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VfGH vom 28.09.1990, B1368/87

VfGH vom 28.09.1990, B1368/87

Sammlungsnummer

12468

Leitsatz

Kein Verstoß einer in einem Plandokument festgelegten Widmung gegen die Wr BauO 1930; Aufhebung des angefochtenen Bescheides aufgrund eines auf eine gleichheitswidrige Gesetzesauslegung zurückzuführenden Verfahrensmangels; keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den von der Beschwerdeführerin als Anrainerin (und Inhaberin eines Industriebetriebs) erhobenen Einwendungen gegen den Bau einer Wohnhausanlage; Geltung des Verbots schwerwiegender Beeinträchtigung durch schädliche Emissionen im gemischten Baugebiet auch im Falle der nachträglichen Errichtung von Wohnhäusern neben bestehenden Betrieben

Spruch

Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Stadt Wien ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beteiligte ist Eigentümer von zwei Liegenschaften mit den aneinandergrenzenden Grundstücken 646/1 und 650/4 der Katastralgemeinde Simmering, die zwischen der Herbortstraße und der Straße "Am Kanal" liegen. Diesen Grundstücken gegenüber, und zwar auf der anderen Seite der Herbortstraße, befindet sich die Fabriksanlage der beschwerdeführenden Gesellschaft (Braunhubergasse 23 und 24 bzw. Herbortstraße). Die Beschwerdeführerin erhob im Verfahren über das Ansuchen des Beteiligten um Baubewilligung für eine Wohnhausanlage mit insgesamt 119 Wohnungen (bestehend aus zwei Wohnhäusern mit je drei Stiegen, eines in der Herbortstraße und das andere "Am Kanal") Einwendungen, in denen sie im wesentlichen folgendes darlegte: Ihr gegenüber dem geplanten Objekt situierter Industriebetrieb beschäftige ca. 500 Mitarbeiter und rufe trotz umfangreicher Schutzmaßnahmen gegen Lärmbelästigung die mit einem solchen Betrieb notwendigerweise verbundenen Geräusche hervor. Nach ihrer Erfahrung sei zu erwarten, daß künftige Bewohner der geplanten Wohnhausanlage sich trotzdem zeitweise gestört fühlten, umsomehr als der Wohnbau unmittelbar gegenüber den Kfz-Abstellplätzen im Werksgelände und der Grundstücksfläche für kommende Erweiterungen der Fabrikationshallen errichtet werden soll. Die Betriebsweise in den angrenzenden Hallen sei grundsätzlich ein Zweischichtbetrieb, an einzelnen Anlagen auch drei Schichten. Die überwiegende Zahl der Zu- und Abfahrten zu den Kfz-Abstellplätzen erfolge daher zwischen 5,30 und 6,00 Uhr, 13,30 und 14,30 Uhr sowie knapp nach 22,00 Uhr. Der Bauplatz für die geplante Wohnhausanlage sei aus diesen Gründen äußerst unglücklich gewählt. Der Magistrat Wien holte hiezu Amtssachverständigengutachten der Magistratsabteilung 22 - Umweltschutz und der Magistratsabteilung 15 - Bezirksgesundheitsamt für den 11. Bezirk ein. Bei einer ab 23,45 Uhr durchgeführten Erhebung sei an der Grundstücksgrenze in 1,5 m Höhe über dem Boden ein durch den Betrieb der Beschwerdeführerin verursachter Störgeräuschpegel von 50 dB,A gemessen worden. Nach dem Gutachten des Bezirksgesundheitsamtes entspreche dies zumindest einer Verdoppelung des Grundgeräuschpegels, der im Bereich der geplanten Wohnanlage nachts sicher mit erheblich unter 40 dB,A angenommen werden könne. Prinzipiell seien Störgeräusche, die den Grundgeräuschpegel um 10 dB,A überschreiten, als unzumutbar zu bezeichnen. Es sei zu fordern, daß die Schlafzimmerfenster nicht dem Betrieb zugewendet zu planen seien.

