OGH 06.12.2011, 10ObS129/11k
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*****, vertreten durch Mag. German Storch und Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pensionshöhe, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 94/08k-9, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 10 Cgs 184/08v-5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
I. Das am gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzte Revisionsverfahren wird von Amts wegen wieder aufgenommen.
II. Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts einschließlich seines bestätigten Teils insgesamt zu lauten hat:
„1.) Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin eine Alterspension in der Höhe von 378,51 EUR brutto monatlich ab mit den seither erfolgten Pensionsanpassungen abzüglich bereits geleisteter Zahlungen zu gewähren, und zwar die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen, die in Hinkunft fällig werdenden Beträge monatlich im Nachhinein am Ersten des Folgemonats.
2.) Das auf Zahlung einer höheren Pensionsleistung gerichtete Mehrbegehren wird abgewiesen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit 371,52 EUR (darin enthalten 61,92 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am geborene Klägerin bezieht von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt eine Alterspension, deren Höhe im Jahr 2007 368,16 EUR brutto monatlich betrug. Die Klägerin hatte im Hinblick auf das Pensionseinkommen ihres im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten weder im Jahr 2007 noch 2008 einen Anspruch auf Ausgleichszulage.
Mit Bescheid vom stellte die beklagte Partei fest, dass die Pension der Klägerin unter Berücksichtigung des für das Jahr 2008 mit 1,017 festgesetzten Anpassungsfaktors ab 374,42 EUR brutto monatlich betrage.
Gegen diesen Bescheid richtete sich die Klage mit dem Begehren auf Zahlung einer Pension in Höhe von 389,16 EUR brutto monatlich ab . Die vom Gesetzgeber zum vorgenommene Pensionsanpassung verstoße gegen den Gleichheitssatz und gegen die Eigentumsgarantie sowie wegen mittelbarer Diskriminierung der Frauen auch gegen Art 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren vollinhaltlich statt. Es stellte im Wesentlichen fest, dass im Anwendungsbereich des ASVG im Dezember 2007 insgesamt 1.325.762 Personen (davon 614.293 Männer und 711.469 Frauen) ASVG-Pensionen aus eigener Erwerbstätigkeit bezogen haben. Innerhalb dieser Gruppe der Pensionsbezieher haben insgesamt 562.464 Personen (davon 408.910 Frauen und 153.553 Männer) eine Pension bis 750 EUR monatlich (= Kleinstpension) bezogen. Daraus folgt, dass innerhalb der Personengruppe der weiblichen Pensionsbezieher der Anteil der Personen, die eine Pension von bis zu 750 EUR monatlich beziehen, 57 % beträgt. Demgegenüber beläuft sich der Anteil der Personen mit einer Kleinstpension (bis 750 EUR monatlich) innerhalb der Personengruppe der männlichen Pensionsbezieher auf 25 %.
Im Zuge der Pensionsanpassung für das Jahr 2008 wurden folgende Maßnahmen getroffen:
1.) Der Ausgleichszulagenrichtsatz für alleinstehende PensionsbezieherInnen wurde von 726 EUR auf 747 EUR (= 2,9 %) und für im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten von 1.091,14 EUR auf 1.120 EUR (= 2,6 %) erhöht.
2.) Weiters sieht die Pensionsanpassung 2008 eine Erhöhung
a) für Pensionen bis zum Ausgleichszulagenrichtsatz (das heißt bis nunmehr 746,99 EUR monatlich) um 1,7 % (= Anpassungsfaktor),
b) für Pensionen über 746,99 EUR bis 1.050 EUR monatlich um einen Fixbetrag von 21 EUR monatlich (= 2,81 % bis 2 %),
c) für Pensionen über 1.050 EUR bis 1.700 EUR monatlich um 2 %,
d) für Pensionen über 1.070 EUR bis 2.161,50 EUR monatlich zwischen 2 % und 1,7 % (linear abfallend) und
e) für Pensionen über 2.161,50 EUR um den Fixbetrag von 36,75 EUR monatlich vor.
In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, dass eine unzulässige mittelbare Diskriminierung der Frauen vorliege, weil im Zuge der Pensionsanpassung 2008 Kleinstpensionen (bis 750 EUR) monatlich, die weitaus überwiegend von Frauen bezogen würden, wesentlich geringer erhöht worden seien als Pensionen, die über diesen Betrag liegen. Die Klägerin habe daher Anspruch auf eine Erhöhung ihrer Pension im Ausmaß der Erhöhung in der nächsthöheren Anpassungsstaffel, somit um einen Fixbetrag von 21 EUR brutto monatlich.
Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei erhobenen Berufung Folge. Es verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin ab die Pension in der bereits bescheidmäßigen zuerkannten Höhe von 374,42 EUR brutto monatlich zu zahlen und wies das darüber hinausgehende Mehrbegehren ab. Es vertrat - zusammengefasst - die Ansicht, die Pensionsanpassung 2008 sei weder gemeinschaftsrechtswidrig, noch verstoße sie gegen den Gleichheitssatz oder gegen das Eigentumsrecht.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil eine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Pensionsanpassung 2008 noch nicht vorliege.
Gegen den abweisenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und teilweise auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die Klägerin vertritt in ihren Rechtsmittelausführungen im Wesentlichen weiterhin den Standpunkt, die RL 79/7/EWG sei auf die Bestimmungen der Pensionserhöhung 2008 anzuwenden und die Regelung des § 634 Abs 10 ASVG über die Pensionsanpassung 2008 sei gemeinschaftsrechtswidrig. Weiters wiederholt sie ihre verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Bestimmung wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Eigentumsrechts.
Dazu ist Folgendes auszuführen:
1. Der erkennende Senat hat die für den vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage bereits in seinen Beschlüssen vom (10 ObS 160/08i) und vom (10 ObS 178/09p) näher dargelegt, sodass auf diese Ausführungen verwiesen werden kann.
2. Der Verfassungsgerichtshof wies mit Erkenntnis vom , G 187/08 ua, den Antrag des Obersten Gerichtshofs, die die Pensionsanpassung für das Jahr 2008 betreffenden Bestimmungen des ASVG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und gegen die Eigentumsgarantie als verfassungswidrig aufzuheben, zurück, wobei er die in diesem Antrag und auch die in den anderen inhaltsgleichen Gesetzesprüfungsanträgen vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken auch inhaltlich nicht teilte.
3. Da die vorliegende Sozialrechtssache auch verschiedene gemeinschaftsrechtliche Fragen berührt, hat der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom das Revisionsverfahren gemäß § 90a GOG ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
3.1 Mit Urteil vom , Rs C-123/10, hat der EuGH auf die ihm vom Obersten Gerichtshof vorgelegten Fragen zu Recht erkannt:
1. Art 3 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass ein System der jährlichen Pensionsanpassung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich dieser Richtlinie und damit unter das Diskriminierungsverbot in Art 4 Abs 1 der Richtlinie fällt.
2. Art 4 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG ist dahin auszulegen, dass das vorlegende Gericht in Anbetracht der ihm unterbreiteten statistischen Daten und mangels gegenteiliger Anhaltspunkte zu der Annahme berechtigt wäre, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, die dazu führt, dass ein erheblich höherer Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher von einer außerordentlichen Pensionserhöhung ausgeschlossen wird.
3. Art 4 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG ist dahin auszulegen, dass - falls das vorlegende Gericht im Rahmen der von ihm zur Beantwortung der zweiten Frage vorzunehmenden Prüfung zu dem Ergebnis kommen sollte, dass der Ausschluss der Kleinstpensionen von der außerordentlichen Erhöhung, die die im Ausgangsverfahren fragliche Anpassungsregelung vorsieht, tatsächlich geeignet war, einen erheblich höheren Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher zu benachteiligen - diese Benachteiligung weder mit dem früheren Pensionsanfallsalter erwerbstätiger Frauen noch mit der bei ihnen längeren Bezugsdauer der Pension oder damit gerechtfertigt werden kann, dass auch der Ausgleichszulagenrichtsatz für das Jahr 2008 überproportional erhöht wurde.
