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VfGH vom 10.06.1988, B1342/87

VfGH vom 10.06.1988, B1342/87

Sammlungsnummer

11696

Leitsatz

Beginn des Laufes der Beschwerdefrist mit Zustellung der Bescheidausfertigung; Zulässigkeit der Beschwerdeerhebung nach mündlicher Verkündung des Bescheides; Zurückweisung der (zweiten) nach Zustellung der schriftlichen Bescheidausfertigung erhobenen Beschwerde - Verbrauch des Beschwerderechts

Art140 Abs 7 B-VG; Fälle, die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung mit Beginn der nichtöffentlichen Beratung) anhängig waren, einem Anlaßfall gleichzuhalten; Rechtsverletzung durch den angefochtenen Bescheid, soweit damit auf Verfall von Gegenständen erkannt wird, wegen Anwendung des mit Erk. VfSlg. 11587/1987 als verfassungswidrig erkannten § 17 Abs 2 lita FinStrG; Gesetzesanwendung für die Rechtstellung des Bf. offenkundig nachteilig

Berufungssenate sind Tribunale; Ermächtigung, Gesetzesprüfungsanträge an den VfGH zu stellen nicht Voraussetzung für die Quantifikation einer Behörde als Tribunal

Spruch

1. zu B1339/87: Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden, soweit mit dem Bescheid auf den Verfall von Gegenständen erkannt wird. In diesem Umfang wird der Bescheid aufgehoben.

Im übrigen ist der Bf. durch den bekämpften Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden. In diesem Umfang wird die Beschwerde abgewiesen.

Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, den Bf. zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

2. zu B1342/87: Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Spruchsenat des Hauptzollamtes Feldkirch erkannte den Bf. mit Bescheid vom schuldig, dadurch das Finanzvergehen des versuchten Schmuggels nach § 35 Abs 1 des Finanzstrafgesetzes, BGBl. 129/1958, idF der Nov. 532/1984 (FinStrG) iVm § 13 FinStrG begangen zu haben, daß er am anläßlich seiner Einreise in das österreichische Zollgebiet beim Zollamt Höchst Schmuck und Textilien im Gesamtwert von 84.176 S vorsätzlich unter Verletzung seiner zollrechtlichen Stellungs- und Erklärungspflicht dem Zollverfahren zu entziehen versucht habe. Über den Bf. wurde nach § 35 Abs 4 FinStrG eine Geldstrafe von 20.000 S (Ersatzfreiheitsstrafe: eine Woche) verhängt. Gemäß § 35 Abs 4 iVm § 17 (Abs2 lita) FinStrG wurde auf Verfall der beschlagnahmten Schmuckgegenstände und Textilien im Wert von S 75.495,17 erkannt.

Der Berufungssenat der Finanzlandesdirektion für Vorarlberg (FLD) gab der dagegen vom Bf. erhobenen Berufung insofern Folge, als er die verhängte Strafe auf 12.000 S (Ersatzfreiheitsstrafe: 5 Tage) herabsetzte; im übrigen gab er der Berufung keine Folge. Dieser Bescheid wurde anläßlich der Berufsverhandlung am mündlich verkündet. Die schriftliche Ausfertigung (ohne Datum) wurde dem Beschwerdevertreter am zugestellt.

2. Die zu B1339/87 erhobene Beschwerde wendet sich gegen den (zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung noch nicht schriftlich ausgefertigten), am mündlich verkündeten Berufungsbescheid der FLD.

Die zu B1342/87 erhobene Verfassungsgerichtshofbeschwerde richtet sich gegen den Bescheid der FLD, "verkündet am , zugestellt am ".

Beide Beschwerden werden auf Art 144 (Abs1) B-VG gestützt. Es wird die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Unversehrtheit des Eigentums und auf ein faires Verfahren (Art6 MRK) sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen behauptet. In beiden Beschwerden wird die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt.

3. Die FLD als bel. Beh. erstattete eine Gegenschrift, in der der Sache nach beantragt wird, die zu B1342/87 erhobene Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen, im übrigen aber die angefochtene Entscheidung nur im Umfang des Verfallsausspruches als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Der VfGH hat zur Zulässigkeit der Beschwerden erwogen:

1. Die Berufungsentscheidung der FLD erlangte durch die am erfolgte mündliche Verkündung Eingang in die Rechtsordnung. Seither hatte die Partei des Verfahrens (der Beschuldigte) das Recht, Beschwerde an den VfGH zu erheben, auch wenn die sechswöchige Beschwerdefrist (§82 Abs 1 VerfGG) erst mit Zustellung der schriftlichen Bescheidausfertigung zu laufen begann (vgl. zB VfSlg. 9068/1981, 9655/1983).

