beweisanträgen nicht Folge gegeben wurde (vgl hingegen BS 3 ff und 7 f) und es bestünden „erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der zuletzt durch die Gerichte getroffenen Feststellungen im Sinne § 82 Abs. 1 Z. 5a StPO“ genügen nicht.

[8] Hinzugefügt sei:

[9] Im Auslieferungsverfahren gilt das sogenannte formelle Prüfungsprinzip (dazu eingehend mwN Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 33 Rz 3 ff). Diesem folgend wird der für das Auslieferungsverfahren hinreichende Tatverdacht bei schlüssigen Auslieferungsunterlagen vermutet (RIS-Justiz RS0087119). Gründe, die geeignet wären, die Schlüssigkeit der gegenständlichen Auslieferungsunterlagen in Zweifel zu setzen, werden bloß spekulativ behauptet. Die Beurteilung der Frage, ob die auszuliefernde Person der ihr zur Last gelegten Straftat schuldig zu halten ist, obliegt dem dazu berufenen ausländischen Gericht (Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 33 Rz 2).

[10] Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn ein konkretes Risiko besteht, dass die betroffene Person im Empfangsstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, welche die Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist (RIS-Justiz RS0123229, RS0123201; Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 7 mwN).

[11] Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr einer Art 3 MRK nicht entsprechenden Behandlung schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend personenbezogen konkret sein muss. Die bloß abstrakte Möglichkeit drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung reicht nicht aus. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein reales, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, die betreffende Person würde im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (RIS-Justiz RS0123229; Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 8 mwN).

[12] Ein solcher Nachweis kann nur dann allenfalls entbehrlich sein, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS-Justiz RS0123229 [insbesondere T 12]; Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 8 mwN).

[13] Derartiges macht die Betroffene weder mit dem Hinweis darauf, dass im „Herkunftsstaat grobe Menschenrechtsverletzungen drohen“ noch mit jenem auf den – mit der gegenständlichen Auslieferungssache in keiner Weise vergleichbaren – sogenannten „Fall Nawalny“ klar.

[14] Zwar fällt das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK, doch können dessen Verfahrensgarantien für die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass sie im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses bereits erfahren musste oder ihr eine solche droht (Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 14; RIS-Justiz RS0123200, RS0120049).

[15] Substantiierte Gründe für eine drohende Verletzung von Art 6 MRK im Strafverfahren des ersuchenden Staates werden nicht vorgebracht. Die schlichte Behauptung, das russische Justizsystem sei „politisch gesteuert“, die Kritik an der Nichteinholung eines länderkundigen Sachverständigengutachtens und der Nichterteilung von Erhebungsaufträgen sowie der Hinweis auf eine Verurteilung der Russischen Föderation durch den EuGH wegen „unfairer und willkürlicher Strafverfahren“ können den erforderlichen Nachweis nicht ersetzen.

[16] Soweit die Erneuerungswerberin sich auch gegen den erstgerichtlichen Beschluss wendet, verfehlt sie den Bezugspunkt, weil Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die mit Beschwerde angefochten werden können, unzulässig sind (RIS-Justiz RS0124739 [T2]).

[17] Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

[18] Dies gilt auch für den „Antrag“ (RIS-Justiz RS0125705) auf vorläufige Hemmung der Auslieferung.

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2021:0110OS00102.21S.0914.000

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.