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VfGH vom 02.03.1995, B1476/93

VfGH vom 02.03.1995, B1476/93

Sammlungsnummer

14037

Leitsatz

Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Arzt; keine Beeinträchtigung des Ansehens der österreichischen Ärzteschaft durch Äußerungen über Organentnahmen; keine Verletzung des Determinierungsgebotes durch Formulierung der ärztlichen Standespflichten

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Österreichische Ärztekammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsanwälte die mit S 15.000,-- bestimmten Kosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. In der Kleinen Zeitung vom erschien unter dem Titel "Organspenden" ein von einem praktischen Arzt verfaßter Leserbrief mit folgendem Inhalt:

"Zum Zeitpunkt der Entnahme müssen die Organe warm und gut durchblutet sein, weil mit dem Eintritt des Todes ihr Zerfall beginnt. Für eine Transplantation wären sie dann wertlos. Die Organe müssen daher herausoperiert werden, wenn der 'Spender' bzw. das 'Opfer' noch am Leben ist."

In weiterer Folge wurde der Verfasser des Leserbriefes mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Österreichischen Ärztekammer, Disziplinarkommission für Steiermark und Kärnten, vom für schuldig erkannt, durch diesen Leserbrief, dessen Inhalt zudem nach den Feststellungen der Ethik- und Beschwerdekommission der Ärztekammer für Steiermark falsch sei, das Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung des Ansehens der österreichischen Ärzteschaft gemäß § 95 Abs 1 Z 1 ÄrzteG begangen zu haben. Über ihn wurde eine Geldstrafe in der Höhe des zwanzigfachen der Umlage gemäß § 101 Abs 1 Z 2 ÄrzteG verhängt. Außerdem wurde er zur Tragung der Kosten des Verfahrens verpflichtet.

Der dagegen erhobenen Berufung wegen Schuld gab der Disziplinarsenat der Österreichischen Ärztekammer beim Bundesministerium für Gesundheit, Sport und Konsumentenschutz mit Bescheid vom keine Folge und bestätigte das angefochtene Erkenntnis mit der Maßgabe, daß der zweite Absatz des Schuldspruches zu lauten hat:

"Durch die nicht näher erläuterte Behauptung, daß Organe noch lebenden Menschen entnommen werden, hat Dr. ... das Ansehen der österreichischen Ärzteschaft in der Öffentlichkeit beeinträchtigt und hiedurch das Disziplinarvergehen nach § 95 Abs 1 Z. 1 ÄrzteG. begangen."

Erfolg hatte der Berufungswerber hingegen mit seiner Strafberufung: Anstelle der Geldstrafe nach § 101 Abs 1 Z 1 ÄrzteG wurde ihm ein schriftlicher Verweis erteilt. Außerdem wurde er zur Tragung der Kosten des Berufungsverfahrens verpflichtet.

Der Schuldspruch wurde im wesentlichen wie folgt begründet:

"Die Berufung bekämpft den Schuldspruch zunächst mit dem Vorbringen, daß die im Leserbrief geäußerte Meinung wahr oder doch wenigstens vertretbar sei. Die geltende Rechtslage stelle auf den 'Gehirntod' ab, während der Berufungswerber als Ganzheitsmediziner einen abweichenden Standpunkt einnehme. Seine Ansicht werde auch von anderen Medizinern geteilt.

Diesem Vorbringen ist zunächst zu erwidern, daß es dem Beschuldigten unbenommen bleibt, eine von der herrschenden Auffassung abweichende Meinung zu vertreten und diese auch in der Öffentlichkeit kundzutun. Wenn aber diese Meinung - wie im vorliegenden Fall - im Widerspruch zur allgemein anerkannten Lehre und Auffassung der Medizin in Österreich und - von vereinzelten Kulturvölkern abgesehen - auf der ganzen Welt steht, so darf er dies bei seinen Äußerungen nicht unerwähnt lassen, ansonsten er in der Öffentlichkeit völlig falsche Vorstellungen erweckt. Denn nach dem Stande der medizinischen Wissenschaft und damit nach der Auffassung der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger, die die Organentnahme gesetzlich zu regeln haben, tritt der Tod eines Menschen mit der Einstellung jeder Gehirntätigkeit ein, weshalb bei einer Organentnahme nach diesem Zeitpunkt der Spender nicht mehr am Leben ist.

