OGH 11.10.2016, 10ObS123/16k
Rechtssatz
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Normen | BPGG allg Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates 32004R0883 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Art3 Abs1 lita |
RS0131276 | Pflegegeld nach dem BPGG ist als „Leistung bei Krankheit“ im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 anzusehen. |
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 1 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge der Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 29/16k-25, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 17 Cgs 55/15z-22, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Akten werden dem Erstgericht mit dem Auftrag
zurückgestellt, die Wirksamkeit der an den Vertreter der Klägerin bereits erfolgten Zustellung der Revision zu prüfen und im Fall ihrer Bejahung wieder vorzulegen.
Sollte dies nicht möglich sein, wird dem Erstgericht aufgetragen, neuerlich eine Gleichschrift der Revision der beklagten Partei der Klägerin nachweislich zur allfälligen Erstattung einer Revisionsbeantwortung binnen 4 Wochen zuzustellen und die Akten nach Erstattung einer Revisionsbeantwortung oder fruchtlosem Verstreichen der Frist erneut dem Obersten Gerichtshof vorzulegen.
Text
Begründung:
Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Pensionsversicherungsanstalt, der Klägerin ab Pflegegeld gemäß § 4 Abs 2 Stufe 3 BPGG zu gewähren. Für die Klägerin trat im Verfahren erster Instanz ihr Schwiegersohn auf, der Vollmacht legte und – ungerügt – für die Klägerin verhandelte, sodass er ungeachtet des Fehlens eines erforderlichen Beschlusses gemäß § 40 Abs 2 Z 4 ASGG als Vertreter der Klägerin im Verfahren erster Instanz nach dieser Bestimmung anzusehen ist (8 ObA 54/09p).
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und sprach aus, dass die Revision gegen seine Entscheidung zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.
Das Erstgericht verfügte am die Zustellung der Revision der Beklagten an die Klägerin zur allfälligen Erstattung einer Revisionsbeantwortung. Die Revision wurde an den Vertreter der Klägerin durch Hinterlegung zur Abholung ab zugestellt und am unbehoben an das Erstgericht retourniert. Der Vertreter der Klägerin teilte dem Erstgericht am telefonisch mit, dass er vom bis nicht in Österreich war.
In einem Telefonat vom teilte die Vorsitzende dem Vertreter „die Sachlage mit“. Der Vertreter gab der Vorsitzenden gegenüber an, „ohnehin keine Stellungnahme zur Revision der Beklagten abgeben zu wollen“. Die Vorsitzende teilte dem Vertreter der Klägerin mit, dass sie ihm die Revision noch einmal „einfach“ zustellen werde, dass sie den Akt aber „aufgrund der abgelaufenen Frist zur Erstattung der Revisionsbeantwortung“ dem Obersten Gerichtshof sofort vorlegen werde. Mit dieser Vorgangsweise war der Vertreter der Klägerin einverstanden.
Das Erstgericht verfügte am die neuerliche Zustellung der Revision an den Vertreter der Klägerin mit „Fensterkuvert“ und legte die Revision der Beklagten im Wege des Berufungsgerichts dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung vor.
Rechtliche Beurteilung
Die Aktenvorlage ist verfrüht.
1. Gemäß § 507a Abs 1 ZPO steht es dem Revisionsgegner frei, binnen der Notfrist von vier Wochen ab der – hier gemäß § 507a Abs 2 Z 1 ZPO durch das Prozessgericht vorzunehmenden – Zustellung der Revisionsschrift, eine Revisionsbeantwortung mittels Schriftsatzes zu überreichen. Durch das Recht, die Revision zu beantworten, soll das rechtliche Gehör des Revisionsgegners gewahrt werden. Die Anhörung des Rechtsmittelgegners vor der Entscheidung in letzter Instanz ist von besonderer Bedeutung, ist doch deren Rechtsmittelentscheidung endgültig (1 Ob 186/07w; Zechner in Fasching/Konecny² IV/1 § 507a Rz 1).
