VfGH vom 30.11.1993, B1320/93

VfGH vom 30.11.1993, B1320/93

Sammlungsnummer

13611

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ungültigerklärung eines Sichtvermerks wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit; denkunmögliche Gesetzesanwendung durch Unterlassung der gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bundespolizeidirektion Wien erklärte mit Bescheid vom gemäß § 11 Abs 1 iVm § 10 Abs 1 Z 4 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, den am dem Beschwerdeführer (einem Staatsangehörigen des früheren Jugoslawien) erteilten Sichtvermerk für ungültig.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

3. Die Bundespolizeidirektion Wien als jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor. Von der Erstattung einer Gegenschrift nahm sie Abstand.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs 2 FrG).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2.a) Gemäß § 11 Abs 1 FrG ist ein Sichtvermerk ungültig zu erklären, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden oder eintreten, welche die Versagung des Sichtvermerkes (§10 Abs 1 und 2 FrG) rechtfertigen würden.

Nach § 10 Abs 1 Z 4 FrG ist die Erteilung eines Sichtvermerkes dann zu versagen, wenn der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

b) Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , B302/93, dargetan, daß er gegen § 10 Abs 1 Z 4 FrG keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt.

3. Es verletzt jedoch der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführer in dem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

a) Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom , G212-215/92 u.a. Zlen., Pkt. IV.3.a, mit näherer Begründung ausgeführt:

"Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des § 25 Abs 3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen."

Gleiches gilt infolge seiner inhaltlichen Identität mit § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 (siehe das oben zitierte Erkenntnis vom , B302/93) auch für § 10 Abs 1 Z 4 FrG.

Es macht dabei keinen Unterschied, ob die Versagung eines Sichtvermerkes oder - wie im vorliegenden Beschwerdefall - die Ungültigerklärung eines bereits erteilten Sichtvermerkes auf die in Rede stehende Bestimmung des FrG gestützt wird.

b) Ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:

Der Beschwerdeführer ist ein minderjähriger, im Zeitpunkt der Bescheiderlassung seit zwei Jahren in Österreich lebender Schüler. Er hat enge familiäre Bindungen zu Österreich: Er wohnt seit seiner Einreise bei seinen (bereits seit längerer Zeit im Bundesgebiet ansässigen) Eltern, von denen er auch Unterhalt bezieht. Diese Umstände waren der belangten Behörde bekannt und werden im Bescheid zum Großteil auch ausdrücklich erwähnt. Die Behörde hat dennoch nicht die nach dem Gesagten (s. die vorstehende lita) gebotene Interessenabwägung vorgenommen. Die Behörde ging - wie deutlich aus dem vorletzten Satz der Begründung des angefochtenen Bescheides ("Aus diesem Grund ist der zwingende Sichtvermerksversagungsgrund gem. § 10 Abs 1 Zi. 4 FrG gegeben.") zu entnehmen ist - davon aus, sie habe bei Anwendung des § 11 Abs 1 iVm § 10 Abs 1 Z 4 FrG von einer Interessenabwägung abzusehen. Damit hat sie dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt (vgl. hiezu u.a. Zlen., sowie ). Die Interessenabwägung darf nämlich auch dann nicht unterbleiben, wenn die Gefährdung öffentlicher Interessen daraus abgeleitet wird, daß der Fremde gerichtlich strafbare Handlungen begangen hat.

Der angefochtene Bescheid war sohin wegen Widerspruchs zu Art 8 EMRK aufzuheben.

Die belangte Behörde wird im fortgesetzten Verfahren die bisher unterbliebene Interessenabwägung nachzuholen haben, deren Ergebnis der Verfassungsgerichtshof nicht vorwegzunehmen hat; es ist daher nicht ausgeschlossen, daß die Behörde im zweiten Rechtsgang zum selben Ergebnis wie im ersten Rechtsgang gelangt.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.