Der Bauwerber änderte daraufhin das Projekt dahin, daß im Wohnhaus mit der Front zur Herbortstraße an dieser Front keine Aufenthaltsräume vorgesehen sind. Die Beschwerdeführerin hielt an ihren Einwendungen fest. Auch die Bezirksvorstehung sprach sich gegen die Erteilung der Baubewilligung aus; die Wohnqualität wäre im Hinblick auf den gegenüberliegenden Betrieb beeinträchtigt, die zu errichtenden Wohnungen entsprächen nicht den heutigen Anforderungen hinsichtlich Lärmschutz und Lebensqualität.

Mit Bescheid vom versagte der Magistrat der Stadt Wien die Baubewilligung unter Berufung auf §§70 und 71 der BauO f. Wien. Durch die eingeholten Gutachten sei nachgewiesen, daß die vom Anrainerbetrieb ausgehenden Belästigungen die bei einer Wohnhausanlage üblicherweise entstehenden Emissionen bei weitem überstiegen, sodaß eine unzumutbare Lärmbelästigung der Bewohner der Wohnhausanlage und eine Beeinträchtigung der Wohnqualität kaum vermeidbar wäre.

2. Der Beteiligte erhob gegen die Versagung Berufung an die Bauoberbehörde für Wien. Diese gab (nachdem eine weitere Projektsänderung in der Richtung vorgenommen worden war, daß sämtliche Fenster in dreifacher Isolierverglasung auszuführen sind) mit Bescheid vom dem Rechtsmittel Folge, erteilte die Baubewilligung und wies die Einwendungen der Beschwerdeführerin als unbegründet ab. Durch das Bauvorhaben würden die Bebauungsbestimmungen eingehalten. Die Errichtung einer Wohnhausanlage im gemischten Baugebiet sei gemäß § 6 Abs 8 der BauO f. Wien zulässig. Daß die Wohnhausanlage selbst geeignet sei, durch Emissionen Gefahren oder unzumutbare Belästigungen für die Nachbarschaft herbeizuführen, hätten die Anrainer nicht einmal behauptet. Der Umstand, daß von einem Betrieb in der Nachbarschaft Emissionen ausgingen, die zu einer Belästigung der zukünftigen Bewohner der Wohnhausanlage führen könnten, könne nicht zu einer Versagung des eingereichten Projektes führen, da nicht die Immissionswirkungen der Anlage auf die Nachbarliegenschaften, sondern jene des eingereichten Projektes zu berücksichtigen seien. Da die geplante Anlage der Flächenwidmung entspreche und auch die übrigen Bestimmungen der Bauordnung eingehalten würden, habe der Bauwerber einen Anspruch auf Erteilung der Baubewilligung. Im übrigen habe der Bauwerber selbst, um die zukünftigen Bewohner der Wohnhausanlage weitgehend vor Belästigungen zu schützen, die Ausführung sämtlicher Fenster in dreifacher Isolierverglasung vorgesehen; die Wohnungen seien so angeordnet, daß keine Aufenthaltsräume in Richtung Herbortstraße gelegen sind.

3. Gegen diesen Bescheid der Bauoberbehörde für Wien richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in welcher eine Rechtsverletzung infolge Anwendung einer rechtswidrigen Verordnung sowie die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend gemacht und die Bescheidaufhebung beantragt wird.

4. Die belangte Bauoberbehörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Begehren auf Abweisung der Beschwerde.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1.a) Der hier maßgebende Flächenwidmungs- und Bebauungsplan (- das auf einem Gemeinderatsbeschluß vom beruhende Plandokument 5490 -) sieht für die beiden Grundstücke gemischtes Baugebiet, Bauklasse III, geschlossene Bauweise, vor; jeweils in einer Tiefe von 20 m liegen in der Herbortstraße und Am Kanal innere Baufluchtlinien, zwischen denen ein Streifen von rund 60 m gärtnerisch zu gestalten ist.

