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OGH vom 08.09.2009, 10ObS121/09f

OGH vom 08.09.2009, 10ObS121/09f

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Christa Brezna (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Valentin G*****, vertreten durch Dr. Thomas Hufnagl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich- Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 135/08i-34, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 20 Cgs 120/07f-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausschließlich als Hilfsarbeiter tätig. Mit seinem eingeschränkten Leistungskalkül ist er noch in der Lage, als Parkgaragenkassier und Museumsaufseher mit einer täglichen Arbeitszeit von 4 bis 5 Stunden zu arbeiten. Im Stadtgebiet von Salzburg gibt es über 40 Arbeitsplätze in den beiden genannten Verweisungsberufen, in denen eine Teilzeitbeschäftigung möglich ist.

Der Kläger kann öffentliche Verkehrsmittel benutzen; eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln ist ihm jedoch nicht zumutbar. Ein Tagespendeln ist ihm dann möglich, wenn die Hin- und Rückreise insgesamt 1 ½ Stunden nicht wesentlich überschreitet. Die Reisezeit für eine Fahrtstrecke vom Wohnort zum Arbeitsort bzw retour sollte jeweils (nicht mehr als) etwa 45 Minuten betragen, wobei eine Überschreitung um etwa 5 bis 10 Minuten möglich ist. Der Kläger ist in der Lage, ein Kraftfahrzeug für eine Zeit von etwa 10 Minuten pro Fahrt zu lenken. Er besitzt den Führerschein der Klasse B und verfügt im Familienverband auch über ein Fahrzeug. Wenn er mit dem PKW von seinem Wohnort zur Lokalbahn-Haltestelle fährt, dann die Lokalbahn von L***** bis Salzburg und anschließend öffentliche Verkehrsmittel in Salzburg benützt, kann er den Großraum Salzburg in etwa 50 bis 60 Minuten erreichen.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab gerichtete Klagebegehren ab. Es traf insbesondere die eingangs wiedergegebenen wesentlichen Feststellungen und gelangte in seiner rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis, dass der Kläger nicht invalide im Sinne der für ihn maßgebenden Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG sei. Zur Einschränkung bei der Zurücklegung des Anmarschwegs führte das Erstgericht aus, dass ein Versicherter, der nicht in der Lage sei, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, zwar grundsätzlich nicht verpflichtet sei, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen. Wenn aber der Wohnort des Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel nur schlecht erschlossen sei, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, sei auch zu berücksichtigen, ob der Versicherte die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte bzw gegebenenfalls der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels in zumutbarer Weise mit dem privaten Kraftfahrzeug zurücklegen könne. Da der Kläger aufgrund seines Gesundheitszustands noch in der Lage sei, die Fahrt zwischen Wohnort und der Lokalbahn-Haltestelle mit dem Kraftfahrzeug zurückzulegen, könne ihm auch die Zureise zu den in der Stadt Salzburg gelegenen Arbeitsplätzen in den beiden in Betracht kommenden Verweisungsberufen zugemutet werden.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer unbedenklichen Beweiswürdigung. In rechtlicher Hinsicht verwies es auf den unstrittigen Umstand, dass im Familienverband des Klägers ein Fahrzeug vorhanden sei. Ob er über dieses auch (jederzeit) verfügen könne, sei nicht entscheidend, weil es am Kläger gelegen sei, die Möglichkeit der Anreise mit dem Fahrzeug vom Wohnort zur nächsten Haltestelle des öffentlichen Verkehrsmittels zu organisieren. Es sei daher nicht im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob der Versicherte fallweise ein bestimmtes Fahrzeug benützen dürfe, ob ein ihm gemeinsam mit seiner Ehegattin gehörendes Fahrzeug von dieser für ihre Berufsausübung unbedingt benötigt werde oder ob sie gemeinsam die Hin- bzw Rückreise vom Wohnort zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels bzw zurück antreten könnten. Dabei handle es sich nämlich um höchstpersönliche (familiäre) Umstände, welche bei der Beurteilung der Invalidität grundsätzlich außer Betracht zu bleiben hätten.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision gegen seine Entscheidung zulässig sei, weil - soweit ersichtlich - eine gesicherte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob im Einzelfall konkret zu prüfen sei, ob der Versicherte aufgrund seiner familiären Situation über ein Fahrzeug verfügen und damit den Weg von seinem Wohnort zur nächstgelegenen Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels bzw retour zurücklegen könne, nicht vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Soweit der Kläger in seinen Rechtsmittelausführungen die Ansicht vertritt, er könne aufgrund seines eingeschränkten medizinischen Leistungskalküls die von den Vorinstanzen genannten Verweisungstätigkeiten eines Parkgaragenkassiers und Museumsaufsehers nicht mehr verrichten, bekämpft er in unzulässiger Weise die Richtigkeit der von den Vorinstanzen getroffenen Tatsachenfeststellungen. Auch sein weiteres Vorbringen, er könne in der ihm aus gesundheitlichen Gründen noch zumutbaren Anreisezeit von höchstens 50 bis 55 Minuten keine entsprechenden Arbeitsplätze in den Verweisungsberufen in der Stadt Salzburg erreichen, lässt außer Betracht, dass die Anreisezeit in diesem Fall nach den Feststellungen der Vorinstanzen insgesamt 50 bis 60 Minuten beträgt und daher im medizinischen Leistungskalkül des Klägers Deckung findet, zumal wegen der den Kläger im Tatsachenbereich treffenden objektiven Beweislast (vgl 10 ObS 310/98f = SSV-NF 12/133) vom niedrigeren Wert, also von einer erforderlichen Anreisezeit von 50 Minuten, auszugehen ist. Damit wird auch die dem Kläger für die Hin- und Rückreise im Rahmen des Tagespendelns zumutbare Zeit von insgesamt 1 ½ Stunden nicht wesentlich überschritten.

