OGH vom 27.06.2000, 10ObS129/00v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gabriele Griehsel (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und DDr. Wolfgang Massl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gottfried F*****, vertreten durch Dr. Hans Kröppel, Rechtsanwalt in Kindberg, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues, Lessingstraße 20, 8020 Graz, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Knappschaftsvollpension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 253/99h-24, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 22 Cgs 177/98d-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der am geborene Kläger ist aufgrund eines Unfalles nur mehr in der Lage, leichte Arbeiten im Sitzen, wobei ein rollstuhlgerechter Arbeitsplatz vorhanden sein muss, durchzuführen. Desgleichen muss ein rollstuhlgerechtes WC zur Verfügung stehen, da die Blase nur sitzend entleert werden kann. Die üblichen Ruhepausen sind im Prinzip ausreichend, ein gelegentlicher Haltungswechsel muss aber insofern möglich sein, als der Kläger Gelegenheit haben muss, für einige Minuten aufzustehen und mit Hilfe seiner Stöcke einige Schritte herumzugehen. Bück- und Hebearbeiten sind auszuschließen, der Überkopfgriff ist möglich. Feinere Arbeiten mit den Händen im Tischniveau sind möglich. Die Verrichtung jedweder geistiger Arbeiten ist zumutbar. Einschränkungen aus psychiatrischer Sicht liegen nicht vor. Mit Krankenständen im Ausmaß von vier Wochen pro Jahr ist zu rechnen. Die Arbeitsstelle muss mit einem öffentlichen Verkehrsmittel oder mit einem für den Kläger adaptierten PKW erreichbar sein. Der Kläger hat nach Absolvierung der Pflichtschule die Höhere Technische Lehranstalt für Elektrotechnik besucht und 1996 mit der Matura abgeschlossen. Bereits während des Besuches dieser Schule hat der Kläger in den Jahren 1992, 1993 und auch 1995 ein Monat insgesamt vier Beitragsmonate in der Pflichtversicherung als Arbeiter im Bergbau erworben. Er hat dabei im Betrieb der V***** R***** in der Elektrowerkstätte als Ferialpraktikant gearbeitet und an diversen Maschinen Elektromotoren installiert, Lichtleitungen angeschlossen und auch sonstige Intallationstätigkeiten durchgeführt. Ein Lehrling im dritten, vierten Lehrjahr macht ungefähr dieselbe Tätigkeit, die ein Schüler der HTL im dritten Schuljahr verrichten kann. Nach Absolvierung der Matura hat der Kläger 1996 noch insgesamt drei Versicherungsmonate als Ferialarbeiter ebenfalls bei diesem Unternehmen in der Elektrowerkstätte erworben. 1997 kam noch ein Pflichtversicherungsmonat als Büroangestellter hinzu. Als Angestellter hatte er eine sitzende Tätigkeit und fertigte dabei auch Pläne an.
Der Kläger begehrt die Weitergewährung der mit befristet gewährten Knappschaftsvollpension bis auf weiteres.
Die beklagte Partei beantragte die Klageabweisung, weil der Kläger im Sinne des Invaliditätsbegriffes des § 255 Abs 3 ASVG noch in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeiten durchzuführen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Der Kläger habe vor Ablegung der Matura keine qualifizierte Tätigkeit im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt, weil seine Berufsausbildung erst mit der Matura abgeschlossen gewesen sei. Es überwiege somit die Tätigkeit als ungelernter Arbeiter, sodass der Kläger auf dem gesamten Arbeitsmarkt verwiesen werden könne. Aufgrund des Leistungskalküls sei ihm die Tätigkeit eines Betriebselektrikers nicht mehr möglich. Er könne jedoch nicht nur als Telefonist eingesetzt werden, sondern auch die Tätigkeit eines Kontrollarbeiters in der Elektronikindustrie und eines Bürohausportiers ausführen, wofür es in Österreich weit mehr als 100 Arbeitsplätze gebe.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es teilte die Meinung des Erstgerichtes, dass die während des Besuchs der HTL zurückgelegten Ferialpraxismonate nicht als qualifizierte Tätigkeit zu werten seien. Habe der Kläger aber vier vor der Matura gelegene Versicherungsmonate und drei nach der Matura gelegene vor dem Unfall erworbene Versicherungsmonate in einer qualifizierten Verwendung erworben, so habe die Zeit einer allenfalls qualifizierten Tätigkeit nicht im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG überwogen. Da der Kläger sohin keinen Berufsschutz genieße, könne er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf die dem medizinischen Leistungskalkül entsprechenden Tätigkeiten verwiesen werden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Ob Versicherungszeiten für die Wartezeit zu berücksichtigen sind, steht mit der Frage, ob und wie sie für die Beurteilung der Frage, ob ein Beruf überwiegend ausgeübt wurde, zu werten sind, nicht in Zusammenhang. Die diesbezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichtes sind verfehlt. Es erübrigt sich daher auf die diesen Punkt betreffende Rüge der Revision weiter einzugehen.
