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VfGH vom 28.02.1994, B1364/93

VfGH vom 28.02.1994, B1364/93

Sammlungsnummer

13673

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks wegen mangelnder Mittel für den Unterhalt und ausreichenden Krankenversicherungsschutzes sowie wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung oder Sicherheit; ausdrückliche und mit Begründung versehene Interessenabwägung der Behörde nicht erkennbar

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bundespolizeidirektion Wien versagte mit Bescheid vom gemäß § 10 Abs 1 Z 2 und 4 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, dem Beschwerdeführer (einem nigerianischen Staatsangehörigen) die beantragte Erteilung eines Sichtvermerkes.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

3. Die Bundespolizeidirektion Wien als jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, wurde um Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens ersucht; die Erstattung einer Gegenschrift wurde ihr freigestellt. Da die Behörde die Akten (trotz telefonischer Urgenz) nicht übermittelte und keine Gegenschrift erstattete, erkennt der Verfassungsgerichtshof gemäß § 20 Abs 2 VerfGG (auf welchen die Behörde ausdrücklich hingewiesen wurde) auf Grund der Behauptungen des Beschwerdeführers.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs 2 FrG).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2. § 10 Abs 1 Z 2 FrG normiert, daß die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen ist, wenn der Sichtvermerkswerber nicht über ausreichende eigene Mittel zu seinem Unterhalt oder nicht über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt.

Gemäß § 10 Abs 1 Z 4 FrG ist die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen, wenn der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

3. Der angefochtene Bescheid verletzt den Beschwerdeführer in dem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

a) Im Erkenntnis vom , G212-215/92 u.a. Zlen., Pkt. IV.3.a, hat der Verfassungsgerichtshof mit näherer Begründung ausgeführt:

"Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des § 25 Abs 3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen."

Sinngemäß Gleiches hat der Verfassungsgerichtshof im soeben zitierten Erkenntnis zu § 25 Abs 3 lite PaßG 1969 (Sichtvermerksversagung, weil der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet zu einer finanziellen Belastung der Republik Österreich führen könnte) dargetan.

Infolge der inhaltlichen Identität des § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 und § 10 Abs 1 Z 4 FrG (siehe hiezu ) und der vom Sinn her gegebenen Übereinstimmung zwischen § 25 Abs 3 lite PaßG 1969 und § 10 Abs 1 Z 2 FrG (s. oben, Pkt. 2.) kann die geschilderte, zum PaßG 1969 ergangene Judikatur auf die entsprechenden Bestimmungen des FrG übertragen werden.

b) Ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:

Der Beschwerdeführer hat enge familiäre Bindungen in Österreich: Er ist mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet, mit der - den Beschwerdeausführungen zufolge - persönliche Bindungen in Form einer Lebensgemeinschaft bereits vor der Eheschließung bestanden. Der Beschwerdeführer hält sich seit 1991 in Österreich auf.

Die belangte Behörde führt in diesem Zusammenhang lediglich aus, daß sie zur Überzeugung gekommen sei, der Aufenthalt des Beschwerdeführers gefährde (offenbar wegen einiger gegen ihn verhängter Verwaltungsstrafen) die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit; die am erfolgte Eheschließung mit einer österreichischen Staatsbürgerin ändere daran nichts.

Diese Behauptung läßt nicht erkennen, ob die Behörde eine Interessenabwägung - wie dies Art 8 EMRK nach dem oben (lita) Gesagten verlangt - vorgenommen hat; es fehlt der Behauptung nämlich jegliche Begründung. Beim gegebenen Sachverhalt durfte eine (ausdrückliche und mit Begründung versehene) Interessenabwägung nicht etwa deshalb entfallen, weil von vornherein festgestanden wäre, daß sie jedenfalls zum Nachteil des Fremden ausgehen würde.

Der Beschwerdeführer wurde also durch den angefochtenen Bescheid in seinem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt.

Der angefochtene Bescheid war schon allein deshalb aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.