Die zu B1339/87 (zum Zeitpunkt, als die schriftliche Ausfertigung des Berufungsbescheides der FLD noch nicht zugestellt war) erhobene Beschwerde ist, da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.

2. Bei dem zu B1342/87 (nach Zustellung der schriftlichen Ausfertigung bekämpften) Bescheid handelt es sich um denselben, der bereits zu B1339/87 angefochten worden war. Mit der Einbringung der ersten Beschwerde war das Beschwerderecht verbraucht (vgl. zB Zl. 85/01/0033, Zl. 85/06/0064).

Dementsprechend war die zu B1342/87 erhobene Beschwerde gemäß § 19 Abs 3 Z 2 lita VerfGG (in nichtöffentlicher Sitzung) zurückzuweisen.

III. In der Sache hat der VfGH zur - zulässigen (s.o. II.1.) - Beschwerde B1339/87 erwogen:

1.a) Der mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Verfall gründet sich vornehmlich auf § 17 Abs 2 lita FinStrG idF der Nov. 1984.

Der VfGH beschloß aus Anlaß anderer Beschwerden, von amtswegen gemäß Art 140 Abs 1 B-VG ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser bundesgesetzlichen Bestimmung einzuleiten. Mit Erkenntnis VfSlg. 11587/1987, hob er § 17 Abs 2 lita FinStrG als verfassungswidrig auf.

b) Wie sich aus Art 140 Abs 7 B-VG ergibt, wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlaßfall zurück. Es ist darum so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zur Zeit der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem im Art 140 Abs 7 B-VG genannten Anlaßfall im engeren Sinn (anläßlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist) sind all jene Fälle gleichzuhalten, die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung mit Beginn der nichtöffentlichen Beratung) bereits anhängig waren (VfSlg. 10616/1985).

Die mündliche Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren fand am statt.

Die vorliegende Beschwerde ist beim VfGH am - also noch vor der Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren - eingelangt.

Nach dem Gesagten ist der Fall daher einem Anlaßfall gleichzuhalten.

Die bel. Beh. wendete bei Erlassung des angefochtenen Bescheides die als verfassungswidrig befundene Vorschrift an. Nach der Lage des Falles ist es offenkundig, daß diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Bf. nachteilig war.

Es ist daher auszusprechen, daß der Bf. durch den angefochtenen Bescheid, soweit damit auf den Verfall von Gegenständen erkannt wird, wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt wurde. In diesem Umfang wird der Bescheid aufgehoben (vgl. zB VfSlg. 10404/1985; ).

2.a) Der Bf. bekämpft auch den übrigen Bescheidteil. Er macht geltend, daß die in erster und zweiter Instanz entscheidenden Behörden (der Spruchsenat und der Berufungssenat) nicht auf eine dem Art 6 MRK entsprechenden Weise zusammengesetzt gewesen seien:

"Sowohl in erster als auch in zweiter Instanz wirkte im Spruch bzw. im Berufungssenat als Mitglied jeweils ein Beamter des höheren Finanzdienstes mit. Eben diesem Finanzdienst gehört auch der Amtsbeauftragte an.

Außerhalb der Tätigkeit im Rahmen der Finanzstrafgerichtsbarkeit in Form der Spruchsenate stehen die genannten Personen als Finanzbeamte in einem Weisungsverhältnis.

Es müssen daher berechtigte Zweifel daran auftauchen, ob hier tatsächlich eine unparteiische Rechtsprechung gegeben ist, wenn es sich um Beteiligte handelt, die in ihrer sonstigen Tätigkeit weisungsgebunden sind. Dies gilt im besonderen für das Mitglied des als Organ der bel. Beh. tätigen Berufungssenates Hofrat Dr. L.

Wie der VfGH im Erk. , B489/82 entschieden hat, kommt es im Einzelfall nicht darauf an, ob dieses Mitglied dann tatsächlich unabhängig entschieden hat. Solcherart ist auch die durch die Verfassungsbestimmung des § 66 Abs 1 FinStrG (§66 Abs 2 FinStrG hat keinen Verfassungsrang !) normierte Weisungsgebundenheit (bloß) bei Ausübung dieses Amtes unbeachtlich.