Zutreffend verweist die Revision darauf, dass nach ständiger Judikatur die Lehrzeit nicht als Zeit der Ausübung eines erlernten oder eines nicht qualifizierten Berufes zu werten und bei Prüfung der Frage, ob in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG eine erlernte Berufstätigkeit ausgeübt wurde, außer Betracht zu lassen ist. Die in dieser Zeit erworbenen Beitragszeiten sind "berufsschutzunschädlich" (SSV-NF 4/27, 5/123, 12/47 = DRdA 1999/23 [Resch]). Ein Argument für dieses Ergebnis bildete, dass andernfall ein Schüler, der im Rahmen einer Schulausbildung einen Lehrabschluss erwirbt, gegenüber einem Lehrling, der im Zug der Lehrausbildung Beitragszeiten erwirbt, besser gestellt wäre, zumal Schulzeiten nicht als Beitragszeiten iSd § 255 Abs 2 ASVG zu werten sind; bei nur kurzer Berufsausübung bis zum Eintritt der Invalidität nach Erwerb des Lehrabschlusses käme dem Absolventen einer berufsbildenden Schule, der nach Abschluss der Ausbildung ausschließlich eine einschlägige Tätigkeit verrichtete, Berufsschutz zu, während jemand, der den Beruf im Rahmen einer Lehre erlernt hat, würde man die dabei erworbenen Beitragsmonate als Zeiten einer unqualifizierten Tätigkeit werten, bei Überwiegen dieser Zeiten unter sonst gleichen Umständen keinen Berufsschutz erworben hätte. Auch um ein solches ungleiches Ergebnis zu vermeiden, sind daher alle Zeiten, die im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Ausbildung für einen Lehrberuf erworben werden, bei der Beurteilung der Frage, ob ein Beruf überwiegend ausgeübt wurde, außer Betracht zu lassen; sie zählen weder als Zeiten einer qualifizierten noch einer unqualifizierten Berufsausübung. Gleiches hat auch für Beitragszeiten zu gelten, die durch die Absolvierung von Praxiszeiten erworben werden, die in den Vorschriften über eine Schulausbildung mit deren erfolgreichem Abschluss der Erwerb eines Lehrabschlusszeugnisses verbunden ist, vorgeschrieben sind. Sonstige Beitragszeiten, die nicht im Rahmen des vorgesehenen Ausbildungsplanes erworben werden, sind dagegen grundsätzlich Zeiten der Ausübung eines nichtqualifizierten Berufes.
Nach der Verordnung über den Ersatz der Lehrabschlussprüfung und der Lehrzeit aufgrund schulmäßiger Ausbildung, BGBl 1985/356, die aufgrund der Übergangsvorschriften des § 33 BAG auf den Kläger anzuwenden ist (Berger/Fida/Gruber BAG1999; Anm 1 f zu § 33), ersetzt der erfolgreiche Besuch - die erfolgreiche Ablegung der Reifeprüfung - der vom Kläger besuchten Schule die Lehrabschlussprüfung unter anderem im Lehrberuf Anlagenmonteur, Elektroinstallateur. Soweit der Kläger ins Treffen führt, er habe bereits im Jahr vor der Matura eine qualifizierte Tätigkeit verrichtet, ist ihm allerdings entgegenzuhalten, dass der erfolgreiche Abschluss der 4. Schulstufe allein nur die Lehrzeit, nicht jedoch die Lehrabschlussprüfung ersetzt; der Abschluss der 4. Schulstufe erfüllt nur die Voraussetzungen für die Zulassung zur Lehrabschlussprüfung (Berger/Fida/Gruber aaO 529). Eine einschlägige Tätigkeit vor Ablegung der Matura erfüllt daher die Voraussetzungen des § 255 Abs 1 ASVG nicht.