2.1 Ein Nachweis über die Zustellung der Revision an den Vertreter der Klägerin (§ 93 ZPO) liegt jedoch im vorliegenden Fall nicht mit Sicherheit vor, weil der Vertreter der Klägerin angegeben hat, zum Zeitpunkt der Zustellung im Ausland gewesen zu sein und erst nach Ablauf der Abholfrist an die Abgabestelle zurückgekommen zu sein (§ 17 Abs 3 ZustG; vgl nur Gitschthaler in Rechberger, ZPO4 § 87 [§ 17 ZustG] Rz 8, 9 mwH). Aus dem Akteninhalt ergibt sich kein Hinweis, ob oder wann dem Vertreter der Klägerin die Revision tatsächlich zugekommen ist.
2.2 Zweifelhafte Prozesserklärungen sind zugunsten der Wahrung des Grundsatzes des Parteiengehörs auszulegen (2 Ob 25/07a; RIS-Justiz RS0042208 [T4, T6]). Schon vor diesem Hintergrund kann aus der – überdies bloß fernmündlichen – Angabe des Vertreters der Klägerin, er wolle „ohnehin keine Stellungnahme“ zur Revision abgeben, kein Verzicht auf die Erstattung einer Revisionsbeantwortung abgeleitet werden. Eine solche „Stellungnahme“ des Vertreters der Klägerin wäre überdies wegen der im Revisionsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof herrschenden absoluten Anwaltspflicht (§§ 507 Abs 4 iVm 506 Abs 1 Z 4 ZPO) unbeachtlich.
3. Das Erstgericht wird daher einen Nachweis über eine bereits erfolgte Zustellung der Revision der Beklagten an die Klägerin vorzulegen haben. Sollte dies nicht möglich sein, wird das Erstgericht eine Gleichschrift der Revision der Beklagten der klagenden Partei (nachweislich) zuzustellen haben. In diesem Fall ist der Akt erst nach Einlangen einer Revisionsbeantwortung oder nach fruchtlosem Ablauf der Revisionsbeantwortungsfrist wieder vorzulegen.
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge der Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 29/16k-25, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 17 Cgs 55/15z-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil lautet:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ab dem Pflegegeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren, wird abgewiesen.“
Text
Entscheidungsgründe:
Die 1920 geborene Klägerin ist schwedische Staatsbürgerin. Sie lebt seit 1968 in Österreich, wo sie seither ihren Lebensmittelpunkt hat. Der verstorbene Ehegatte der Klägerin war bei den Vereinten Nationen beschäftigt. Nach ihm bezieht die Klägerin eine Witwenpension von den Vereinten Nationen. Darüber hinaus bezieht die Klägerin eine Mindestpensionsleistung aus Schweden.
Die Klägerin ist nicht in Österreich krankenversichert, sondern unterliegt der schwedischen Krankenversicherung. Sie erhält keine mit dem österreichischen Pflegegeld vergleichbaren Geldleistungen aus Schweden. Schweden leistet Wohnbeiträge und Altersversorgungsunterstützung, dies aber lediglich für in Schweden lebende Pensionisten.
Die Klägerin beantragte am bei der Beklagten die Gewährung von Pflegegeld. Mit dem angefochtenen Bescheid vom lehnte die Beklagte diesen Antrag ab.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage, mit der die Klägerin die Zuerkennung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß begehrt. Schweden gewähre seinen Bürgern Unterstützung nur unter der Voraussetzung, dass diese in Schweden lebten. Die Klägerin lebe aber seit 1968 ununterbrochen in Österreich und beziehe auch Leistungen aus der österreichischen Krankenversicherung.
Die Beklagte wandte dagegen wie im angefochtenen Bescheid ein, dass die Klägerin keine österreichische Grundleistung beziehe und Schweden zur Erbringung von Pflegeleistungen zuständig sei. Die Klägerin erfülle daher nicht die Anspruchsvoraussetzungen des § 3a Abs 1 BPGG.