Der Leserbrief des Berufungswerbers, der in einer Massenzeitung veröffentlicht wurde, erweckt aber beim durchschnittlichen und medizinisch nicht gebildeten Leser den Eindruck, daß Organentnahmen bei Menschen vorgenommen werden, die zwar vermutlich nicht mehr zu retten sind, die aber zur Zeit der Entnahme noch leben. Diese Vorstellung ist für jedermann und insbesondere für allfällige Angehörige der Organspender wohl unerträglich und geeignet, die mit der Organentnahme befaßten Ärzte als gefühllos, unmenschlich und vor allem an Ruhm und Erfolg interessiert anzusehen. Demnach wurde durch den Leserbrief das Ansehen der Ärzteschaft der Öffentlichkeit gegenüber erheblich beeinträchtigt. Es bedarf daher gar nicht der im Berufungsverfahren beantragten Beiziehung eines Sachverständigen zur Frage, ob die vom Berufungswerber geäußerte Meinung auch vertretbar sei.

Der Berufungswerber macht weiters geltend, daß durch die disziplinarrechtliche Verfolgung sein Recht auf freie Meinungsäußerung beschränkt werde.

Der Berufungswerber übersieht, daß ihm nicht angelastet wird, seine von der allgemeinen Auffassung abweichende Meinung geäußert zu haben, sondern die Herabsetzung von Ärztekollegen in der Öffentlichkeit. Dies geschah durch die undifferenzierte Behauptung, daß die Organentnahme am lebenden Menschen vorgenommen werde, obwohl die Entnahme tatsächlich nur dann geschieht, wenn verläßlich der sogenannte 'Gehirntod' feststeht. Wenn es daher der Berufungswerber für angebracht hielt, in einem Leserbrief an eine Tageszeitung zu einem so komplizierten und sensiblen medizinischen Problem Stellung zu nehmen, hätte er zumindest erwähnen müssen, daß die geschilderten Organentnahmen nach Eintritt des 'Gehirntodes' erfolgen, und sodann behaupten können, daß nach seiner Meinung dies nicht das entscheidende Kriterium für den Eintritt des Todes sei.

Das in der Berufung angezogene Recht auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art 13 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 und des Art 10 der MRK hat seine Grenzen im Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer. Diese Grenzen hat der Berufungswerber aus den dargelegten Erwägungen überschritten, sodaß er zu Recht des Disziplinarvergehens nach § 95 Abs 1 Z. 1 ÄrzteG. schuldig erkannt worden ist. Der Berufung, die den Schuldspruch bekämpft, war daher keine Folge zu geben."

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die gemäß Art 144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Meinungsäußerung und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides begehrt wird.

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet und auch von der Stellung von Anträgen abgesehen.

4. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

4.1. Zur behaupteten Verletzung des Beschwerdeführers in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Freiheit der Meinungsäußerung und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz wird in der Beschwerde insbesondere ausgeführt, daß es nicht möglich sei, aus der Formulierung "Ansehen der österreichischen Ärzteschaft" des § 95 Abs 1 ÄrzteG ausreichende Aufschlüsse über die gebotenen Standespflichten zu gewinnen; es fehle daher die nötige Bestimmtheit, die einen Eingriff in ein Grundrecht rechtfertigen würde. Außerdem sei der Beschwerdeführer, der nur deshalb, weil er Arzt ist, bestraft worden sei, in unsachlicher Weise gegenüber anderen, nicht der Ärztekammer angehörenden Personen benachteiligt worden, die "der Meinung der 'medizinischen Wissenschaft' ungestraft" hätten widersprechen können.

4.2. Der Beschwerdeführer ist mit seiner Behauptung, der Tatbestand des § 95 Abs 1 Z 1 ÄrzteG, demzufolge sich Ärzte eines Disziplinarvergehens schuldig machen, wenn sie "das Ansehen der österreichischen Ärzteschaft durch ihr Verhalten der Gemeinschaft, den Patienten oder den Kollegen gegenüber beeinträchtigen", sei so unbestimmt, daß aus ihm noch keine ausreichenden Aufschlüsse über die gebotenen Standespflichten gewonnen werden können, nicht im Recht. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 11776/1988 ausgesprochen hat, ist die Verwendung sogenannter unbestimmter Rechtsbegriffe dann zulässig und mit Art 18 B-VG vereinbar, wenn die Begriffe einen soweit bestimmbaren Inhalt haben, daß der Rechtsunterworfene sein Verhalten danach einrichten kann und die Anwendung solcher unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Behörde auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz überprüft werden kann (vgl. auch VfSlg. 6477/1971 und die dort angeführte Vorjudikatur). Der Inhalt des Begriffes der Standespflichten kann, wie der Verfassungsgerichtshof wiederholt festgestellt hat, aus den allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen und den gefestigten Gewohnheiten des jeweiligen (Berufs-)Standes festgestellt werden (vgl. VfSlg. 11776/1988 und die dort zitierte Vorjudikatur sowie VfSlg. 13012/1992).

Aus diesen Gründen hegt der Verfassungsgerichtshof aus der Sicht des Anlaßfalles keine Bedenken gegen die Bestimmung des § 95 Abs 1 Z 1 ÄrzteG.

