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VfGH vom 10.06.2013, B1298/2012

VfGH vom 10.06.2013, B1298/2012

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Bescheides in einem dem Anlassfall im engeren Sinn gleichzuhaltenden Fall

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Bundespolizeidirektion (nunmehr: Landespolizeidirektion) Linz erließ gegen den Beschwerdeführer, einen georgischen Staatsangehörigen, mit Bescheid vom auf Grund mehrerer im Bundesgebiet gesetzter Straftaten gegen fremdes Vermögen ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Rückkehrverbot gemäß § 62 Abs 1 und 2 iVm § 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG idF BGBl I 157/2005.

2. Den vom Beschwerdeführer am gestellten "Antrag auf Aufhebung des Rückkehrverbotes gem § 60 Abs 5 FPG" wies die Bundespolizeidirektion Linz am mangels gesetzlicher Grundlage zurück.

In der Berufung gegen diesen Bescheid führte der nunmehrige Beschwerdeführer aus, dass das erlassene Rückkehrverbot weitergelte, der gemäß § 60 Abs 5 FPG gestellte Antrag daher zulässig und die Erstbehörde zu einer inhaltlichen Sachentscheidung verpflichtet wäre. Weiters regte der Beschwerdeführer an, die Verfassungskonformität des § 60 Abs 1 FPG – die Erstbehörde stützte ihre Entscheidung auf diese Bestimmung – beim Verfassungsgerichtshof prüfen zu lassen. Darüber hinaus führte der Beschwerdeführer auch eine Reihe von Umständen an, aus denen sich ergebe, dass die weitere Aufrechterhaltung des Rückkehrverbotes unverhältnismäßig wäre.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (im Folgenden: UVS) die Berufung ab. Begründend führte der UVS aus, dass gemäß § 54 Abs 9 FPG idF des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 das Rückkehrverbot als Einreiseverbot gelte, wenn – so wie im vorliegenden Fall – eine Ausweisung gemäß § 10 Asylgesetz durchsetzbar werde. Unter anderem gestützt auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2011/21/0298, ging der UVS in der Folge auch davon aus, dass im gegenständlichen Fall § 60 FPG als relevante Bestimmung heranzuziehen sei. § 60 Abs 1 FPG sehe aber lediglich vor, dass die Befristung eines erlassenen Einreiseverbotes verkürzt, nicht jedoch, dass dieses zur Gänze aufgehoben werden könne. Ein Antrag, der auf Aufhebung des Einreiseverbotes abziele, sei also nicht vorgesehen und es sei dieser daher als unzulässig zurückzuweisen.

3. In der dagegen erhobenen Beschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten nach Art 83 Abs 2 B-VG, Art 8 EMRK sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander geltend. Im Besonderen verweist der Beschwerdeführer auf das zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung anhängige Gesetzesprüfungsverfahren G74/12. Analog zu dem Anlassfall dieses Verfahrens, B1097/11, sei auch das Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs 3 FPG erlassen worden. Im Hinblick darauf regt der Beschwerdeführer an, sein Beschwerdeverfahren in das [zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung] anhängige Gesetzesprüfungsverfahren mit einzubeziehen.

4. Der UVS als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er den Antrag stellt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Zu den in der Beschwerde vorgebrachten Punkten nimmt der UVS wie folgt Stellung:

"Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat im gegenständlichen Verfahren nicht verkannt, dass beim Verfassungsgerichtshof ein Normprüfungsverfahren bezüglich des § 60 Abs 1 FPG anhängig ist (siehe Punkt 3.5. des angefochtenen Bescheides). Aus der Anwendung einer vom Verfassungsgerichtshof in Prüfung gezogenen, noch nicht aus dem Rechtsbestand ausgeschiedenen Norm bereits eine Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts abzuleiten, wie der Beschwerdeführer dies hinsichtlich des BVG rassische Diskriminierung tut, scheint dem Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich nicht möglich.