Das Erstgericht sprach der Klägerin Pflegegeld der Stufe 3 nach dem BPGG in Höhe von monatlich 442,90 EUR ab dem zu. Die Klägerin beziehe zwar keine Grundleistung im Sinn des § 3 Abs 1 BPGG. Sie halte sich jedoch seit mehr als 40 Jahren in Österreich auf und verfüge über ausreichende finanzielle Mittel, sodass ihr ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukomme. Österreich sei für die Gewährung von Pflegegeld als Wohnmitgliedstaat zuständig. Aufgrund des für die Klägerin erforderlichen Pflegeaufwands bestehe ein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 3.
Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Die Mitgliedstaaten seien zwar zuständig und frei in der Festlegung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme sozialer Leistungen. Allerdings seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Anspruch so zu formen, dass er den Anforderungen des Primärrechts standhält. Dies treffe auf § 3a Abs 1 BPGG nicht zu, weil diese Bestimmung auf den gänzlichen Ausschluss des durch das nationale Recht eingeräumten Anspruchs für den Fall der mangelnden Zuständigkeit Österreichs nach der Koordinierungsverordnung ziele.
Im Fall der Klägerin sei gemäß Art 29 iVm Art 21 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: VO 883/2004) Schweden zur Gewährung von Geldleistungen bei Krankheit zuständig. Die Klägerin sei daher nur infolge der in § 3a Abs 1 BPGG enthaltenen Verweisung auf die Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 vom Bezug österreichischen Pflegegeldes ausgeschlossen. § 3a Abs 1 BPGG bewirke daher eine mittelbare Diskriminierung wegen der Staatsbürgerschaft, weil diese Bestimmung weit überwiegend Unionsbürger mit ausschließlich fremdmitgliedstaatlicher Pension (Rente) vom Bezug österreichischen Pflegegeldes ausschließe, also jene Personengruppe, die vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe. Die derart bewirkte mittelbare Diskriminierung sei einer Rechtfertigung im vorliegenden Fall nicht zugänglich, weil der langjährige Aufenthalt der Klägerin eine hinreichende Verbindung zum Aufenthaltsstaat Österreich belege. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.
Die Klägerin hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Klägerin keine der in § 3 Abs 1 Z 1 bis 10 BPGG genannten Grundleistungen beziehe, ist zutreffend. Die Klägerin kann ihren Anspruch daher nicht auf § 3 Abs 1 BPGG stützen.
2.1 Auf den Anspruch der Klägerin ist § 3a BPGG in der Fassung BGBl I 2015/12 anwendbar (§ 49 Abs 25 BPGG). Im Revisionsverfahren ist nicht strittig, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und infolge ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts österreichischen Staatsbürgern gemäß § 3a Abs 2 Z 3 BPGG gleichgestellt ist.
2.2 Weitere – negative – Anspruchsvoraussetzung gemäß § 3a Abs 1 BPGG ist, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist.
2.3 Stichtag für die von der Klägerin begehrte Leistung ist im vorliegenden Fall gemäß § 9 Abs 1 BPGG der , sodass der zeitliche Anwendungsbereich der seit geltenden VO 883/2004 eröffnet ist.
2.4 Die Klägerin ist schwedische Staatsangehörige, hat aber ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich und begehrt die Zuerkennung einer Leistung des österreichischen Systems der Sozialen Sicherheit. Es liegt daher ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinn des Art 2 Abs 1 VO 883/2004 vor, sodass auch der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 für die Klägerin im vorliegenden Fall eröffnet ist.
2.5 Pflegegeld nach dem BPGG ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als „Leistung bei Krankheit“ im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 anzusehen (EuGH C-215/99, Jauch, Rn 28; C-286/03, Hosse, Rn 38; C-388/09, da Silva Martins, Rn 45). Damit ist auch der sachliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet.
