zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VfGH vom 21.02.2014, B1446/2012

VfGH vom 21.02.2014, B1446/2012

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Absehen von einer mündlichen Verhandlung vor dem UVS in einem Verwaltungsstrafverfahren wegen Unterlassung der Anzeige einer Versammlung; Sachverhalt nicht hinreichend geklärt; Durchführung einer Verhandlung ausdrücklich beantragt

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist Obfrau des Vereins "Kommunikationszentrum für Lesben/Frauen und Mädchen" mit Sitz in Wien. Sie meldete am bei der zuständigen Versammlungsbehörde eine Kundgebung dieses Vereins an, die am folgenden Tag in "1010 Wien, Rathausstraße/Lichtenfelsgasse" stattfinden sollte.

2. Mit Schreiben vom , das dem genannten Verein per Telefax zugesendet wurde, machte die Versammlungsbehörde darauf aufmerksam, dass die geplante Kundgebung am Tag einer Nationalratssitzung innerhalb der "Bannmeile" gemäß § 7 Versammlungsgesetz, BGBl 98/1953, idF BGBl I 50/2012 (im Folgenden: VersammlungsG) stattfinden würde, was eine Untersagung dieser Versammlung zur Folge hätte. Dem Verein wurde angeboten, die Kundgebung an einem alternativen Versammlungsort zu veranstalten.

3. Da seitens des Vereins keine Reaktion erfolgte, untersagte die Versammlungsbehörde die angezeigte Kundgebung; der entsprechende Untersagungsbescheid wurde dem Verein am Nachmittag des per Telefax übermittelt.

4. Am Vormittag des trafen mehrere Personen am intendierten Versammlungsort ein und wurden von den vor Ort anwesenden Behördenvertretern auf die behördliche Untersagung der geplanten Versammlung hingewiesen. Die Versammlungsteilnehmer schlossen sich sodann – mit Einverständnis der Behördenvertreter – zu einem Demonstrationszug zusammen, der sich ca. eineinhalb Stunden um das Wiener Rathaus bewegte.

5. Mit Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Wien vom wurde die Beschwerdeführerin gemäß § 2 Abs 1 iVm § 19 VersammlungsG zu einer Geldstrafe in Höhe von € 100,– verurteilt. Begründend wurde ausgeführt, dass es die Beschwerdeführerin – als Obfrau des genannten Vereins – unterlassen habe, die abgehaltene Versammlung spätestens 24 Stunden vor ihrer Abhaltung der zuständigen Behörde anzuzeigen.

6. In ihrem dagegen erhobenen Einspruch vom beantragte die Beschwerdeführerin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die ersatzlose Behebung des Straferkenntnisses bzw. die Reduzierung des Strafmaßes. Hiezu führte sie u.a. aus:

"Am 15.11.[2011] vor Ort (Friedrich Schmidt-Platz/Ecke[…] Lichtenfelsgasse in 1010 Wien) wurde die Versammlung von 2 Beamten in Zivil sowie zwei uniformierten Vertretern der Behörde EINVERNEHMLICH auf die Örtlichkeit Mitte Friedrich Schmidt-Platz/respektive Felderstrasse verlegt!"

7. Mit dem vor dem Verfassungsgerichtshof angefochtenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (im Folgenden: UVS Wien) vom gab dieser – ohne eine mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben – dem Einspruch insoweit Folge, als die über die Beschwerdeführerin verhängte Geldstrafe auf € 50,– reduziert wurde. Im Übrigen bestätigte er das erstinstanzliche Straferkenntnis, was – im Wesentlichen – wie folgt begründet wurde:

"Die Berufungswerberin bestreitet nicht, dass die Ver[samm]lung untersagt worden war, wie dies auch aktenkundig ist. Dass sie das untersagende Telefax nicht erhalten habe, weil das Büro [Anm.: des Vereins] nicht besetzt gewesen sei, ändert nichts an der Rechtswirksamkeit der Untersagung und vermag die Berufungswerberin auch in keiner Weise zu entlasten, zumal es nach Erstattung einer Versammlungsanzeige ihr obliegt, sich für die Bekanntgabe einer allfälligen Untersagung verfügbar zu halten bzw. die Weiterleitung einer entsprechenden Mitteilung an sie zu sorgen.