Darüber hinaus wurde im angefochtenen Bescheid dargelegt, inwiefern selbst eine Bereinigung der Rechtslage die Position des Beschwerdeführers nicht verbessern würde: Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes im Prüfungsbeschluss wenden sich gegen den Ausschluss des § 53 Abs 3 FPG in der geprüften Gesetzesstelle. Für den Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich ist nicht ersichtlich, dass auch die Anordnung, ein Aufenthaltsverbot könne auf die Hälfte des festgesetzten Zeitraumes herabgesetzt werden, verfassungsgerichtliche Bedenken aufgeworfen hätte. Selbst wenn also in § 60 Abs 1 FPG auch § 53 Abs 3 leg cit genannt wäre, würde der Antrag des Bw, der auf die Aufhebung des Aufenthaltsverbots zur Gänze abzielt, nicht zum Erfolg führen. Hinzu tritt, dass der Beschwerdeführer das Erfordernis, einen Zeitraum von mehr als der Hälfte des Einreiseverbots im Ausland verbracht zu haben, nicht erfüllt (siehe wiederum Punkt 3.5.).

Hinsichtlich der Überleitung des gegen den Beschwerdeführer im Jahr 2007 erlassenen Aufenthaltsverbotes in den derzeitigen Rechtsbestand wird auf die ausführliche Begründung der vom Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich vertretenen Rechtsansicht in Punkt 3.4. des angefochtenen Bescheides verwiesen.

Da im gegenständlichen Fall eine verfahrensrechtliche Entscheidung zu treffen war, wurde auf die konkrete Familiensituation des Beschwerdeführers nicht ausführlich eingegangen. Die in Punkt 3.6. des angefochtenen Bescheides gemachten Ausführungen spiegeln lediglich den Eindruck wieder, den das erkennende Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich im Zuge der Aktendurchsicht vorläufig erlangt hat. Eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides vermögen die Ausführungen nach Ansicht des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich nicht zu begründen."

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , G74/12, § 60 Abs 1 FPG, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 38/2011, als verfassungswidrig aufgehoben.

2. Gemäß Art 140 Abs 7 B VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Rechtsvorschrift bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art 140 Abs 7 B VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Ver fassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988); darüber hinaus muss der das Verwaltungsverfahren einleitende Antrag vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. II.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg 17.687/2005).

3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am ; der dieses Gesetzesprüfungsverfahren einleitende Beschluss wurde am bekannt gemacht. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; da der ihr zugrunde liegende, das Verwaltungsverfahren auslösende Antrag ausweislich der Verwaltungsakten auch vor Bekanntgabe des Prüfungsbeschlusses, nämlich am , gestellt worden ist, ist der ihr zugrunde liegende Fall somit einem Anlassfall gleichzuhalten.

Die belangte Behörde wendete bei Erlassung des angefochtenen Bescheides die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an; denn die Feststellung, dass ein bestimmter Sachverhalt nicht unter eine bestimmte Norm zu subsumieren ist, setzt eine Anwendung dieser Norm voraus (VfSlg 15.110/1998).

Dem Einwand der belangten Behörde, dass selbst eine Bereinigung der Rechtslage die Position des Beschwerdeführers nicht verbessern würde, weil weder der Tatbestand (Hälfte des Einreiseverbotes im Ausland verbracht) verwirklicht noch die Rechtsfolge (Herabsetzung auf die Hälfte des festgesetzten Zeitraumes) beantragt worden seien, ist entgegenzuhalten, dass mit dem Erkenntnis vom , G74/12, der gesamte § 60 Abs 1 FPG, Tatbestand und Rechtsfolge, aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wurde. Es ist daher nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass die Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungs widrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.

Der Bescheid wird daher aufgehoben. Im fortzusetzenden Verwaltungsverfahren wird die belangte Behörde die Übergangsbestimmung des § 125 Abs 16 FPG sowie die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu beachten haben (vgl. ).

4. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß § 19 Abs 4 Z 3 VfGG abgesehen.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,- enthalten.