Der Kläger macht in seinem Rechtsmittel jedoch zutreffend geltend, es hätte von den Vorinstanzen im konkreten Fall die Frage, ob ihm für die Anreise von seinem Wohnort zur nächstgelegenen Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels auch tatsächlich ein Fahrzeug zur Verfügung stehe, näher geprüft werden müssen. Die Rechtsprechung misst das Verweisungsfeld und die Anforderungen, die mit der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auch bezüglich der Erreichung des Arbeitsplatzes verbunden sind, grundsätzlich abstrakt an den Verhältnissen des gesamten österreichischen Arbeitsmarktes. Die Lage des Wohnorts im Einzelfall wird als persönliches Moment angesehen, das bei der Frage, ob Invalidität besteht, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben hat (vgl RIS-Justiz RS0084871). Daher wird es für zulässig gehalten, den Versicherten auf Arbeitsplätze im gesamten Bundesgebiet zu verweisen, sodass grundsätzlich nicht entscheidend ist, wie viele Arbeitsplätze im näheren Umkreis des Wohnsitzes des Versicherten zur Verfügung stehen (RIS-Justiz RS0084743 [T13]). Ist dem Versicherten aber - wie im vorliegenden Fall - (aus medizinischen Gründen) nur Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln möglich, kann von ihm nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht verlangt werden, durch entsprechende Wahl seines Wohnorts (Übersiedeln von einem abgelegenen Wohnort in einen verkehrsgünstigen Ort) oder Wochenpendeln die Bedingungen für das Erreichen des Arbeitsplatzes herzustellen, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind. In diesem Fall ist daher im Einzelfall konkret festzustellen, ob im Umkreis der dem Versicherten möglichen Gehstrecke, falls er ein öffentliches Verkehrsmittel benützen könnte, das innerhalb dieser Gehstrecke eine Zu- und Aussteigemöglichkeit bietet, in dem durch die Benützbarkeit des Verkehrsmittels erweiterten Umkreis, eine entsprechende Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen zur Verfügung steht. Ist der Wohnort durch öffentliche Verkehrsmittel schlecht aufgeschlossen und die Zurücklegung der Wege zum Arbeitsplatz oder zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel mit privaten Verkehrsmitteln üblich, so ist auch festzustellen, ob der Versicherte diese Wege in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen könnte (10 ObS 34/93 = SSV-NF 7/18).

