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VfGH vom 18.06.2003, B1312/02

VfGH vom 18.06.2003, B1312/02

Sammlungsnummer

16894

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs 1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom , Zl. MA 67-PA-646747/0/8, wurde der Beschwerdeführer bestraft, weil er am ein näher bezeichnetes Kraftfahrzeug in einer gebührenpflichtigen Kurzparkzone in Wien abgestellt habe, "ohne für seine Kennzeichnung mit einem ordnungsgemäß angebrachten Parkschein gesorgt zu haben, da im Fahrzeug ein nachgemachter Ausweis gemäß § 29b StVO (...) angebracht war und dadurch die Befreiung von der Entrichtung der Parkometerabgabe vorgetäuscht wurde". Da überdies "ein für den Beanstandungszeitpunkt gültig entwerteter Parkschein fehlte, wurde die Parkometerabgabe hinterzogen".

Wegen dieses Vergehens wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von ATS 3.000,- bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe von 72 Stunden verhängt.

2. In seiner gegen dieses Straferkenntnis erhobenen (als "Einspruch" bezeichneten) Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, daß es zwar den Tatsachen entspreche, daß das Fahrzeug ohne "Parkschein" abgestellt worden sei, und daß hinter der Windschutzscheibe ein "Behindertenausweis" (gemäß § 29b StVO 1960) angebracht war. Er bestritt jedoch ausdrücklich, daß es sich dabei um einen nachgemachten "Behindertenausweis" gehandelt habe. Er sei am inkriminierten Tag mit Frau S und deren Tochter Frau X unterwegs gewesen und es entbehre jeder Logik, daß er zu diesem Zweck einen "Behindertenausweis" nachmache, zumal Frau X einen solchen "Behindertenausweis" besitze.

3. Der Magistrat der Stadt Wien (Magistratsabteilung 67) legte die Berufung dem Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (UVS) zur Entscheidung vor und gab dabei bekannt, daß er auf "die Durchführung einer Verhandlung nicht verzichte".

4. Der UVS gab der Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Bescheid vom , Zl. UVS-05/K/41/2811/2001-2, keine Folge und traf seine Beweiswürdigung aufgrund des Akteninhalts, insbesondere aufgrund der im erstinstanzlichen Verfahren vorgenommenen Erhebungen.

5. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß Art 144 B-VG behauptet der Beschwerdeführer insbesondere die Verletzung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein mündliches Verfahren vor einem Tribunal bei der Entscheidung über eine "strafrechtliche Anklage" im Sinne des Art 6 EMRK. Er beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

6. Die belangte Behörde hat dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisten Recht gemäß Art 6 EMRK. Im Verwaltungsstrafverfahren erster Instanz habe es "zahlreiche widersprüchliche Aussagen der Zeugen gegeben", welche vor dem UVS nur durch gezieltes Fragen aufgeklärt hätten werden können. Da er rechtsunkundig sei, wäre es am UVS gelegen, ihn "dahingehend zu manuduzieren, einen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung" zu stellen. Im Übrigen habe auch die Behörde erster Instanz beim UVS einen "Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung" gestellt.

1.2. Art 6 Abs 1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung (fair hearing) vor einem "Tribunal", das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Beschuldigten] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , B1737/01, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgesprochen hat, wird den Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR , ÖJZ 1995, 954) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muß die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom Unabhängigen Verwaltungssenat erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR im Fall Baischer vom , ÖJZ 2002, 394, Z 28 bis 30).

In einem Strafverfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art 6 EMRK garantierten Recht "gehört zu werden" das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann (so etwa EGMR in den Urteilen Håkansson und Sturesson gg. Schweden vom , Serie A Nr. 171-A, S. 20, Rn 64; Fredin [Nr. 2] gegen Schweden vom , Serie A Nr. 283-A, S. 10-11, Rn 21-22; Allan Jacobsson gegen Schweden [Nr. 2] vom , Slg 1998-I, S. 168, Rn 46).

2.1. Die belangte Behörde rechtfertigt das Absehen von der Durchführung der mündlichen Verhandlung damit, daß sich die Berufung gegen einen Bescheid richtet, mit dem eine Geldstrafe von "weniger als ATS 3.000,- (lt. BGBl. 65/2002 zum Zeitpunkt der Entscheidung € 500,--)" verhängt wurde, sodaß ein Fall vorliegt, in dem der UVS von der Berufungsverhandlung absehen "kann" (§51e Abs 3 Z 3 VStG). Der Berufungswerber hätte den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung bereits in der Berufung stellen müssen.

Hätte § 51e Abs 3 Z 3 VStG den Inhalt, daß allein die Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) von vornherein den Entfall der mündlichen Verhandlung nach sich zieht, so wäre dies verfassungswidrig. Die Bestimmung läßt aber eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu: Zur Frage des dem UVS aufgrund dieser Bestimmung eingeräumten Ermessens hat der Verfassungsgerichtshof bereits mit Erkenntnis vom , B1737/01 ausgesprochen, daß § 51e Abs 3 VStG den UVS nicht zwingt, von der Verhandlung abzusehen, er hat vielmehr einen Ermessensspielraum; "soweit es Art 6 EMRK jedoch gebietet, muß er [verfassungskonform] jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben".

2.2. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat darauf aber auch nicht ausdrücklich verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte.

2.3. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob auf das durch Art 6 Abs 1 EMRK gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verwaltungsstrafverfahren durch eine konkludente Willenserklärung wirksam verzichtet werden kann. Selbst wenn Art 6 EMRK im Strafverfahren einen schlüssigen Verzicht auf das Recht auf eine mündliche Verhandlung zuließe, kann das Verhalten des Beschwerdeführers unter den Umständen des vorliegenden Falles nämlich keineswegs dahin verstanden werden, daß er konkludent auf dieses Recht verzichtet hätte:

Wenn die belangte Behörde nämlich in der Gegenschrift meint, sie hätte schon deshalb keine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt, weil der Beschwerdeführer dies in der Berufung nicht beantragt hat, so ist ihr entgegenzuhalten, daß der Inhalt der - sachverhaltsbezogenen - Berufung keineswegs zweifelsfrei darauf schließen läßt, daß der Beschwerdeführer dadurch auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Der schlüssige Verzicht auf ein Recht setzt die Kenntnis dieses Rechts voraus. Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, daß der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen hätte müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR , Cetinkaya gg. Österreich Zl. 61595/00).

2.4. Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art 6 EMRK für eine Einschränkung der Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.

3. Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

4. Der Kostenspruch beruht auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.