OGH vom 23.05.2018, 10Ob34/18z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und durch die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj D***** R*****, geboren ***** 2015, *****, Vater: M***** R*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter M***** R*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar und Dr. Norbert Marschall, Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 497/17g-92, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Die Eltern des 2015 geborenen D***** sind noch miteinander verheiratet, leben seit Herbst 2016 aber getrennt. Der Vater ist österreichischer Staatsbürger, die Mutter ist russische Staatsbürgerin, das Kind hat beide Staatsbürgerschaften und wohnt bei der Mutter. Dem Vater ist ein Kontaktrecht eingeräumt. Er war 2016 wegen psychischer Erkrankungen in stationärer Behandlung. Der Konflikt zwischen den Eltern ist hochgradig eskaliert.
Mit Beschluss vom entzog das über Antrag der Mutter dem Vater vorläufig die Obsorge für ihren Sohn und übertrug sie (vorläufig) der Mutter (Punkt 1). Mit diesem Beschluss wurde auch der Antrag der Mutter, das Verbot der Ausreise mit dem Sohn aufzuheben und ihr den österreichischen und den russischen Reisepass des Sohnes wieder auszufolgen, abgewiesen (Punkt 2) und der Mutter die Absolvierung einer Erziehungsberatung im Ausmaß von zehn Einheiten binnen sechs Monaten aufgetragen (Punkt 3).
Das gab dem Rekurs des Vaters gegen den vorläufigen Entzug der Obsorge nicht Folge, dem Rekurs der Mutter gab es teilweise Folge. Soweit für das Revisionsrekursverfahren noch wesentlich ist der Inhalt dieser Entscheidung dahin wiederzugeben, dass die Abweisung des Antrags auf Aufhebung des Ausreiseverbots mit dem Kind und auf Ausfolgung der Reisepässe bestätigt wurde und nunmehr auch dem Vater der Auftrag erteilt wurde, binnen sechs Monaten eine Erziehungsberatung im Ausmaß von zehn Einheiten zu absolvieren. Das Rekursgericht führte (zusammengefasst) rechtlich aus, die Sorge des Vaters, die Mutter könnte mit dem Kind Österreich auf Dauer verlassen und nach Russland zu ihrer Familie ausreisen, sei im Hinblick auf die im vorliegenden Fall gegebenen Umstände nachvollziehbar. Zudem liege Russland außerhalb des „Schengen-Raums“, weshalb eine Rückführung nach Österreich nur schwer durchsetzbar wäre. Wegen der im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beschlussfassung gegebenen Konfliktlage zwischen den Eltern sei zur Sicherung des Kindeswohls nicht nur der Mutter, sondern auch dem Vater die Absolvierung einer Erziehungsberatung aufzutragen.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung unzulässig.
1.1 Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG – wie sie von den Vorinstanzen verfügt wurden – stellen besondere Verfahrensregelungen zur Sicherung des Kindeswohls dar, wobei eine Gefährdung des Kindeswohls nicht Voraussetzung ist. Die angeordnete Maßnahme muss zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein, der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person darf aber im Hinblick auf Art 8 Abs 1 EMRK nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen (RIS-Justiz RS0129701).
1.2 Um das Recht des Kindes auf persönlichen Kontakt zu sichern, kommen als derartige Maßnahmen ua das Verbot der Ausreise mit dem Kind und die Abnahme der Reisedokumente des Kindes in Frage (§ 107 Abs 3 Z 4 und 5 AußStrG). Ebenso wie die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, inwieweit einem Elternteil das Kontaktrecht eingeräumt werden soll, ist auch die hier zutreffende Entscheidung grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig (RIS-Justiz RS0129700 [T2]). Daher kommt ihr im Regelfall keine Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG zu, sofern nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung verletzt wurden (RIS-Justiz RS0130780).
1.3 Das Gericht darf die Abnahme des Reisepasses des Kindes bzw ein Ausreiseverbot mit dem Kind nur bei objektiven Anhaltspunkten für eine geplante Mitnahme des Kindes ins Ausland durch den Elternteil und nach Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme anordnen (RIS-Justiz RS0129701; Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 107 Rz 24 mwN).