Untersagungsgrund war der Versammlungsort innerhalb der Bannmeile während einer Sitzung des Nationalrates. Eine trotz Untersagung an diesem Ort stattfindende Versammlung wäre daher von der Behörde sofort aufzulösen gewesen. Wenn nun die Behörde bzw. ihre Vertreter nicht nur in dem vor Untersagung ergangenen Schreiben an die Anzeigeerstatterin darauf verwiesen, dass die geplante Solidaritäts-Kundgebung ohne weiteres zB. an der Örtlichkeit Rathausstrasse/Felderstrasse stattfinden könne, (wofür eine neue Versammlungsanzeige zu erstatten sei), sondern auch die zur geplanten Versammlungszeit am untersagten Versammlungsort eintreffenden Teilnehmerinnen darauf hinwiesen, dass sie sich innerhalb der Bannmeile befinden, aber die Versammlung am bereits schriftlich vorgeschlagenen Ort abhalten können, so haben sie den eintreffenden Teilnehmerinnen damit lediglich eine Möglichkeit aufgezeigt, eine sofortige Auflösung der Versammlung zu vermeiden.

[…]

Nun ist aber eine Versammlung unter anderem durch ihren Ort definiert, welcher neben den übrigen Kennzeichen der Versammlung genau in der Versammlungsanzeige angegeben werden muss. Die an einem anderen Ort außerhalb der Bannmeile abgehaltene Versammlung hätte daher ebenfalls eine rechtzeitige Anzeige erfordert. Daran vermochte auch die Übereinkunft mit den Behördenvertretern vor Ort nichts zu ändern; diese hat nur bewirkt, dass eine Versammlung überhaupt abgehalten werden konnte, ohne sofort aufgelöst zu werden, vermochte aber den Mangel der unterlassenen Anzeige für die Ersatzversammlung nicht zu beheben. Der Tatbestand der angelasteten Übertretung ist sohin in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt."

Zum Antrag der Beschwerdeführerin, eine mündliche Verhandlung vor dem UVS Wien durchzuführen, erklärte dieser:

"Da die von der Berufungswerberin geltend gemachte unrichtige Beweiswürdigung […] offensichtlich nur auf die in der Bescheidbegründung erwähnte konsequente Kommunikationsverweigerung mit der Behörde bezogen wird, womit diese Frage allenfalls für die Strafbemessung von Interesse, für die Erfüllung des Tatbestandes jedoch irrelevant ist, und die Berufung in den übrigen Ausführungen zur rechtlichen Beurteilung enthält [sic!], konnte eine mündliche Verhandlung gemäß § 51e Abs 3 Z 1, 2 und 3 entfallen."

8. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art 6 EMRK sowie Art 7 B-VG und Art 2 StGG behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

9. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift.

II. Rechtslage

1. Die § 2 Abs 1 und § 19 VersammlungsG stellen sich – in ihrer im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides geltenden Fassung – wie folgt dar:

"§2. (1) Wer eine Volksversammlung oder überhaupt eine allgemein zugängliche Versammlung ohne Beschränkung auf geladene Gäste veranstalten will, muß dies wenigstens 24 Stunden vor der beabsichtigten Abhaltung unter Angabe des Zweckes, des Ortes und der Zeit der Versammlung der Behörde (§16) schriftlich anzeigen. Die Anzeige muß spätestens 24 Stunden vor dem Zeitpunkt der beabsichtigten Versammlung bei der Behörde einlangen.

(2) […]

§19. Übertretungen dieses Gesetzes sind, insofern darauf das allgemeine Strafgesetz keine Anwendung findet, von der Bezirksverwaltungsbehörde, im Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, aber von der Landespolizeidirektion, mit Arrest bis zu sechs Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 720 Euro zu ahnden."