Da im konkreten Fall die volle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Mitglieds des in letzter Instanz entscheidenden Berufungssenates unter diesen Umständen anzuzweifeln ist, wurde ich schon allein deshalb durch die Fällung des angefochtenen Erkenntnisses durch den Berufungssenat als Organ der bel. Beh. in meinem Recht auf ein faires Verfahren (Art6 MRK) verletzt.

Die mangelnde umfassende Tribunalqualität der bel. Beh. (ihres Berufungssenates als Organ) zeigt sich auch darin, daß die bel. Beh. nicht berechtigt ist, gem. Art 140 B-VG an den VfGH heranzutreten. Nach dem Standard im Zeitpunkt der Ratifikation der MRK durch Österreich war jedenfalls der in letzter Instanz in Strafsachen etnscheidende OGH berechtigt, einen Antrag im Gesetzesprüfungsverfahren an den VfGH zu stellen.

Wie der VfGH im Erk. , G24/83 ua, Slg. 10 291 ausgesprochen hat, ist das Verfahren nach dem FinStrG nicht vom Vorbehalt umfaßt, den Österreich anläßlich der Ratifikation der MRK abgegeben hat.

Daß diese Überlegungen nicht bloß theoretischer Natur sind, ergibt sich daraus, daß ich ganz konkret insoweit einer potentiellen Benachteiligung ausgesetzt bin, als es der bel. Beh. ungeachtet des Umstandes nicht möglich war, an den VfGH einen Antrag auf Prüfung des § 17 Abs 2 lita FinStrG zu stellen, daß im maßgeblichen Zeitpunkt die Einleitung des Normenkontrollverfahrens zu dieser Gesetzesstelle schon bekannt war."

b) Der VfGH hat im Erkenntnis VfSlg. 10638/1985 dargetan, daß die (in letzter Instanz entscheidenden) Berufungssenate Tribunale iS des Art 6 MRK sind. Diese Verfassungsbestimmung setzt für die Qualifikation einer Behörde als Tribunal nicht voraus, daß sie ermächtigt ist, (Gesetzesprüfungs-)Anträge an den VfGH zu stellen.

Der VfGH vertritt - in Übereinstimmung mit der EKMR und dem EGMR - die Auffassung (s. zB VfSlg. 11131/1986), daß Recht nicht nur gesprochen werden muß, sondern daß es auch augenscheinlich zu sein hat, daß Recht gesprochen wird; ein Tribunal müsse daher derart zusammengesetzt sein, daß keine berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit seiner Mitglieder entstehen. Bei der Beurteilung der Fairness eines Verfahrens sei auch der äußere Anschein von Bedeutung.

Das Verfahren hat keinen Hinweis dafür erbracht, an der vollen Unbefangenheit der Spruchkörper erster und zweiter Instanz zu zweifeln. Vielmehr ergibt sich aus der von der FLD erstatteten Gegenschrift und ihrem Geschäftsverteilungsplan (Stand ):

"Der als Berichterstatter auftretende HR Dr. L ist Vorstand der Geschäftsabteilung 3 der Finanzlandesdirektion (Zoll- und Grenzreferat). Der als Amtsbeauftragter einschreitende OR Dr. H H ist stellvertretender Abteilungsvorstand der Geschäftsabteilung 4 mit selbständiger Zeichnungsbefugnis u.a. für Finanzstrafsachen. Beide Beamte stehen weder ein einem Überoder Unterordnungsverhältnis zueinander noch besteht ein wie auch immer geartetes Weisungsverhältnis zwischen ihnen. Auf den beiliegenden Geschäftsverteilungsplan der Finanzlandesdirektion wird verwiesen.

........

Dasselbe trifft auch auf OR Mag. K H als Beamten des höheren Finanzdienstes des Spruchsenates beim Zollamt Feldkirch zu, der als Bediensteter des Finanzamts Feldkirch ebenfalls in keinerlei Über- oder Unterordnungsverhältnis zum Amtsbeauftragten OR Mag. H F steht. Mag. F gehört als Bediensteter des Zollamts Feldkirch einer vom Finanzamt völlig verschiedenen Organisationseinheit der Finanzverwaltung an; gegenseitige Weisungsrechte bestehen nicht."

Das Verfahren hat insgesamt keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Bf. durch den nicht den Verfall betreffenden Bescheidteil in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden wäre. In diesem Umfang war die Beschwerde abzuweisen.

3. All dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.