OGH vom 28.06.2017, 9Ob27/17m
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Korn und Dr. Weixelbraun-Mohr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. E***** M***** und 2. O***** M*****, beide geboren am ***** 2011, beide wohnhaft bei den Pflegeeltern E***** und J***** K*****, diese vertreten durch Frischenschlager Navarro Rechtsanwälte in Linz, der Mutter S***** M*****, vertreten durch Anwaltspartnerschaft Dr. Krückl, Dr. Lichtl, Dr. Huber und Mag. Eilmsteiner, Rechtsanwälte in Linz, und der weiteren Verfahrenspartei Land ***** als Kinder und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft *****), wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 110/16a90, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Text
Begründung:
Am stimmte die Mutter der am geborenen mj Zwillingskinder E***** und O***** einer freiwilligen vollen Erziehung der Kinder durch Pflegeeltern zu. Aufgrund einer psychischen Erkrankung sah sich die Mutter damals nicht in der Lage, die Pflege und Erziehung der Kinder zu übernehmen. In der Folge wurden die Kinder bei Pflegeeltern untergebracht, wo sie sich auch seit Sommer 2012 noch befinden. Der Vater der Kinder ist unbekannt.
Am widerrief die Mutter ihre Zustimmung zur Unterbringung der Kinder in einer Pflegefamilie. Die Mutter strebt die Rückführung der Kinder in ihren Haushalt an.
Der Kinder- und Jugendhilfeträger beantragte am , ihm gemäß § 181 ABGB die gesamte Obsorge für die Zwillingskinder zu übertragen. Die Mutter könne den Kindern keine stabile und kontinuierliche Lebenssituation bieten, sodass das Kindeswohl gefährdet sei. Auch wenn sich zwischenzeitig einzelne Teilbereiche und Faktoren bei der Mutter und deren sozialem Umfeld verbessert hätten, sei die Gesamtsituation bei der Mutter aber noch immer nicht ausreichend stabil, um im Falle einer Rückführung der Kinder eine Kindeswohlgefährdung mit Sicherheit ausschließen zu können. Im Übrigen hätten sich die beiden Kinder bei der Pflegefamilie sehr gut eingelebt, sodass die Rückführung zur leiblichen Mutter einem neuerlichen Beziehungsabbruch gleichkäme und dadurch das Kindeswohl gefährdet wäre.
Die Pflegeeltern sprachen sich ebenfalls gegen die Rückführung der Kinder zur leiblichen Mutter aus und schlossen sich inhaltlich den Argumenten des Kinder- und Jugendhilfeträgers an.
Die Mutter trat dem Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers entgegen. Sie habe ihre Lebenssituation seit der Unterbringung der Kinder bei den Pflegeeltern kontinuierlich verbessert und an psychischer Stabilität gewonnen. Nunmehr sei sie in der Lage, die Obsorge für ihre beiden Zwillingskinder zu übernehmen und deren gedeihliche Entwicklung zu gewährleisten.
Das Erstgericht wies den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers auf Übertragung der Obsorge über die beiden Kinder ab. Eine Kindeswohlgefährdung iSd § 181 Abs 1 ABGB liege nicht vor. Das bloße Risiko einer Gefährdung des Kindeswohls rechtfertige keinen Entzug der Obsorge. Bei der konkreten Obsorgeentscheidung gehe es nicht darum, ob es die Kinder bei den Pflegeeltern besser hätten als bei der leiblichen Mutter, sondern es sei darauf abzustellen, ob die Kinder im Falle einer Rückführung zur Mutter einer Gefährdung ihres Wohls ausgesetzt wären. Eine bloße Verunsicherung der Kinder, die nun schon geraume Zeit bei den Pflegeeltern gelebt hätten, so wie Entwicklungsrisiken im Bereich der Emotionalität seien für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nicht entscheidend. Insbesondere dürfe nicht übersehen werden, dass eine allfällige Rückführung unter professioneller Begleitung mit entsprechender Vorbereitung zu erfolgen habe.
Mit Beschluss vom gab das Rekursgericht den Rekursen des Kinder und Jugendhilfeträgers sowie der Pflegeeltern statt. Es entzog der Mutter die Obsorge über die beiden mj Kinder und übertrug sie dem Kinder- und Jugendhilfeträger.
Dem von der Mutter dagegen erhobenen Revisionrekurs gab der Oberste Gerichtshof Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Rekursgericht eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs auf (9 Ob 47/16a).
Nach Beweisergänzung durch Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens und Vervollständigung der Tatsachengrundlage gab das Rekursgericht den Rekursen des Kinder- und Jugendhilfeträgers sowie der Pflegeeltern abermals statt. Wiederum entzog es der Mutter die Obsorge über die beiden mj Kinder und übertrug sie dem Kinder und Jugendhilfeträger. Es traf – neben dem eingangs dargestellten Sachverhalt – folgende weitere entscheidungswesentliche Feststellungen:
Die bei der Mutter seinerzeit diagnostizierten Krankheitsbilder, nämlich eine bipolare affektive Störung und eine depressive Episode mit psychotischen Symptomen sind derzeit nicht mehr feststellbar. Es liegt bei ihr zwar noch immer eine Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ vor, die sich aber ebenfalls gebessert hat. Aktuell ist die Mutter psychisch stabil. Sie hat sich durch den Aufbau eines sozialen Umfeldes und sozialer Kontakte in die Lage versetzt, Krisensituationen durch Organisieren von Fremdhilfe zu meistern. Ihre Erziehungsfähigkeit ist durch die nach wie vor bestehende Persönlichkeitsstörung zwar eingeschränkt, sodass weiterhin Unterstützungen und Hilfestellungen in der Obsorgeausübung notwendig sein werden. Ihre Erziehungskompetenz ist allerdings trotz der vorhandenen Persönlichkeitsveränderung nicht völlig ausgeschlossen.
