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OGH vom 12.02.2013, 11Os1/13a (11Os10/13z)

OGH vom 12.02.2013, 11Os1/13a (11Os10/13z)

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Zellinger als Schriftführer, in der Strafsache gegen Sandro W***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, AZ 16 Hv 100/12f des Landesgerichts Feldkirch, über die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Einspruchsgericht vom , AZ 7 Bs 576/12g (ON 42 der Hv Akten), sowie die von der Generalprokuratur gegen den erwähnten Beschluss erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Ulrich, des Angeklagten und des Verteidigers Mag. Schwendinger zu Recht erkannt:

Spruch

Die „Nichtigkeitsbeschwerde“ des Angeklagten gegen die Einspruchsentscheidung wird zurückgewiesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes der Generalprokuratur wird verworfen.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Feldkirch führte zum AZ 11 St 167/10s ein Ermittlungsverfahren gegen Sandro W***** wegen des Verdachts des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, in dem der Genannte entsprechend einer Vollmachtsbekanntgabe vom (ON 12) durch die Rechtsanwälte Mag. Bernhard S***** und Mag. Daniel V***** vertreten wurde.

Mit (unbekämpftem) Beschluss vom , GZ 27 HR 329/11s 20, wies der Ermittlungsrichter des Landesgerichts Feldkirch den Antrag des Beschuldigten auf Bewilligung der Verfahrenshilfe vom (ON 19), in dem dieser angeregt hatte, den „mit dieser Angelegenheit“ bereits betrauten, damit auch einverstandenen Rechtsanwalt Mag. Bernhard S***** als Verfahrenshilfeverteidiger (§ 61 Abs 2 StPO) zu bestellen, mangels Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 61 Abs 2 Z 1 bis Z 4 StPO ab.

Am brachte die Staatsanwaltschaft Feldkirch gegen Sandro W***** eine Anklageschrift (ON 30) wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 erster und zweiter Fall StGB ein (ON 1 S 14 f).

Die Anklageschrift wurde dem Angeklagten am persönlich sowie nach einem Kanzleivermerk des Landesgerichts Feldkirch vom , wonach der Angeklagte „von der Kanzlei S*****/V***** vertreten (siehe ON 12, Band I)“ werde (ON 31), am auch den Rechtsanwälten Mag. Bernhard S***** und Mag. Daniel V***** zugestellt (ON 30, unjournalisierte letzte beide Blätter).

Mit am eingebrachtem Antrag begehrte der Angeklagte (erneut) die Bewilligung der Verfahrenshilfe „in vollem Umfang“ (somit auch die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 61 Abs 2 StPO) und erklärte sich mit der Bestellung eines anderen Rechtsanwalts als Mag. Bernhard S***** einverstanden (ON 32).

Nach Beigebung eines Verfahrenshilfever-teidigers gemäß § 61 Abs 2 StPO für das gesamte weitere Verfahren mit Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom (ON 33 S 1) und Bestellung von Mag. Bernhard S***** durch den Ausschuss der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer am (ON 34) wurden dem Genannten der Bestellungsbescheid sowie eine Aktenkopie sohin auch die Anklageschrift am zugestellt (ON 34 S 1 und unjournalisiertes letztes Blatt).

Den durch den bestellten Verfahrenshilfever-teidiger am eingebrachten, eine mangelnde Äußerungsmöglichkeit des Angeklagten zu den gegen ihn erhobenen Tatvorwürfen und demnach eine unzureichende Klärung des Sachverhalts relevierenden Einspruch gegen die Anklageschrift (ON 37) wies das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom , AZ 7 Bs 576/12g, als unzulässig zurück. Es erachtete diesen als verspätet und ging dabei von der Zustellung der Anklageschrift an den Verteidiger am (einem Sonntag, wobei laut Poststempel am Rückschein [ON 30 unjournalisiertes letztes Blatt] die Zustellung tatsächlich wohl wie auch vom Verteidiger vorgebracht am erfolgt ist) und von einer am , dem Tag der elektronischen Einbringung des Anklageeinspruchs (jedenfalls) bereits mehrere Tage abgelaufenen Einspruchsfrist aus. Im Übrigen führte das Oberlandesgericht in der Sache selbst aus, dass der Angeklagte mehrfach bei der Kriminalpolizei Gelegenheit zur Aussage gehabt hätte, jedoch nicht bereit gewesen wäre, Angaben zu machen (ON 42).

Der Verfahrenshelfer brachte dagegen am eine die Rechtzeitigkeit des Einspruchs behauptende „Nichtigkeitsbeschwerde“ ein (ON 3 der Bs Akten).

Diese gegen die Einspruchsentscheidung gerichtete Eingabe des Angeklagten war weil in den Prozessgesetzen nicht vorgesehen als unzulässig zurückzuweisen.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom , AZ 7 Bs 576/12g, ON 42 in den Hv Akten, wird allerdings auch von der Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes angegriffen.

Sie führt dazu aus:

Gemäß § 213 Abs 1 StPO hat das Gericht die Anklageschrift dem Angeklagten zuzustellen. Ist der Angeklagte anwaltlich vertreten, so übt der Verteidiger die Verfahrensrechte aus, die dem Beschuldigten zustehen (§ 57 Abs 2 StPO).

