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OGH vom 18.01.2018, 12Os153/17t

OGH vom 18.01.2018, 12Os153/17t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Ettel als Schriftführerin in der Strafsache gegen Mehmet A***** wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, AZ 3 U 35/16k des Bezirksgerichts Krems an der Donau, über den auf das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Berufungsgericht vom , AZ 11 Bl 9/17g, bezogenen Antrag der Generalprokuratur auf außerordentliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens verfügt, das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Berufungsgericht vom , AZ 11 Bl 9/17g, aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zur neuen Entscheidung über die Berufung des Angeklagten Mehmet A***** gegen das Urteil des Bezirksgerichts Krems an der Donau vom verwiesen.

Mit seinem an das Bezirksgericht Krems an der Donau gerichteten Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe in Bezug auf einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO (per analogiam) vom wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Bezirksgerichts Krems an der Donau vom , GZ 3 U 35/16k-10, wurde Mehmet A***** des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten verurteilt.

Gegen dieses Urteil meldete der Angeklagte
– unmittelbar nach der Urteilsverkündung – Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (s ON 9 S 7); er führte dieses Rechtsmittel jedoch nach Urteilszustellung am nicht aus.

Mit Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Berufungsgericht vom , AZ 11 Bl 9/17g (ON 14 des U-Akts), wurde die Berufung wegen Nichtigkeit zurückgewiesen sowie der Berufung wegen Schuld und des Ausspruchs über die Strafe nicht Folge gegeben.

Zur Berufungsverhandlung am ist der Angeklagte, der die Ladung am eigenhändig übernommen hatte, nicht erschienen.

Erst anlässlich des (ersten) Versuchs der Zustellung des Berufungsurteils an den Verurteilten wurde bekannt, dass sich dieser seit (zumindest) in der Justizanstalt Wien-Josefstadt in Haft befand (ON 16). Das Berufungsurteil konnte sodann am an den Verurteilten zugestellt werden (ON 16 S 2).

Mehmet A***** befindet sich seit zum Verfahren AZ 37 St 257/17g der Staatsanwaltschaft Wien (= AZ 317 HR 206/17x des Landesgerichts für Strafsachen Wien) in Untersuchungshaft. Diese wurde mehrmals und über den hinaus fortgesetzt.

Der Angeklagte hatte weder auf seine Teilnahme an der Berufungsverhandlung noch auf seine Vorführung zu derselben verzichtet; er hatte das Landesgericht Krems an der Donau aber auch nicht vor Durchführung der Verhandlung von seiner Inhaftierung informiert.

In offenkundiger – nicht vorwerfbarer – Unkenntnis dieses Umstands führte das Berufungsgericht
– nach der diesem zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Aktenlage rechtsrichtig (§ 471 StPO iVm § 286 Abs 1 und § 287 Abs 3 StPO) – die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch.

Mit Schreiben vom (eingelangt beim Bezirksgericht Krems an der Donau am ) beantragte Mehmet A***** die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zwecks Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO.

Wie die Generalprokuratur in ihrem gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestellten Antrag zutreffend aufzeigt, bestehen gegen die Richtigkeit der der Vorgangsweise des Landesgerichts Krems an der Donau zugrunde gelegten Tatsachen erhebliche Bedenken:

Rechtliche Beurteilung

Ob die Voraussetzungen für die Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten vorlagen, ist eine Frage tatsächlicher Natur, die das Landesgericht Krems an der Donau als Berufungsgericht zu entscheiden hatte. Ist eine nicht vom Obersten Gerichtshof selbst getroffene letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv bedenklichen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler anzulasten ist, so kommt die analoge Anwendung der Bestimmungen über die außerordentliche Wiederaufnahme gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO durch den Obersten Gerichtshof in Betracht (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 16, § 362 Rz 4; Fabrizy, StPO13 § 362 Rz 3; RIS-Justiz RS0117416, RS0117312 [T3]).

Gemäß § 471 StPO gelten für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung über Berufungen gegen Urteile der Bezirksgerichte unter anderem – soweit hier von Relevanz – die §§ 286 Abs 1, 294 StPO sinngemäß. Nach Abs 5 zweiter Satz des § 294 StPO sind die Bestimmungen der §§ 286 und 287 StPO dem Sinne nach mit der Maßgabe anzuwenden, dass der nicht verhaftete Angeklagte vorzuladen und die Vorführung des verhafteten Angeklagten zu veranlassen ist, es sei denn, dieser hätte durch seinen Verteidiger ausdrücklich darauf verzichtet (RIS-Justiz RS0124107).

Ist der nicht verhaftete Angeklagte – durch ein unabweisbares Hindernis – am Erscheinen verhindert, ohne durch seinen Verteidiger ausdrücklich auf die Teilnahme am Gerichtstag verzichtet zu haben, so kommt eine Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten gleichfalls nicht in Betracht. Denn nur so wird eine Gleichbehandlung verhafteter und nicht verhafteter Angeklagter erreicht, seit § 296 Abs 3 StPO – der ständigen Rechtsprechung des EGMR folgend – außer dem Fall eines derartigen Verzichts die Vorführung jener zwingend vorschreibt (RIS-Justiz RS0124107 [T2]; vgl auch Ratz, WK-StPO § 296 Rz 2, § 471 Rz 2).

Im Hinblick darauf, dass sich der Angeklagte am Tag der Berufungsverhandlung – in einem anderen Verfahren – in Haft befand, daher am Erscheinen verhindert war und auch keinen ausdrücklichen Vorführungsverzicht durch einen Verteidiger erklärt hatte, bestehen erhebliche Bedenken iSd § 362 Abs 1 Z 2 StPO gegen die Richtigkeit der der Berufungsentscheidung des Landesgerichts Krems an der Donau zugrunde gelegten Annahme, dass die Voraussetzungen für eine Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des (gehörig geladenen) Angeklagten gegeben gewesen wären.

Somit ist eine (nicht vom Obersten Gerichtshof getroffene) letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv bedenklichen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre. Dies war durch Verfügung der

außerordentlichen Wiederaufnahme auf die im Spruch ersichtliche Weise in analoger Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO zu sanieren.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2018:0120OS00153.17T.0118.000
Schlagworte:
Strafrecht;

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