2.6 Die Klägerin geht als Pensionistin keiner Beschäftigung nach. Nach der allgemeinen Regelung des Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 wäre für die Klägerin allerdings nur dann Österreich als Wohnmitgliedstaat zuständig, wenn dem nicht anders lautende Bestimmungen der VO 883/2004 entgegenstehen.
2.7 Eine Leistung bei Krankheit wie das Pflegegeld nach dem BPGG zählt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den in Art 19 Abs 1 lit a der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (in weiterer Folge nur mehr: VO 1408/71), genannten Geldleistungen (EuGH C-251/99, Jauch, Rn 35). Es ist daher auch als Geldleistung im Sinn der Art 21 ff VO 883/2004 anzusehen.
2.8 Nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO 883/2004 ist für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnsitzstaat zuständig. Zutreffend ist das Berufungsgericht daher zu dem Ergebnis gelangt, dass im vorliegenden Fall für die Gewährung von Pflegegeld an die Klägerin nach der VO 883/2004 die Zuständigkeit Schwedens gegeben ist.
3.1 Zur Bestimmung des § 3a Abs 1 BPGG in der hier anzuwendenden Fassung führte der Oberste Gerichtshof am in der Entscheidung 10 ObS 83/16b mit ausführlicher Begründung auszugsweise aus:
„Aus der zu Familienleistungen ergangenen Rechtsprechung des EuGH zur Überlagerung der Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 durch Primärrecht (, Bosmann, ECLI:EU:C:2008:290; , C-611/10 und C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, ECLI:EU:C:2012:339) hat der Oberste Gerichtshof in drei Entscheidungen zu § 3a BPGG in der Fassung vor der Novelle BGBl I 2015/12 abgeleitet, dass der Umstand, dass nach Unionsrecht ein anderer Mitgliedstaat der für Geldleistungen bei Krankheit zuständige Staat sei, einem Anspruch auf Pflegegeld nach dem BPGG nicht entgegenstehe, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nach dem nationalen Recht erfüllt sind (10 ObS 2/14p, SSV-NF 28/38; 10 ObS 36/14p, SSV-NF 28/39 = DRdA 2015/23, 186 [Pfalz]; 10 ObS 86/14s).
…
5.2. Als Konsequenz dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit der Novelle BGBl I 2015/12 § 3a Abs 1 BPGG um die negative Anspruchsvoraussetzung ergänzt, dass Österreich nur zur Leistung verpflichtet ist, wenn nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist.
Die Änderung des § 3a BPGG beruhte auf einem Initiativantrag. In den Materialien wird darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung nur das Recht einräumt, trotz Unzuständigkeit eine Leistung zu gewähren; dabei handle es sich jedoch um keine unabwendbare Verpflichtung. Durch die vorgeschlagene Änderung des § 3a BPGG solle klargestellt werden, dass Österreich nur dann zur Leistung von Pflegegeld verpflichtet ist, wenn nicht ein anderer Staat aufgrund der VO 883/2004 für die Pflegeleistungen im Rahmen der Koordination als Leistung bei Krankheit zuständig ist (IA 883/A BlgNR 25. GP 29).
5.3. Pfalz geht in seiner Glosse zu OGH 10 ObS 36/14p auf § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 ein und spricht davon, dass der österreichische Gesetzgeber als Konsequenz der EuGH- und der OGH-Rechtsprechung die an sich unmittelbar anwendbaren Kollisionsvorschriften der VO 883/2004 'in gewisser Weise in nationales Recht transformierte'. Die Unionsrechtskonformität des § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 wird von ihm bejaht (Pfalz, DRdA 2015, 189). Die Zulässigkeit einer solchen Regelung wird demgegenüber von Jorens/Van Overmeiren bezweifelt, die die Vermutung äußern, dass eine solche Bestimmung als mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit beurteilt werden könnte (Jorens/Van Overmeiren, Allgemeine Prinzipien der Koordinierung der Verordnung 883/2004, in Eichenhofer [Hrsg], 50 Jahre nach ihrem Beginn – Neue Regeln für die Koordinierung sozialer Sicherheit [2009] 105 [139]).