1.4 Mit ihrer Ansicht, auch im vorliegenden Fall seien objektive Anhaltspunkte gegeben, die eine vorläufige Abnahme der Reisepässe des Kindes erforderlich machen, haben die Vorinstanzen den ihnen – innerhalb dieser Rechtsprechung zukommenden – Beurteilungsspielraum noch nicht überschritten. Wenngleich die Revisionsrekurswerberin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vermisst, zeigt sie nicht auf, welche Umstände berücksichtigt hätten werden müssen, die ihre Interessen an weiteren ausgedehnten Aufenthalten mit dem Kind im Ausland so vordringlich erscheinen lassen, dass sie der Gefahr dessen Entfremdung vom getrennt lebenden Vater vorgehen könnten. Erfahrungsgemäß ist gerade bei Kindern in geringem Alter der Zeitraum bis zum Abbau von Bindungen zu Bezugspersonen, die ihnen infolge Trennung der Eltern nicht mehr unmittelbar zur Verfügung stehen, sehr kurz. Die Maßnahme der Abnahme der Reisepässe muss auch nicht die ultima ratio darstellen, die erst nach Ausschöpfung anderer Maßnahmen zulässig wäre (RIS-Justiz RS0129701). Die vom Rekursgericht seiner Entscheidung zugrundelegte Ansicht, im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Einzelfalls bestehe das Sicherheitsbedürfnis des Kindes auch nach nunmehr elfmonatiger Dauer des Verfahrens über die endgültige Obsorgezuteilung fort, ist jedenfalls nicht unvertretbar.
1.5 Neuerungen sind nur soweit beachtlich, als ein entsprechendes Tatsachenvorbringen im Verfahren erster Instanz nicht möglich war (§ 49 Abs 2 AußStrG; RISJustiz RS0110773). Aus welchen besonderen Gründen die Revisionsrekurswerberin nicht bereits im Verfahren erster Instanz in der Lage gewesen wäre, das Argument vorzutragen, sie werde mit dem Kind Österreich schon deshalb nicht verlassen, weil sie nicht mehr im Frauenhaus lebe, sondern nunmehr über eine eigene Wohnung verfüge, wird nicht dargelegt. Im Hinblick darauf, dass sie den Vertrag über die Nutzung dieser Wohnung bereits am – somit vor dem Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung vom – unterzeichnet hat (wie sich aus dem mit dem Revisionsrekurs erstmals vorgelegten Heim-Nutzungsvertrag eindeutig ergibt), wäre ein derartiges Vorbringen aber erforderlich gewesen.
2. Die Revisionsrekurswerberin zeigt mit dem Hinweis auf die fehlende Zustellung des ergänzenden Berichts des Amts für Jugend und Familie vom keine Verletzung des Verfahrensrechts von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf. Aus diesem Bericht geht nämlich nur hervor, dass der Vater bei einer am stattgefundenen Besprechung mit der Sozialarbeiterin die emotionale Kontrolle über sein Verhalten gänzlich verloren und sich äußerst aggressiv gebärdet hat. Dass die mangelnde Zustellung dieses Berichts an die Revisionsrekurswerberin für die Entscheidung über die (Nicht)Ausfolgung der Reisepässe und über die von ihr zu absolvierende Erziehungsberatung in irgendeiner Weise relevant gewesen wäre, ist aber nicht ersichtlich.
3. Der Oberste Gerichtshof ist auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (RIS-Justiz RS0108449). Wenn das Erstgericht die Angaben des Vaters als ausreichendes Bescheinigungsmittel erachtet hat, um daraus die Zweckmäßigkeit einer Erziehungsberatung für die Mutter abzuleiten, kann dem der Oberste Gerichtshof nicht entgegentreten. Das erstmalig im Revisionsrekurs erstattete Vorbringen, die Mutter könne sich die durch eine Erziehungsberatung auflaufenden Kosten nicht leisten, verstößt gegen das Neuerungsverbot (RIS-Justiz RS0110773).
Der Revisionsrekurs war daher zurückzuweisen.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2018:0100OB00034.18Z.0523.000 |
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