OGH vom 06.03.2014, 12Os158/13x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Sattlberger als Schriftführerin in der Strafsache gegen Leopold W***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15 Abs 1, 127 StGB, AZ 32 U 56/12p des Bezirksgerichts Amstetten, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom , AZ 20 Bl 98/13m, und einen weiteren Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, zu Recht erkannt:
Spruch
Im Verfahren AZ 32 U 56/12p des Bezirksgerichts Amstetten verletzen die Durchführung der Verhandlung vor dem Landesgericht St. Pölten als Berufungsgericht am , AZ 20 Bl 98/13m (GZ 32 U 56/12p 29 des Bezirksgerichts Amstetten) in Abwesenheit des Angeklagten und das Urteil dieses Gerichts vom selben Tag das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 57 Abs 2 zweiter Satz zweiter Satzteil, 471 iVm 287 Abs 3 zweiter Satz, 294 Abs 5 StPO.
Dieses Urteil wird aufgehoben und dem Landesgericht St. Pölten die neue Verhandlung und Entscheidung über die Berufung und die Beschwerde des Angeklagten aufgetragen.
Text
Gründe:
Leopold W***** wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom , GZ 32 U 56/12p 14, des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15 Abs 1, 127 StGB schuldig erkannt und zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Weiters ordnete das Gericht Bewährungshilfe nach § 50 Abs 1 StGB an.
Der Angeklagte meldete rechtzeitig Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (ON 16) und führte das Rechtsmittel bloß wegen Schuld und Strafe aus (ON 25).
Zur mündlichen Berufungsverhandlung vom beim Landesgericht St. Pölten, AZ 20 Bl 98/13m, erschien der Angeklagte nicht (vgl die handschriftliche Ergänzung in ON 29 S 1; offensichtlich irrtümlich wurde in der schriftlichen Urteilsausfertigung ON 30 der Angeklagte als anwesend bezeichnet). Sein Verteidiger legte ein Schreiben des Angeklagten vor, in welchem er „gesundheitlich bedingt“ um Vertagung der Berufungsverhandlung ersuchte (ON 9 in AZ 20 Bl 98/13m des Landesgerichts St. Pölten). Die dort mit dem Hinweis „wird nachgereicht“ erwähnte Beilage zum Nachweis der Verhinderung befindet sich nicht im Akt.
Nachdem der Verteidiger sein Einverständnis zur Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erklärt hatte, führte das Gericht ohne aus dem Protokoll über die Berufungsverhandlung ersichtlichen Gründen (ON 29 in AZ 32 U 56/12p des Bezirksgerichts Amstetten) die Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch und gab der Berufung des Angeklagten (wegen Schuld [US 4 f] und Strafe [US 6 ff]) nicht Folge (ON 29, 30 in AZ 32 U 56/12p des Bezirksgerichts Amstetten).
Eine Entscheidung über die ohne Bezeichnung von Nichtigkeitsgründen angemeldete (ON 16 S 3), in der Folge nicht ausgeführte Berufung wegen Nichtigkeit, die gemäß § 467 Abs 2 erster Satz StPO zurückzuweisen gewesen wäre (SSt 2007/2; Ratz , WK StPO § 476 Rz 2), unterblieb ebenso wie eine Beschlussfassung über die gemäß § 498 Abs 3 dritter Satz StPO implizierte Beschwerde des Angeklagten gegen die entgegen § 494 Abs 1 StPO nicht in Form eines gesonderten Beschlusses angeordnete Beigebung eines Bewährungshelfers.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, hat das Landesgericht St. Pölten als Berufungsgericht das Gesetz verletzt:
Gemäß § 471 StPO gelten für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung über Berufungen gegen Urteile der Bezirksgerichte unter anderem die §§ 286 Abs 1, 294 StPO sinngemäß. Gemäß Abs 5 zweiter Satz des § 294 StPO sind die Bestimmungen der §§ 286 und 287 StPO dem Sinn nach mit der Maßgabe anzuwenden, dass der nicht verhaftete Angeklagte vorzuladen und auch die Vorführung des verhafteten Angeklagten zu veranlassen ist, es sei denn, dieser hätte durch seinen Verteidiger ausdrücklich darauf verzichtet.
Ist der nicht verhaftete Angeklagte etwa durch Krankheit am Erscheinen verhindert, ohne durch seinen Verteidiger ausdrücklich auf die Teilnahme am Gerichtstag verzichtet zu haben, kommt (zur Gewährleistung einer Gleichstellung verhafteter und nicht verhafteter Angeklagter) eine Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten gleichfalls nicht in Betracht (RIS Justiz RS0124107 [T2]; Ratz , WK StPO § 296 Rz 2, § 471 Rz 2).
§ 57 Abs 2 StPO normiert, dass der Verteidiger die dem Beschuldigten zustehenden Verfahrensrechte ausübt. Damit wird klargestellt, dass Verfahrensrechte grundsätzlich dem Beschuldigten zukommen, ihre Ausübung allerdings durch die Bevollmächtigung oder sonstige Bestellung eines Verteidigers auf diesen ausgeweitet werden kann; im Falle einander widersprechender auch schriftlicher (12 Os 97/13a) Erklärungen gilt jene des Beschuldigten (EBRV 25 BlgNR 22. GP 82 f; Fabrizy , StPO 11 § 57 Rz 8 f; Achammer , WK StPO § 57 Rz 45, 47; Haißl in Schmölzer/Mühlbacher , StPO § 57 Rz 20 f).
Gemäß § 287 Abs 3 zweiter Satz StPO iVm § 471 StPO gebührt dem Angeklagten oder seinem Verteidiger das Recht der letzten Äußerung. Wer es wahrnimmt, ist dem Angeklagten überlassen ( Ratz , WK StPO § 287 Rz 2).
Vorliegend verhandelte und entschied das Berufungsgericht in Abwesenheit des Angeklagten trotz bekannter (RIS Justiz RS0097995; Achammer in WK StPO § 57 Rz 50, 55; Haißl in Schmölzer/Mühlbacher , StPO § 57 Rz 23) widersprechender Erklärungen, nämlich des zur Vermeidung von Nachteilen die persönliche Teilnahme an der Berufungsverhandlung anstrebenden schriftlichen Vertagungsersuchens des Angeklagten einerseits und der nach dem unwidersprochen gebliebenen Protokoll über die Berufungsverhandlung erklärten Zustimmung des Verteidigers zur Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten andererseits. Eine Begründung, weshalb das Berufungsgericht trotz dieser divergierenden Erklärungen nicht im Sinn des § 57 Abs 2 zweiter Satz StPO jene des Angeklagten auf Abberaumung bzw Vertagung der Berufungsverhandlung wegen krankheitsbedingter Verhinderung für maßgeblich erachtet, sondern dennoch die Voraussetzungen für eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten bejaht hat, ist dem Protokoll über die Berufungsverhandlung (ON 29) nicht zu entnehmen. Dem Angeklagten wurde dergestalt das Recht auf Teilnahme an der Berufungsverhandlung sowie der letzten Äußerung genommen.
Da ein Nachteil für den Angeklagten nicht ausgeschlossen werden kann, sah sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst, dieses Urteil aufzuheben und dem Landesgericht St. Pölten die neue Verhandlung und Entscheidung über die Berufung sowie die implizite Beschwerde des Angeklagten aufzutragen.