Die beschwerdeführende Gesellschaft hält die Widmung für gesetzwidrig und macht unter diesem Aspekt eine Rechtsverletzung infolge Anwendung einer rechtswidrigen Verordnung geltend. Der Gerichtshof hält ihren Vorwurf jedoch für nicht berechtigt und findet sohin keinen Anlaß, ein Verordnungsprüfungsverfahren einzuleiten.

b) Die Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit des Plandokumentes leitet die Beschwerdeführerin vom hg. Erk. VfSlg. 10703/1985 her, mit dem ein Teil des Flächenwidmungsplans der Marktgemeinde Altmünster als gesetzwidrig aufgehoben wurde, weil dem in § 16 Abs 2 des OÖ Raumordnungsgesetzes festgelegten Gebot der möglichsten Vermeidung gegenseitiger Beeinträchtigung bei der Widmung eines Grundstücks als gemischtes Baugebiet nicht Rechnung getragen worden war: Die zu berücksichtigenden tatsächlichen Gegebenheiten bestanden darin, daß einerseits von einem - vom Verordnungsgeber in seinem Bestand akzeptierten - Sägewerksbetrieb Emissionen ausgingen, welche die im gemischten Baugebiet üblicherweise entstehenden Emissionen überstiegen und andererseits auf dem Grundstück keine dort vorhandene Bebauung berücksichtigt werden mußte. Die beschwerdeführende Gesellschaft meint nun, daß der gegebene Fall dem eben zitierten ähnlich sei; das Plandokument verstoße gegen Bestimmungen der BauO f. Wien. Sie begründet diese Auffassung im wesentlichen folgendermaßen: Wenngleich Wien kein Raumordnungsgesetz besitze, müßten die Bestimmungen der Bauordnung und der nachgeordneten Verordnungen darauf Bedacht nehmen, daß der Schutz der Anrainer und Nachbarn gewährleistet sei. Die BauO f. Wien gebiete, nach Möglichkeit eine gegenseitige Beeinträchtigung von Anrainern und Nachbarn zu vermeiden; dieses Gebot müsse als Gesetzesinhalt angesehen werden, weshalb Verordnungen wie Flächenwidmungs- und Bebauungspläne nur im Rahmen dieses Gesetzesinhaltes erlassen werden dürften. Im vorliegenden Fall fehlten Übergangszonen; die Wohnhausanlage sei nur durch die Herbortstraße von ihrer Fabriksanlage getrennt. Im Zusammenhang mit der Praxis, im gemischten Baugebiet sogenannte Übergangs- oder Freizonen zur Ausschaltung von Interessenkollisionen zu schaffen, habe sie davon ausgehen können, daß wegen des Fehlens einer solchen Übergangszone die Errichtung eines Wohngebäudes nicht bewilligt werden würde, wohl aber unter Umständen die Errichtung eines gewerblichen Betriebes.

c) Der Verfassungsgerichtshof kann dieser Auffassung der Beschwerdeführerin jedoch schon deshalb nicht beipflichten, weil - wie sie selbst erkennt - die BauO f. Wien keine dem § 16 Abs 2 des OÖ Raumordnungsgesetzes entsprechende, für die inhaltliche Gestaltung der Flächenwidmungspläne maßgebende Anordnung enthält. Dazu kommt (wenn man von diesem Unterschied in den (landes-)gesetzlichen Regelungen absieht und bloß allgemeine Grundsätze der Flächenwidmung ins Auge faßt), daß die im bezogenen Verordnungsprüfungsfall gegeben gewesene Lage nicht gleichsam schematisch auf die Situation im regelmäßig eng verbauten großstädtischen Bereich übertragen werden kann, welche das Nebeneinanderbestehen verschiedener Nutzungsformen des Grund und Bodens in einer weitaus intensiveren Weise erfordert.

