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VfGH vom 12.06.2012, B1404/11

VfGH vom 12.06.2012, B1404/11

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Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung einer Maßnahmenbeschwerde gegen eine Festnahme wegen aggressiven Verhaltens im Zuge einer polizeilichen Amtshandlung; grobe Begründungsmängel angesichts nicht nachvollziehbarer Beweiswürdigung durch den UVS

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 1.326,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.

III. Der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen, Vorverfahren

1. Mit Eingabe vom erhob die

nunmehrige Beschwerdeführerin Beschwerde an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS) gegen die "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien am ".

2. Dieser Beschwerde lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Am begleitete die Beschwerdeführerin ihre Freundin M zu einer Einvernahme in die Wiener Polizeiinspektion G. Sie stellte ihr Fahrzeug im Halteverbot vor dem Gebäude der Polizeiinspektion ab. Es kam zu einem Streitgespräch zwischen dem leitenden Polizeibeamten S und der Beschwerdeführerin, in dessen Zuge die Beschwerdeführerin gemäß § 35 Z 3 Verwaltungsstrafgesetz 1991 - VStG festgenommen wurde. Kurze Zeit später wurde die Festnahme aufgehoben.

In weiterer Folge wurde das gegen die Beschwerdeführerin geführte Verwaltungsstrafverfahren wegen § 1 Abs 1 Z 2 Wiener Landes-Sicherheitsgesetz - WLSG (Lärmerregung) und § 82 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz - SPG (Aggressives Verhalten gegenüber Organen der öffentlichen Aufsicht) eingestellt; das gegen den Polizeibeamten S geführte Strafverfahren wegen § 83 Abs 1 iVm § 313 Strafgesetzbuch - StGB (Körperverletzung unter Ausnützung einer Amtsstellung) wurde ebenfalls eingestellt. Wegen des vorschriftswidrigen Abstellens ihres Fahrzeuges erging eine Anonymverfügung an die Beschwerdeführerin.

3. Der UVS wies die an ihn gerichtete Beschwerde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom als unbegründet ab.

3.1. Vorerst gibt der UVS im angefochtenen Bescheid den Verfahrensgang unter wörtlicher Wiedergabe aller Schriftsätze sowie sämtlicher Niederschriften der mündlichen Verhandlung wieder und stellt den Sachverhalt wörtlich wie folgt fest:

"Hier war[en] insbesondere d[ie] Ausführungen der unbeteiligten Zeugen R B, W und des Zeugen Bzl S maßgeblich.

Die Beschwerdeführerin kam mit ihrer Freundin M in die Pl und hatte ihr Fahrzeug im Halteverbot der PI abgestellt gehabt. Bzl S forderte sie auf das Fahrzeug aus der HV-Zone zu fahren, da er ihr ein Abstellen dieses zuvor nicht erlaubt hatte und sie unbeachtet dessen, trotzdem das Fahrzeug in HV abgestellt hatte. Es kam in weiterer Folge zwischen Bzl S und der Beschwerdeführerin zu einem Streitgespräch, welches sich auf der Straße fortgesetzt hat. Die Beschwerdeführerin [legte] ein lautstarkes, wild gestikulierendes Verhalten an den Tag, welches sie ungeachtet der Abmahnungen fortsetzte. Um de[n] gesetz- und ordnungsgemäßen Zustand wieder herzustellen, sprach Bzl S die Festnahme aus und musste diese in weiterer Folge aufgrund des renitenten Verhaltens der Beschwerdeführerin unter Anwendung von körperlicher Gewalt durchsetzen. Die Beschwerdeführerin hat auch zwischen Ausspruch der Festnahme und Durchsetzung dieser ein provozierendes Verhalten an den Tag gelegt, welches sie auch noch nach der Festnahme fortsetzte. Sie beruhigte sich erst nach einer Weile nachdem die Zeugen P und B erschienen waren. Diese Zeugen hatten lediglich Wahrnehmungen in Teilbereichen der Amtshandlung, wogegen die bereits angesprochenen Zeugen die Amtshandlung vom Anbeginn mitverfolgt hatten und auch detaillierte Angaben zum aggressiven, renitenten [V]erhalten der Beschwerdeführerin machen konnten. Der Wahrnehmungsgehalt dieser Zeugen war daher auch für die Sachverhaltsfeststellungen maßgeblich."