Wird dem (anwaltlich nicht vertretenen) Beschuldigten innerhalb der für die Ausführung eines Rechtsmittels oder für eine sonstige Prozesshandlung offen stehenden Frist ein Verteidiger nach § 61 Abs 2 oder 3 StPO beigegeben oder hat der Beschuldigte vor Ablauf dieser Frist die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragt, so beginnt gemäß § 63 Abs 1 StPO die Frist ab jenem Zeitpunkt neu zu laufen, ab welchem dem Verteidiger der Bescheid über seine Bestellung und das Aktenstück, das die Frist sonst in Lauf setzt, oder dem Beschuldigten der den Antrag abweisende Beschluss zugestellt wird ( Achammer , WK StPO § 63 Rz 7).

Wurde hingegen durch eine Zustellung an den Verteidiger eine Frist ausgelöst, so wird deren Lauf nicht dadurch unterbrochen oder gehemmt, dass die Vollmacht des Verteidigers zurückgelegt oder gekündigt (§ 63 Abs 2 erster Satz StPO) bzw die Beigebung eines Verfahrenshilfe-verteidigers beantragt wird (SSt 64/7). In diesem Fall hat der Verteidiger weiterhin die Interessen des Beschuldigten zu wahren und innerhalb der Frist erforderliche Prozesshandlungen nötigenfalls vorzunehmen, es sei denn, der Beschuldigte hätte ihm dies ausdrücklich untersagt.

Fallbezogen ist eine ausdrückliche Kündigung der am bekanntgegebenen Bevollmächtigung (ON 12) nicht aktenkundig. Die Bekanntgabe der Beendigung des zu den Wahlverteidigern Mag. Bernhard S***** und Mag. Daniel V***** bestandenen Vollmachtsver-hältnissen ergibt sich jedoch schlüssig aus dem die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers (§ 61 Abs 2 StPO) umfassenden (ON 19) (ersten) Verfahrenshilfeantrag des Einschreiters vom ( Achammer , WK StPO § 58 Rz 13, § 61 Rz 46; Mayerhofer/Hollaender StPO 5 § 41 E 26; RIS-Justiz RS0035624).

Demgemäß erfolgte die Zustellung der Anklageschrift am zutreffend und fristauslösend an den zu diesem Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten persönlich (ON 30 unjournalisiertes vorletztes Blatt). Die Zustellung der Anklage an die früheren Wahlverteidiger am 14. bzw ist hingegen unbeachtlich. Mit am sohin innerhalb der vierzehntägigen Frist des § 213 Abs 2 erster Satz StPO zur Post gegebenem, in der Folge auch bewilligten, auf Verfahrenshilfe „in vollem Umfang“ (somit auch auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 61 Abs 2 StPO) gerichteten Antrag des Angeklagten (ON 32) beginnt fallbezogen die vierzehntägige Frist zur Einbringung eines Einspruchs gegen die Anklageschrift erst ab Zustellung des Bestellungsdekrets samt Anklageschrift an den Verfahrenshilfeverteidiger am . Der am , sohin innerhalb der Frist des § 213 Abs 2 erster Satz StPO elektronisch beim Landesgericht Feldkirch eingebrachte Einspruch gegen die Anklageschrift (ON 37) wurde daher vom Oberlandesgericht Innsbruck rechtlich verfehlt als verspätet zurückgewiesen.

Dies wirkt sich aber nicht zum Nachteil des Angeklagten aus, weil das Oberlandesgericht Innsbruck aktenkonform und inhaltlich zutreffend im Beschluss vom auch darauf verwiesen hat, dass dem alleine das Vorenthalten einer Möglichkeit zur Stellungnahme des Beschuldigten zu den Tatvorwürfen vor Anklageerhebung geltend machenden Anklageeinspruch in Ansehung mehrfach im Ermittlungsverfahren eingeräumter Möglichkeiten, sich gemäß § 49 Z 4 StPO zu den Vorwürfen zu äußern (ON 21 S 27 und 389, ON 24 S 17), und dem damit ausreichend gewahrten rechtlichen Gehör gemäß § 49 Z 4 StPO sowie Art 6 EMRK ( Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 24 Rz 64) keine Berechtigung zukommt. Mit seiner fallbezogen mehrfach vor der Kriminalpolizei verweigerten Aussage hat der Angeklagte von seinem Recht zu schweigen ( Achammer , WK StPO § 49 Rz 5) Gebrauch gemacht, worin eine Verletzung des Art 6 EMRK nicht zu erblicken ist.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:

Ein durch einen Wahlverteidiger vertretener Beschuldigter (§ 48 Abs 2 StPO) kann einen Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe stellen, wenn er aus den in § 61 Abs 2 Satz 1 StPO genannten Gründen außerstande ist, die gesamten Kosten der Verteidigung zu tragen. Da dieser Aspekt jedoch gerichtlicher Beurteilung unterliegt und keineswegs von vornherein gesagt werden kann, dass der Beschuldigte bei abschlägiger Entscheidung das (kostenpflichtige) Vollmachtsverhältnis nicht trotzdem aufrecht erhalten möchte, kann entgegen Achammer , WK StPO § 61 Rz 64 und der auf § 36 Abs 1 ZPO (der kein Pendant in der Strafprozessordnung hat) abstellenden (zivilrechtlichen) Judikatur RIS Justiz RS0035624 und RS0035682 im bloßen Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe keine (schlüssige) Erklärung erblickt werden, die aktuelle Verteidigervollmacht zu kündigen, weil bei Überlegung aller Umstände durchaus vernünftige Gründe für Zweifel an einem derartigen Erklärungsinhalt übrig bleiben (§ 863 Abs 2 ABGB).

Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zur Verspätung des Einspruchs sind sohin im Ergebnis rechtsfehlerfrei, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde der Generalprokuratur (deren Argumente zur Verweigerung eines Vorgehens nach § 292 letzter Satz StPO aber nach Lage des Falls zutreffen) zu verwerfen war.