Die Verordnung über den Lehrplan für höhere technische Lehranstalten BGBl 1986/412 sieht bezüglich des Lehrplanes der höheren Lehranstalten für Elektrotechnik ein Pflichtpraktikum von mindestens je vier Wochen vor Eintritt in den dritten bzw vierten Jahrgang vor. Feststellungen darüber, ob der Kläger diese Praktika absolvierte, fehlen. Dass der Kläger die Schule erfolgreich abgeschlossen hat, spricht allerdings dafür, dass dies der Fall war und dass zumindest zwei (allenfalls mehr - § 231 Z 1 lit a und b ASVG) der vor der Matura liegenden Versicherungsmonate durch diese Praxiszeiten erworben wurden. Soweit dies zutrifft, wären diese Zeiten für die Beurteilung der Frage des Berufsschutzes zu neutralisieren; sie zählen nicht als Zeiten einer unqualifizierten Berufsausübung und sind damit nicht berufsschutzschädlich. Diesbezüglich werden entsprechende Feststellungen nachzutragen sein.
Auch ob der Kläger nach der Matura eine seiner Ausbildung entsprechende Tätigkeit verrichtete, lässt sich derzeit nicht beurteilen, zumal die Art seiner Beschäftigung nicht feststeht; die Feststellung, dass er als "Ferialarbeiter" tätig gewesen sei, sagt über den Inhalt seiner Verwendung nichts aus. Erst wenn diese Fragen geklärt sind, wird eine Aussage darüber möglich sein, ob dem Kläger Berufsschutz zukommt.
Die Feststellungen reichen auch zur Beurteilung der Frage, ob der Kläger in der Lage ist, den Arbeitsplatz unter den üblichen Bedingungen erreichen kann, nicht aus. Festgestellt wurde, dass die Arbeitsstelle mit einem öffentlichen Verkehrsmittel oder einem für den Kläger adaptierten PKW erreichbar sein müsste. Im Hinblick auf die beim Kläger bestehenden gravierenden Einschränkungen - nach den Feststellungen besteht eine inkomplette Querschnittslähmung, er ist zur Fortbewegung im Wesentlichen auf die Benützung eines Rollstuhles angewiesen - erscheint es jedoch fraglich, ob er die Wege zu öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen kann und ob er öffentliche Verkehrsmittel überhaupt benützen kann.
Wenn die Überprüfung dieser Fragen zum Ergebnis führen sollte, dass die Zurücklegung des Anmarschweges in entsprechender Weise möglich ist, wird auch noch zu prüfen sein, ob eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung steht, die in der für den Kläger erforderlichen Weise ausgerüstet sind (rollstuhlgerechte Arbeitsstelle, rollstuhlgerechtes WC), weil eine Verweisung des Klägers nur zulässig ist, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind. Sollte nach dem Ergebnis dieser Erhebungen dem Kläger Berufsschutz zukommen und auch eine Anmarschwegbeschränkung der Verweisung nicht entgegenstehen, wäre auch noch zu prüfen, ob allenfalls eine Verweisung des Klägers, dessen Einsatz in den von ihm erlernten Berufen offenbar an seiner körperlichen Behinderung scheitert, die ihm die Ausübung manueller Arbeiten unmöglich macht, auf eine technische Angestelltentätigkeit in Frage kommt; aus den Feststellungen ergeben sich Hinweise darauf, dass der Kläger im Rahmen seiner Beschäftigung als Angestellter einschlägig tätig war (Zeichnen von Plänen).
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.