3.2. Nach Wiedergabe des § 35 Z 3 VStG und einen Verweis "auf die einschlägigen Richtlinien für das Einschreiten und die Bestimmungen des Sicherheitspolizeigesetzes" folgen abschließend die rechtlichen Erwägungen des UVS. Diese lauten wie folgt:

"Aufgrund der Aktenlage und des durchgeführten Beweisverfahrens, hier insbesondere aufgrund der Aussagen der unbeteiligten Zeugen W, R B, die zumindest akustisch die gesamte Amtshandlung wahrgenommen haben, und der Angaben des Bzl. S, im Gegensatz zu den Zeuginnen B und P, die eigentlich erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugekommen waren, war spruchgemäß die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Die von Bzl. S gesetzten Maßnahmen waren durchaus vertretbar, ebenso die körperliche Beeinträchtigung, geringfügige Verletzungen, der Beschwerdeführerin. Derartige Verletzungen sind oftmals bei ordnungsgemäßem Einschreiten unvermeidbar.

Die Aussagen der Zeuginnen B und P waren nicht

geeignet, dass aus diesen ein rechtswidriges Verhalten durch Bzl. S vertretbar und nachvollziehbar angenommen werden kann.

Vielmehr geht der UVS Wien davon aus, dass die Beschwerdeführerin sich einem Organ der öffentlichen Aufsicht, dessen Aufgabe es ist, unter anderem bei Gesetzesübertretungen den gesetzmäßigen Zustand wiederherzustellen, widersetzt hat."

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die

vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 3 EMRK und in dem Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie in dem durch Art 5 EMRK und durch Art 1 des Bundesverfassungsgesetzes vom über den Schutz der persönlichen Freiheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt werden. Insbesondere wird gerügt, dass die Festnahme der Beschwerdeführerin nicht erforderlich bzw. grob unverhältnismäßig gewesen sei.

5. Der UVS als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er den angefochtenen Bescheid verteidigt und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Angesichts der verfassungsrechtlichen

Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass die Behörde diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnte die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn die Behörde Willkür geübt hätte.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB

VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2. Vorauszuschicken ist, dass der UVS in nicht zu beanstandender Weise ein Ermittlungsverfahren samt mündlicher Verhandlung durchgeführt hat.

3. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Festnahme der Beschwerdeführerin nach § 35 Z 3 VStG gerechtfertigt war, ist ihm jedoch ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

Maßgeblich für den festgestellten Sachverhalt waren für den UVS - neben den Aussagen des festnehmenden Polizeibeamten S - insbesondere die Ausführungen der beiden Zeugen R B und W. Diese Zeugen waren aber nicht unmittelbar bei der Festnahme anwesend, da sie sich - wie sich aus den im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Einvernahmen ergibt - im Gebäude der Polizeiinspektion G aufhielten, während die Festnahme der Beschwerdeführerin vor dem Gebäude stattfand. Den Angaben der Zeugen B und P folgte der UVS hingegen nicht, obwohl diese unmittelbar vor der Polizeiinspektion die Festnahme beobachteten. Die vom UVS vorgenommene Beweiswürdigung, in der er den Zeugen, die die Festnahme lediglich "hörten", glaubte, hingegen jenen Zeugen, die die Festnahme zudem auch sahen, nicht glaubte, entspricht nicht den Denkgesetzen und ist für den Verfassungsgerichtshof daher nicht nachvollziehbar. Dieser Mangel wiegt schwer, bedingt die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Festnahme jedenfalls auch die Frage, ob dieser Schritt und die damit verbundene Gewaltanwendung verhältnismäßig waren.

Die pauschale Behauptung des UVS in der Begründung des angefochtenen Bescheides, dass (geringfügige) Verletzungen, wie jene der Beschwerdeführerin, "oftmals bei ordnungsgemäßem Einschreiten unvermeidbar" seien, ist nicht notorisch und daher ebenfalls unbegründet.

Die vom UVS vorgenommene Beweiswürdigung ermöglicht nicht die verfassungsrechtlich gebotene Beurteilung, ob die Festnahme der Beschwerdeführerin rechtmäßig war.

4. Der unter einem mit der Beschwerde gestellte

Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO (einstweilige Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr) war abzuweisen, da aus dem vorgelegten Vermögensbekenntnis nicht erkennbar ist, inwieweit die Leistung der Eingabengebühr von € 220,- (auch unter Berücksichtigung des verzeichneten Schuldenstandes) den notwendigen Unterhalt der Beschwerdeführerin und ihres Kindes im Sinn des § 63 Abs 1 ZPO beeinträchtigen würde.

III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Der belangten Behörde sind somit grobe Begründungsmängel unterlaufen, die den angefochtenen Bescheid mit Willkür behaften. Die Beschwerdeführerin ist dadurch in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

2. Der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lit. a ZPO war abzuweisen, da die Voraussetzungen für die Bewilligung der begehrten Verfahrenshilfe nicht vorliegen.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG; in den - im verzeichneten Ausmaß zugesprochenen - Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 221,28 sowie Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,- enthalten.

4. Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.