5.4. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 nur einen sehr geringen Anwendungsbereich hat, da die Bestimmung nun auf die Zuständigkeit nach der VO 883/2004 abstellt, also eine Leistung nur gewährt, wenn ohnehin eine Zuständigkeit Österreichs nach der Verordnung besteht. In Übereinstimmung mit Pfalz ist die Unionsrechtskonformität des § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 zu bejahen, zumal mit der Novelle die Rechtslage vor den – den Zuständigkeitsregeln der Verordnung entgegenstehenden – Entscheidungen des EuGH und des Obersten Gerichtshofs wiederhergestellt wurde. Diese Maßnahme steht in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, da dieser den Mitgliedstaaten lediglich das Rech – und nicht die Pflicht – einräumt, über die Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 hinaus Leistungen nach nationalem Recht zu gewähren (so auch IA 883/A BlgNR 25. GP 29).“
3.2 Diese Überlegungen kommen auch im vorliegenden Fall zur Anwendung. Der Oberste Gerichtshof hat darüber hinaus in der genannten Entscheidung 10 ObS 83/16b begründet, dass für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach § 3a Abs 1 BPGG allein die Kollisionsregeln nach Art 11 ff der VO 883/2004 heranzuziehen sind.
4.1 Ausgehend davon erfüllt die Klägerin im vorliegenden Fall entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht die Anspruchsvoraussetzungen des § 3a Abs 1 BPGG, weil Österreich nach dieser Bestimmung für die Gewährung von Pflegegeldleistungen nicht zuständig ist. Eine vom Berufungsgericht angenommene mittelbare Diskriminierung der Klägerin wegen der Staatsbürgerschaft liegt – über die schon in 10 ObS 83/16b genannten Argumente hinaus – aus folgenden Gründen nicht vor:
4.2 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat – worauf die Beklagte in ihrer Revision zutreffend hinweist – auch in seiner jüngeren Rechtsprechung daran festgehalten, dass Art 48 AEUV nur eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsieht. Jeder Mitgliedstaat bleibt daher dafür zuständig, im Einklang mit dem Unionsrecht in seinen Rechtsvorschriften festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen eines Systems der sozialen Sicherheit gewährt werden (EuGH C-611/10, 612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Rn 42 mwH). Ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat kann hinsichtlich der Auswirkungen auf Leistungen der sozialen Sicherheit für die betroffene Person daher Vor- und Nachteile haben (EuGH C-208/07, Chamier-Glisczinski, Rn 85).
4.3 Darüber hinaus hat der Gerichtshof der Europäischen Union auch in seiner jüngeren Rechtsprechung daran festgehalten, dass nach dem in Art 11 Abs 1 Satz 1 VO 883/2004 normierten zentralen Prinzip Personen, für die die VO 883/2004 gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Ziel dieses Prinzips ist es einerseits zu verhindern, dass eine Person ohne sozialen Schutz bleibt, andererseits sollen das Zusammentreffen von Leistungen mit gleicher Zielrichtung sowie die Belastung mit doppelten Beiträgen vermieden werden (EuGH C-302/84, Ten Holder, Rn 19; C-60/85, Luijten, Rn 12). Die Anwendung der VO 883/2004 darf daher zwar nicht zum Verlust von Ansprüchen führen, die allein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erworben wurden. Dieser Grundsatz kann jedoch nicht bewirken, dass der Betroffene entgegen Art 11 Abs 1 VO 883/2004 für einen bestimmten Zeitraum nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten – unabhängig von Beitragspflichten und anderen sich für ihn daraus eventuell ergebenden Verpflichtungen – versichert ist (EuGH C-302/84, Ten Holder, Rn 22; C-60/85, Luijten, Rn 15; unter ausdrücklicher Berücksichtigung dieser beiden Entscheidungen daran festhaltend EuGH C-352/06, Bosmann, Rn 16, 17; C-388/09, da Silva Martins, Rn 53; C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Rn 41; C-382/13, Franzen ua, Rn 41–43).