4. Nach Vorliegen dieses Urteils ist das ausgesetzte Revisionsverfahren von Amts wegen wiederaufzunehmen.
5. Der Oberste Gerichtshof hat im Sinne der bindenden Rechtsansicht des EuGH davon auszugehen, dass ein System der jährlichen Pensionsanpassung wie das im gegenständlichen Verfahren zu beurteilende System der Pensionsanpassung 2008 in den Geltungsbereich der RL 79/7/EWG und damit unter das Diskriminierungsverbot in Art 4 Abs 1 dieser Richtlinie fällt. Weiters kann der Oberste Gerichtshof davon ausgehen, dass das Diskriminierungsverbot der RL 79/7/EWG der nationalen Regelung des § 634 Abs 10 ASVG entgegensteht, die die Kleinstpensionen (unter dem Ausgleichszulagen-Richtsatz von 747 EUR) geringer erhöht als höhere Pensionen und daher im Ergebnis dazu führt, dass ein erheblich höherer Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher von einer außerordentlichen Pensionserhöhung ausgeschlossen wird. Weiters ist aufgrund der bereits dargelegten statistischen Daten davon auszugehen, dass der Ausschluss der Kleinstpensionen von der außerordentlichen Erhöhung tatsächlich geeignet war, einen erheblich höheren Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher zu benachteiligen und diese Benachteiligung weder mit dem früheren Pensionsanfallsalter erwerbstätiger Frauen noch mit der bei ihnen längeren Bezugsdauer der Pension oder damit gerechtfertigt werden kann, dass auch der Ausgleichszulagenrichtsatz für das Jahr 2008 überproportional erhöht wurde. Da auch sonstige sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung von Kleinstpensionen und höheren Pensionen nicht ersichtlich sind, gelangt der erkennende Senat zu dem Ergebnis, dass die im Rahmen der Pensionsanpassung 2008 vorgesehene, geringere Anhebung der Kleinstpensionen eine wesentliche Benachteiligung weiblicher Personen darstellt, die nicht durch einen objektiven Grund sachlich gerechtfertigt ist.
5.1 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist eine nationale Regelung, die gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung nach Art 4 Abs 1 RL 79/7/EWG verstößt, mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten sind daher gehalten, die betreffende Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass ihre vorherige Aufhebung durch den Gesetzgeber beantragt oder abgewartet werden müsste. Die Wahl der zur Beseitigung der rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu treffenden Maßnahmen ist dabei grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten. Daher kann die Ungleichbehandlung sowohl durch Ausdehnung der Vergünstigung auf die bisher ausgeschlossene Personengruppe als auch durch Abschaffung der Vergünstigung insgesamt beseitigt werden. Solange von dem betreffenden Mitgliedstaat keine mit dem Gemeinschaftsrecht übereinstimmende Regelung erlassen worden ist, kann nach Ansicht des EuGH der Gleichheitssatz nur dadurch gewahrt werden, dass die Vergünstigungen, die die Mitglieder der begünstigten Gruppe erhalten, auch auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe erstreckt werden und diese nunmehr in dieses Leistungssystem einbezogen werden. Dabei bleibt die RL 79/7/EWG das einzig gültige Bezugssystem für die Gleichbehandlung. In diesem Sinne ist das nationale Gericht gehalten, die diskriminierende nationale Regelung außer Anwendung zu lassen und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe jene Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der anderen Gruppe gilt (vgl dazu EuGH Rs 384/85, Borrie Clarke, Slg 1987, 2865; Rs C-184/89 Helga Nimz, Slg 1991, I-00297 uva).
5.2 Die Bestimmung des § 634 Abs 10 ASVG ist, wie bereits dargelegt wurde, insoweit als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar zu erachten, als jene Pensionen, deren Höhe die Grenze von 746,99 EUR nicht überschreitet, von der sozial gestaffelten Anpassung ausgeschlossen werden. Solange der österreichische Gesetzgeber nicht in entsprechender Form tätig wird und die bestehende Ungleichbehandlung durch allgemeine oder besondere Maßnahmen beseitigt, hat die Anwendung des § 634 Abs 10 ASVG durch die nationalen Gerichte daher in dem Umfang zu unterbleiben, in dem weiblichen Kleinstpensionsbeziehern die außerordentliche Anpassung ihrer Pensionsleistung verwehrt wird, und ist auf die betroffene Personengruppe eben jene Regelung anzuwenden, die auch für die Mitglieder der begünstigten Gruppe, das heißt für die Bezieher einer Pension in einer Höhe über 746,99 EUR bis 1.050 EUR gilt. Die Pension dieser Gruppe wurde um einen Fixbetrag von 21 EUR monatlich (entspricht einer prozentuellen Erhöhung von 2,81 % bis 2 %) erhöht. Die Pension der Klägerin, die eine Pension unter 747 EUR monatlich erhalten hat, ist daher um 2,81 % (wie eine Pension im Ausmaß 747 EUR im Sinne einer Umrechnung des Fixbetrags in einen Prozentsatz) zu erhöhen. Die vom Erstgericht um den Fixbetrag von 21 EUR monatlich vorgenommene Erhöhung der Pension der Klägerin würde hingegen einer Erhöhung ihrer Pension um 5,7 % entsprechen.
5.3 Die Pension der Klägerin beträgt daher ab 378,51 EUR brutto monatlich. In diesem Umfang erweist sich ihr Klagebegehren als berechtigt, während das Mehrbegehren abgewiesen werden musste.
Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
Schlagworte | Sozialrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00129.11K.1206.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
SAAAD-83624