In der ebenfalls bereits vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 10 ObS 153/02a (= SSV-NF 16/62) hat der Oberste Gerichtshof diese Grundsätze ausdrücklich wiederholt und die Frage, ob die (damalige) Klägerin den Weg zur und von der Arbeitsstätte bzw nächstgelegenen Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen konnte, mit der Begründung bejaht, dass der Ehemann der (damaligen) Klägerin an jenen (einzelnen) Tagen, an welchen er den PKW selbst (etwa für Einkaufsfahrten oder Arztwege) benötigt, seine Gattin in der Früh zur nächstgelegenen Autobushaltestelle bringen und am Abend dort wieder abholen könnte und die (damalige) Klägerin an den anderen Tagen mit dem PKW direkt zur Arbeitsstätte fahren könnte. In der Entscheidung 10 ObS 49/04k (= SSV-NF 18/80) hatte der erkennende Senat einen anders gelagerten Sachverhalt zu beurteilen. Es war zwar auch im Haushalt der (damaligen) Klägerin ein PKW vorhanden, es verfügte jedoch nur der Ehegatte der (damaligen) Klägerin über eine Lenkerberechtigung. Die (damalige) Klägerin selbst konnte weder Auto noch Moped fahren. Damit stand fest, dass die (damalige) Klägerin nicht mittels PKW oder Moped 4 bis 5 km zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zurücklegen konnte, es sei denn, sie wurde von ihrem Ehegatten täglich zur nächsten Haltestelle gebracht und wieder abgeholt. Die Absolvierung einer Fahrausbildung sowie Lenkerprüfung erschien der Klägerin ebenfalls nicht zumutbar. Bei diesem Sachverhalt teilte der erkennende Senat die Rechtsansicht des (damaligen) Berufungsgerichts, wonach die (damalige) Klägerin unter den gegebenen Umständen einen für sie in Betracht kommenden Arbeitsplatz in zumutbarer Weise nicht erreichen könne.

Im vorliegenden Fall könnte der Kläger bei Verwendung eines Kraftfahrzeugs für die Fahrt von seinem Wohnort zur nächstgelegenen Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels bzw zurück in der ihm für ein Tagespendeln zumutbarer Weise zur Verfügung stehenden Zeit entsprechende Arbeitsplätze in den Verweisungsberufen in der Stadt Salzburg erreichen. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist auch davon auszugehen, dass der Kläger in der Lage ist, ein Kraftfahrzeug zwischen seinem Wohnort und der nächstgelegenen Haltestelle zu lenken. Der Kläger verfügt über eine entsprechende Lenkerberechtigung und es ist im Familienverband ein Kraftfahrzeug vorhanden. Allein der Umstand, dass im Familienverband des Klägers ein Kraftfahrzeug vorhanden ist, sagt aber noch nichts darüber aus, ob dem Kläger dieses Kraftfahrzeug für die regelmäßig an jedem Arbeitstag erforderliche Fahrt von seinem Wohnort zur nächstgelegenen Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels und zurück auch tatsächlich zur Verfügung steht. Der Kläger ist zwar, wie bereits dargelegt wurde, im konkreten Fall grundsätzlich verpflichtet, ein ihm zur Verfügung stehendes Kraftfahrzeug für das Erreichen eines Arbeitsplatzes einzusetzen (vgl in diesem Sinne auch ; , 98/08/0355; , 99/08/0104 für den Bereich des Arbeitslosenversicherungsrechts). Wenn aber beispielsweise der andere Ehegatte das Kraftfahrzeug im Hinblick auf die für ihn maßgeblichen Verkehrsverbindungen berufsbedingt dringender benötigte als der Pensionswerber, müsste geprüft werden, ob der Beschäftigungsort nicht zumindest durch eine Kombination von Fahrgemeinschaft der Ehegatten und Benützung öffentlicher Verkehrsverbindungen erreicht werden kann (vgl ). Auf private Fahrgemeinschaften mit Arbeitskollegen darf ein Pensionswerber hingegen nicht verwiesen werden, weil in diesem Fall die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes nicht gewährleistet ist. Sie hängt einerseits von der fortdauernden Bereitschaft Dritter ab, die andererseits aber, wie beispielsweise im Urlaubs- und Krankheitsfall, nicht ständig verfügbar sind (vgl erneut ; , 98/08/0355). Eine Anschaffung eines (weiteren) Kraftfahrzeugs für die Erreichung des Arbeitsplatzes wird einem Pensionswerber nur dann zugemutet werden können, wenn die Anschaffungskosten zur Gänze oder fast zur Gänze von einem Sozialversicherungsträger übernommen werden (vgl 10 ObS 347/88 = SSV-NF 3/142).

Da das Erstgericht somit die entscheidungswesentliche Frage, ob dem Kläger an den Arbeitstagen ein Fahrzeug für die regelmäßig erforderliche Fahrt von seinem Wohnort zur nächstgelegenen Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels und zurück auch tatsächlich zur Verfügung steht, bisher mit den Parteien nicht erörtert und dazu auch keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat, erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig. Es waren daher die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.