4.4 Infolge des Koordinierungsrechts verlieren die Mitgliedstaaten ihre Rechtssetzungsmacht nur auf jenen Teilgebieten des Sozialrechts, die im Verhältnis der Mitgliedstaaten den internationalen Geltungsbereich nationalen Sozialrechts sowie die Sicherungen der internationalen Wirkungen nationalen Sozialrechts regeln. Die Mitgliedstaaten können daher nicht bestimmen, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften oder die eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind, weil sie verpflichtet sind, die geltenden Vorschriften des Unionsrechts zu beachten (EuGH C-302/84, Ten Holder, Rn 21 mwH; C-60/85, Luijten, Rn 14). Mit diesen Grundsätzen steht § 3a Abs 1 BPGG aber im Einklang, weil Österreich Pflegegeldleistungen nach dieser Bestimmung ohnehin in allen Fällen gewährt, in denen seine Zuständigkeit nach den Kollisionsnormen der VVO 883/2004 gegeben ist.
4.5 Als mittelbar diskriminierend sind gemäß Art 4 VO 883/2004 Voraussetzungen des nationalen Rechts anzusehen, die zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber im Wesentlichen oder ganz überwiegend Wanderarbeitnehmer betreffen, sowie unterschiedslos geltende Voraussetzungen, die von inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfüllen sind als von Wanderarbeitnehmern, oder auch solche, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich besonders zum Nachteil von Wanderarbeitnehmern auswirken (EuGH C-237/94, O'Flynn, Rn 18 mzwH noch zu Art 3 VO 1408/71). Diese Grundsätze lassen sich auch auf in den Schutzbereich der VO 883/2004 einbezogene wirtschaftlich inaktive Unionsbürger, die von ihrer unionsrechtlichen Freizügigkeit Gebrauch machen, anwenden.
4.6 Aus der schon zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich lediglich ableiten, dass ein Mitgliedstaat einen Leistungsanspruch nicht allein mit der Begründung verneinen kann, dass er nach dem Unionsrecht zu seiner Gewährung nicht zuständig sei, wenn der Anspruchswerber alle Anspruchsvoraussetzungen nach nationalem Recht erfüllt. Wie ausgeführt ist dies aber hier nicht der Fall: Denn die Klägerin erfüllt nicht alle Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 3a Abs 1 BPGG, weil Österreich in unionsrechtlich zulässiger Weise einen solchen Anspruch nur solchen Unionsbürgern gewährt, für die seine Zuständigkeit für Pflegegeldleistungen ohnehin gegeben ist. Ein österreichischer Staatsbürger in der Situation der Klägerin würde nach § 3a Abs 1 BPGG nicht anders behandelt werden als die Klägerin, auch er erhielte bei fehlender Zuständigkeit Österreichs nach der VO 883/2004 kein österreichisches Pflegegeld nach dieser Bestimmung. Umgekehrt ist die Klägerin durch diese Bestimmung leistungsmäßig durch die Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit nicht schlechter gestellt, als ginge sie nach Schweden zurück: sie erhielte in beiden Fällen Pflegegeldleistungen des für sie nach der VO 883/2004 zuständigen Mitgliedstaats (bzw erhielte sie im konkreten Fall in beiden Fällen keine Pflegegeldleistungen, weil Schweden diese auch innerstaatlich nicht gewährt, vgl die gemäß Art 34 Abs 2 VO 883/2004 von der Verwaltungskommission vorgelegte Liste der Geldleistungen und Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit, abrufbar in englischer Sprache über: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=868).
Der Revision war daher Folge zu geben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren abzuändern und das Klagebegehren abzuweisen.
Die Parteien haben im Verfahren keine Kosten geltend gemacht, sodass eine Kostenentscheidung zu entfallen hatte.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
Schlagworte | Sozialrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00123.16K.1011.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
RAAAD-82580