4.3. Die Beschwerde ist dennoch im Ergebnis im Recht:

Wie der Verfassungsgerichtshof wiederholt ausgesagt hat (vgl.

VfSlg. 11996/1989, 12796/1991, ), schließt

das gemäß Art 10 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht

auf Freiheit der Meinungsäußerung die Freiheit zum Empfang und

zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ein, sieht aber im

Hinblick darauf, daß die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und

Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von

Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder

Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft

im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen

Unversehrtheit oder öffentlichen Sicherheit, der

Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des

Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten

Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung

von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des

Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig

sind (VfSlg. 10700/1985). Ein verfassungsrechtlich zulässiger

Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung muß sohin, wie auch

der EGMR ausgesprochen hat (Fall Sunday Times v. =

EuGRZ 1979, 386 ff; Fall Observer and Guardian v. =

ÖJZ 1992, 378 ff),

(1) gesetzlich vorgesehen sein,

(2) einen oder mehrere der in Art 10 Abs 2 EMRK

genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und

(3) zur Erreichung dieses Zwecks oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein.

Wird eine Meinungsäußerung nach § 95 Abs 1 Z 1 ÄrzteG - zu Recht oder zu Unrecht - disziplinär geahndet, so handelt es sich um einen "vom Gesetz vorgesehenen" Eingriff im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK (vgl. ).

Eine disziplinäre Verurteilung, die sich gegen die Meinungsäußerungsfreiheit richtet, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes u.a. dann verfassungswidrig, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz - hier § 95 Abs 1 Z 1 ÄrzteG - denkunmöglich angewendet wurde

(VfSlg. 3762/1960, 6166/1970 und 6465/1971). Eine denkunmögliche Gesetzesanwendung liegt auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art 10 EMRK mißachtenden - Inhalt unterstellt (VfSlg. 10386/1985, 10700/1985, 12086/1989, 13122/1992).

Der Verfassungsgerichtshof vermag nicht zu erkennen, daß durch die inkriminierte Äußerung "die Herabsetzung von Ärztekollegen in der Öffentlichkeit" erfolgte, wie die belangte Behörde dies vermeint. Aus dem Text des Leserbriefes geht eindeutig hervor, daß der Beschwerdeführer in diesem wohl eine kritische Meinung zu einem Problemkreis geäußert hat, damit in der Öffentlichkeit aber keineswegs Ärztekollegen zum Vorwurf macht, bei Organverpflanzungen in Mißachtung ihrer ärztlichen Berufspflicht gehandelt zu haben. Der Beschwerdeführer hat lediglich seine Auffassung dargetan, daß es bei Organverpflanzungen notwendig sei, Organe Spendern bzw. Unfallopfern bereits zu einem Zeitpunkt zu entnehmen, zu dem der mit dem Eintritt des Todes einsetzende Zerfall der Organe noch nicht eingesetzt habe. Die Formulierung "müssen ... herausoperiert werden" bringt damit die Ansicht des Beschwerdeführers zum Ausdruck, daß Organverpflanzungen in einem von ihm als kritisch gewerteten Zeitpunkt zu erfolgen haben, wozu er seine Meinung pointiert äußert. Ausgehend von der vom Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 13122/1992 eingehend begründeten Ansicht, daß das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung besondere Zurückhaltung bei der Beurteilung einer Äußerung als strafbares Disziplinarvergehen fordert, ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, daß die inkriminierte Äußerung des Beschwerdeführers bei verfassungskonformer Auslegung des § 95 Abs 1 Z 1 ÄrzteG jedenfalls nicht als disziplinär zu ahndende Darstellung des Standpunktes eines Arztes zu werten ist. Der Verfassungsgerichtshof ist der Meinung, daß in einer demokratischen, kritische Betrachtungen auch einschlägiger Art jedenfalls nicht ungewohnten Gesellschaft die in Rede stehende Äußerung hingenommen werden kann, ohne daß die öffentliche Ordnung, der Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer Schaden erleiden. Eine verfassungskonforme Auslegung der angewendeten - verfassungsrechtlich unbedenklichen - Vorschrift führt daher zum Ergebnis, daß das Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung des Ansehens der österreichischen Ärzteschaft nicht stattgefunden hat.

5. Der angefochtene Bescheid verletzt den Beschwerdeführer somit im Recht auf freie Meinungsäußerung. Er war daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG. Obwohl nur Kosten in der Höhe von S 13.130,-- verzeichnet wurden, waren die gesetzlichen Kosten zuzusprechen, da die Aufhebung des angefochtenen Bescheides "bei den gesetzlichen Kostenfolgen" begehrt wurde. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 Z 2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.