2. Im Ergebnis erweist sich die Beschwerde aber als gerechtfertigt, weil der belangten Behörde ein in die Verfassungssphäre reichender Vollzugsfehler unterlaufen ist.

a) Die Bauoberbehörde stützte ihre Entscheidung in meritorischer Hinsicht auf den (die zulässige Nutzung im Widmungsgebiet) betreffenden Abs 8 des § 6 der BauO f. Wien, der folgenden Wortlaut hat:

"(8) In gemischten Baugebieten dürfen keine Gebäude oder Anlagen errichtet werden, die geeignet sind, durch Rauch, Ruß, Staub, schädliche oder üble Dünste, Niederschläge aus Dämpfen oder Abgasen, Geräusche, Wärme, Erschütterungen oder sonstige Einwirkungen, Gefahren oder unzumutbare Belästigungen für die Nachbarschaft herbeizuführen."

Anscheinend im Gegensatz zur Baubehörde erster Instanz nahm die Berufungsbehörde an, daß die wiedergegebene Bestimmung ausschließlich die Emissionswirkungen des Bauvorhabens, nicht aber Immissionen auf das Projekt zum Gegenstand hat, die von einem in der Nachbarschaft bestehenden Betrieb ausgehen. Dieses strikt am Wortlaut haftende Gesetzesverständnis kann der Verfassungsgerichtshof jedoch nicht billigen. Es ist nicht zweifelhaft, daß die in Rede stehende Vorschrift einen allgemeinen Grundsatz zum Ausdruck bringt, der insbesondere die Qualität der Wohnverhältnisse sicherstellen will. Erfaßt man die Regelung nach diesem evidenten Zweck, so fehlte es an der sachlichen Rechtfertigung für die Annahme, daß eine vom Gesetz verpönte schwerwiegende Beeinträchtigung ausschließlich dann zu unterbinden ist, wenn die Quelle der Emissionen geschaffen werden soll, nicht hingegen in dem bloß durch die zeitliche Abfolge verschiedenen Fall, daß sie bereits besteht und erst durch die Errichtung von Wohnhäusern ihre beeinträchtigende Wirkung entfalten kann. Diese Erwägungen gebieten es, § 6 Abs 8 der BauO f. Wien ausdehnend dahin auszulegen, daß er überdies ein Verbot im eben dargelegten Sinn enthält. Eine in diese Richtung zielende Einwendung kann (auch) vom Inhaber eines Industriebetriebes als Nachbar i.S. des § 134 Abs 3 der BauO f. Wien erhoben werden, weil er mit Auflagen der Gewerbebehörde (gegebenenfalls mit weiteren Auflagen gemäß § 79 Abs 2 der Gewerbeordnung) zum Schutz der Nachbarschaft gegen Immissionen rechnen muß (vgl. dazu das schon zitierte Erk. VfSlg. 10703/1985).

b) Da die belangte Behörde von einem verfehlten, nämlich sachlich nicht begründbaren und daher gleichheitswidrigen Verständnis der zitierten Gesetzesstelle ausging, unterließ sie es, sich mit den von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwendungen inhaltlich auseinanderzusetzen; sie berücksichtigte weder die gegenwärtige sowie die in absehbarer Zeit (bedingt durch eine von der Beschwerdeführerin als erforderlich dargestellte Betriebserweiterung) künftig eintretende Lärmsituation noch die allfälligen gesundheitlichen Belastungen für Bewohner der geplanten Wohnhäuser und überdies auch nicht den (von ihr bloß illustrativ erwähnten) Umstand, daß die Raumgliederung der Wohnungen geändert und eine Isolierverglasung vorgesehen worden war.

Dieser - auf eine gleichheitswidrige Gesetzesauslegung zurückzuführende - Verfahrensmangel reicht in die Verfassungssphäre und muß zur Aufhebung des bekämpften Bescheides wegen Verletzung des Gleichheitsrechtes führen.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG; vom zugesprochenen Kostenbetrag entfallen 1.000 S auf die Umsatzsteuer.

III. Von einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG abgesehen.