Die beiden Zwillingsgeschwister haben sich bei den Pflegeeltern gut eingewöhnt. Die Mutter besucht ihre Kinder in begleiteter Form im vierwöchigen Abstand.
Im Falle einer Trennung der mj Zwillingskinder von den Pflegeeltern muss bei den Kindern mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit einer psychischen Beeinträchtigung im Sinne einer Dauerfolge in Bezug auf ein drohendes gestörtes Urvertrauen und drohender gemischter Gefühle von Unsicherheit und Depression gerechnet werden. Selbst wenn ein längeres Fehlen von den Pflegeeltern vorübergehend vermieden werden könnte, muss mit einer tiefen Trauer über den Verlust von sehr nahestehenden Personen gerechnet werden. Eine Herausnahme würde praktisch eine emotionale Entwurzelung aus der Pflegefamilie bedeuten.
In seiner rechtlichen Beurteilung kam das Rekursgericht zusammengefasst zum Ergebnis, dass der Mutter die Obsorge zu entziehen sei, weil das Kindeswohl akut gefährdet wäre, würden die Kinder von den Pflegeeltern getrennt werden.
Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, mit dem Antrag, die antragsabweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Der Kinder- und Jugendhilfeträger und die Pflegeeltern haben von der ihnen durch den Obersten Gerichtshof freigestellten Möglichkeit Gebrauch gemacht und eine Revisionsrekursbeantwortung erstattet. Darin beantragen sie die Zurückweisung des Revisionsrekurses der Mutter, in eventu, diesem nicht Folge zugeben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
Die Mutter hat kraft Gesetzes seit der Geburt die alleinige Obsorge für ihre Kinder (§ 177 Abs 2 Satz 1 ABGB; dazu 9 Ob 47/16a). Die Pflegeeltern wurden im Rahmen der dem Kinder und Jugendhilfeträger mit Vereinbarung der Mutter übertragenen freiwilligen vollen Erziehung (§ 139 Abs 1 ABGB nF; § 37 iVm § 38 Oö JWG 1991 [nunmehr § 26 iVm § 27 BKJHG 2013 bzw § 45 iVm § 46 des Oö KJHG 2014]) mit der Obsorge in den Teilbereichen der Pflege und Erziehung zur Gänze einschließlich der dazugehörigen gesetzlichen Vertretung für die Kinder betraut. Die Vereinbarung mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger hat die Mutter durch ihre einseitige schriftliche Erklärung aufgelöst (§ 51 Abs 3 Oö KJHG 2014).
Wie bereits in der aufhebenden Entscheidung 9 Ob 47/16a dargestellt, setzt eine Obsorgeübertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger voraus, dass der Mutter die Obsorge entzogen wird. Dies kommt jedoch nur bei akuter Kindeswohlgefährdung in Betracht, sodass eine solche Maßnahme nur als ultima ratio gerechtfertigt ist (vgl 3 Ob 165/11b). Bei der Obsorgeentziehung iSd § 181 ABGB ist ausschließlich das Kindeswohl maßgebend, wobei eine Änderung der Obsorgeverhältnisse nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs (RISJustiz RS0047841 [T15, T 19, T 21]; RS0048712 [T1]; RS0085168 [T5]; RS0048699 [T8]) und nur insoweit angeordnet werden darf, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (RISJustiz RS0048712; RS0085168; vgl RS0048633).
Diese Voraussetzungen liegen im Anlassfall nicht vor. Die Erziehungsfähigkeit der Mutter ist zwar durch die nach wie vor bei ihr bestehende Persönlichkeitsstörung eingeschränkt, aber durch Unterstützungen und Hilfestellungen in der Obsorgeausübung kompensierbar. Von einer akuten Gefährdung des Kindeswohls durch die Mutter kann nicht gesprochen werden.
Es ist zweifellos richtig, dass es den Kindern bei den Pflegeeltern gut geht und diese ihre primären Bezugspersonen sind. Wollte man aber diesen Gesichtspunkt als allein ausschlaggebend erachten, müsste die Situation bei jedem Kind, das in den ersten Lebensjahren gut fremduntergebracht ist, dazu führen, es dort zu belassen. Diese Vorgangsweise allerdings widerspricht den Intentionen des Gesetzgebers und den Anforderungen, die Art 8 EMRK stellt (3 Ob 155/11g; 1 Ob 99/16i). Einen Günstigkeitsvergleich vorzunehmen, lehnt die Rechtsprechung ab. Dass die Kinder (derzeit) bei den Pflegeeltern besser versorgt, betreut oder erzogen würden als bei der Mutter, rechtfertigt für sich allein noch keinen Eingriff in die mütterliche Obsorge (vgl RIS-Justiz RS0048704). Auch das bloße Bestreben der Mutter, die Kinder in ihren Haushalt (sanft) rückzuführen, ist noch keine akute Gefährdung des Kindeswohls, die es rechtfertigt, ihr die Obsorge zu entziehen (vgl 4 Ob 17/03h). Zwar ist auch bei der Entscheidung über die Obsorgeübertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger zu prüfen, ob die Trennung der Kinder von den Pflegeeltern das Kindeswohl gefährdet (RISJustiz RS0009673 [T4]). Diese Trennung steht jedoch derzeit nicht konkret an, sodass sie bei der im Rahmen der Entscheidung über die Obsorge anzustellenden Zukunftsprognose (RISJustiz RS0048632) nicht berücksichtigt werden kann.
Dem Revisionsrekurs der Mutter ist damit Folge zu geben, die Entscheidung des Rekursgerichts abzuändern und der Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0090OB00027.17M.0628.000 |
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