2. Der im Verfahren vor dem UVS Wien einschlägige § 51e VStG lautet – in seiner im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides geltenden Fassung – auszugsweise wie folgt:

"(1) Der unabhängige Verwaltungssenat hat eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung entfällt, wenn

1. der Antrag der Partei oder die Berufung zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, daß der mit Berufung angefochtene Bescheid aufzuheben ist;

2. der Devolutionsantrag zurückzuweisen oder abzuweisen ist.

(3) Der unabhängige Verwaltungssenat kann von einer Berufungsverhandlung absehen, wenn

1. in der Berufung nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder

2. sich die Berufung nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder

3. im angefochtenen Bescheid eine 500 € nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder

4. sich die Berufung gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet

und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Berufungswerber hat die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. Etwaigen Berufungsgegnern ist Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.

(4) Der unabhängige Verwaltungssenat kann ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn er einen verfahrensrechtlichen Bescheid zu erlassen hat, die Akten erkennen lassen, daß die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Sache nicht erwarten läßt, und dem nicht Art 6 Abs 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958, entgegensteht.

(5) Der unabhängige Verwaltungssenat kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.

(6), (7) […]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Die Beschwerdeführerin behauptet eine Verletzung ihres verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK wegen Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung vor dem UVS Wien.

2.1. Art 6 Abs 1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem "unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Betroffenen] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

2.1.1. Im Verwaltungsstrafverfahren liegt eine Verletzung der durch Art 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantien dann vor, wenn der Unabhängige Verwaltungssenat, der insofern als das zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage zuständige – über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügende – Gericht im Sinne des Art 6 EMRK einschreitet, einen Schuldspruch fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, sofern keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorliegen (vgl. VfSlg 16.624/2002, 16.790/2003, 18.289/2007, 18.721/2009).

2.1.2. § 51e VStG ist im Lichte des Art 6 EMRK auszulegen, der den Prüfungsmaßstab für den Verfassungsgerichtshof bildet. Dessen Garantien werden zum Teil absolut gewährleistet, zum Teil stehen sie unter einem ausdrücklichen (so etwa zur Öffentlichkeit einer Verhandlung) oder einem ungeschriebenen Vorbehalt verhältnismäßiger Beschränkungen. Dem entspricht es, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung für gerechtfertigt ansieht, etwa wenn der Fall auf der Grundlage der Akten und der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien angemessen entschieden werden kann (vgl. EGMR , Fall Döry , Appl. 28.394/95, Z 37 ff.).

2.2. Die Beschwerdeführerin beantragte gleichzeitig mit ihrem Einspruch ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung um insbesondere zu klären, inwiefern die mit den Behördenvertretern vor Ort behaupteter maßen vereinbarte Verlegung des Versammlungsortes eine Bestrafung nach § 2 Abs 1 VersammlungsG ausschließen würde. Zum Beweis "der einvernehmlichen Verlegung" führte sie insgesamt vier "verantwortliche Beamte" als Zeugen an. Wie aus dem, dem Verfassungsgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt zu entnehmen ist, blieb diese – zumindest für die Strafhöhe – entscheidungserhebliche Frage zum Sachverhalt ungeklärt, da die im Akt dokumentierten Angaben widersprüchlich sind.

2.3. Die belangte Behörde sah, obzwar der Sachverhalt hier offensichtlich nicht hinreichend geklärt erscheint und entgegen dem Antrag der Beschwerdeführerin, im konkreten Fall – in einer den Garantien des Art 6 EMRK widersprechenden Weise – von einer mündlichen Verhandlung ab. Die vergleichsweise geringe Höhe der von der Erstbehörde verhängten Geldstrafe ist dabei ohne Belang (vgl. VfSlg 16.894/2003).

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.

2. Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,– enthalten.

Die als "Erhöhungsbeitrag (ERV)" geltend gemachten Kosten waren schon deshalb nicht zuzusprechen, da diese bereits mit dem Pauschalsatz abgegolten sind (analog VfSlg 16.857/2003).