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OGH vom 20.12.2016, 10ObS118/16z

OGH vom 20.12.2016, 10ObS118/16z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, Türkei, vertreten durch Brehm Sahinol Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist Straße 1, 1021 Wien, wegen Alterspension, über den Rekurs und die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen den Beschluss und das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 67/16p 33, womit infolge Berufung der klagenden Partei das über das Eventualbegehren geführte Verfahren für nichtig erklärt und das Eventualbegehren zurückgewiesen wurde und im Übrigen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 7 Cgs 76/15i 26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Dem Rekurs der klagenden Partei wird nicht Folge gegeben.

2. Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und in der Türkei wohnhaft. Er hat in Österreich im Zeitraum von September 1971 bis September 1977 (mit Unterbrechungen) insgesamt 63 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aus Erwerbstätigkeit erworben. Im Zeitraum von Oktober 1979 bis einschließlich März 2009 hat der Kläger in der Schweiz 354 Beitragsmonate erworben. Im Fürstentum Liechtenstein hat der Versicherte 25 Beitragsmonate erworben; dort war er von September 1977 bis September 1979 beschäftigt.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt hat mit Bescheid vom den Antrag des Klägers vom auf Zuerkennung der Alterspension mangels Erfüllung der Wartezeit abgelehnt.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Alterspension ab gerichtete Hauptbegehren sowie das Eventualbegehren auf Rückzahlung der entrichteten Pensionsbeiträge ab. Der Kläger erfülle nicht die Wartezeit für die begehrte Alterspension. Das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Schweizer Eidgenossenschaft über soziale Sicherheit (BGBl 1969/4) gelte gemäß seinem Art 3 nur für die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten. Unter Berücksichtigung der in Liechtenstein erworbenen Versicherungszeiten habe der Kläger nur 87 Beitragsmonate erworben. Eine gesetzliche Grundlage, die die Abfindung eingezahlter Pensionsbeiträge vorsehe, existiere nicht.

Aus Anlass der Berufung des Klägers erklärte das Berufungsgericht das über das Eventualbegehren geführte Verfahren für nichtig und wies das Eventualbegehren zurück. Im Übrigen gab es der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.

Das Berufungsgericht sah hinsichtlich des Begehrens auf Rückforderung ungebührlich entrichteter Sozialversicherungsbeiträge den Rechtsweg als unzulässig an und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts betreffend die Nichterfüllung der Wartezeit für die begehrte Alterspension. Mangels Erfassung Drittstaatsangehöriger durch das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz komme für die Gruppe der Drittstaatsangehörigen grundsätzlich nur das „alte“ Abkommen zwischen Österreich und der Schweiz in Frage, das allerdings nur Staatsangehörige der Vertragsstaaten einbeziehe. Auf das Sozialrechtsabkommen zwischen Österreich und der Türkei könne sich der Kläger nicht berufen, weil keine Versicherungszeiten in Österreich und der Türkei zusammenzurechnen seien. Das Assoziationsrecht (ARB 3/80) verpflichte nicht zur Sicherstellung der Koordination innerhalb der Europäischen Union betreffend die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und erst recht nicht im Verhältnis zwischen Österreich und der Schweiz. Es sei auch weder unangemessen noch willkürlich, die Teilnahme am Sozialversicherungssystem von der Beschäftigung in diesem Land abhängig zu machen.

Gegen den Beschluss und das Urteil des Berufungsgerichts richten sich der Rekurs und die außerordentliche Revision des Klägers.

Rechtliche Beurteilung

I. Zum Rekurs des Klägers gegen die Zurückweisung des Eventualbegehrens :

Der Rekurs ist jedenfalls zulässig (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO). Die beklagte Partei hat sich an dem gemäß § 521a Abs 1 ZPO zweiseitigen Rekursverfahren nicht beteiligt.

Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass für die Rückforderung ungebührlich entrichteter Beiträge zur Sozialversicherung der Rechtsweg unzulässig ist (RIS-Justiz RS0109339). In seinem Rekurs wendet sich der Kläger nicht gegen diese Beurteilung, sondern führt nur aus, dass das „Nichtberücksichtigen der Pensionsbeiträge … materiell eine Art Enteignung des Klägers“ darstelle und „auf Grund einer ungerechtfertigten Vermögensverschiebung bereicherungsrechtlich rückabzuwickeln bzw auf Grund von Schadenersatz zu ersetzen“ sei. Dieses Begehren würde schon daran scheitern, dass darüber im angefochtenen Bescheid nicht abgesprochen wurde (RIS-Justiz RS0085867 [T8, T 9]).

II. Zur außerordentlichen Revision des Klägers :

In seiner außerordentlichen Revision stellt der Kläger in den Vordergrund, dass sowohl aus Art 14 EMRK als auch dem – unmittelbar anwendbaren – Assoziationsrecht eine Verpflichtung resultiere, diskriminierende Behandlungen zu unterlassen. Für die Ungleichbehandlung des Klägers sei keine objektive und vernünftige Rechtfertigung ersichtlich. Aufgrund der Verpflichtungen aus dem Assoziationsrecht sei es nicht gerechtfertigt, den Kläger dadurch einer Ungleichbehandlung auszusetzen, dass ihm nicht jene Vorteile gewährt würden, die Österreich seinen eigenen Staatsangehörigen gewähre. Wenn das Berufungsgericht die in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten nicht auf die Wartezeit anrechne, verletze es die Gleichbehandlungsregel des Art 3 sowie das Verbot von Wohnortklauseln in Art 6 des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates vom . Das Sozialversicherungsabkommen zwischen Österreich und der Schweiz verstoße gegen die beiden genannten Artikel und somit gegen das Unionsrecht. Die in der Schweiz zurückgelegten Beitragszeiten seien als Beitragszeiten nach türkischem Recht zu qualifizieren.

Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage dargestellt.

1. Die Wartezeit für die Alterspension wäre beim Kläger nur erfüllt, wenn die von ihm in der Schweiz erworbenen Versicherungsmonate zu berücksichtigen sind.

2.1 Das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über soziale Sicherheit, BGBl 1969/4, gilt gemäß dessen Art 3 für die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten sowie für deren Angehörige bzw Hinterbliebene. Auf die Gleichbehandlungsregelung derartiger Abkommen können sich somit lediglich die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten berufen (allgemein dazu Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [29. Lfg 2013] Bilaterale Abkommen über soziale Sicherheit Allg Teil Rz 20), nicht also der Kläger, der weder Staatsbürger der Schweiz noch Österreichs ist. Eine Zusammenrechnung von Versicherungszeiten auf dieser Rechtsgrundlage ist demnach nicht möglich.

2.2. Das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft (ABl 2000 L 114/6) begünstigt gemäß seinem Art 1 die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und die Staatsangehörigen der Schweiz und sieht für diese in Art 2 Bestimmungen über die Nichtdiskriminierung vor. Das Freizügigkeitsabkommen kennt keine äquivalente Vorschrift zu Art 79 AEUV, aufgrund derer Drittstaatsangehörige in die Koordinierung einbezogen werden können. Daher ist die Drittstaatsangehörige betreffende Verordnung (EU) 1231/2010 nicht Teil des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Schweiz. Drittstaatsangehörige haben daher in Beziehung zur Schweiz nur abgeleitete Rechte als Familienangehörige von Staatsangehörigen der Schweiz oder Unionsbürgern ( Zaglmayr in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [40. Lfg, 2013] Assoziierungs-Abk Allg Teil Rz 80).

3. Die Koordinierungs-Verordnung (EG) 883/2004 stellt in ihrem Art 2 auf die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats ab (vgl Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [45. Lfg 2014] Art 2 VO 883/2004 Rz 5). Da der Kläger Staatsangehöriger der Türkei und somit nicht Unionsbürger ist, kommt diese Verordnung daher für ihn grundsätzlich nicht zur Anwendung.

3.1. Die VO (EU) Nr 1231/2010, die den Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 auf Drittstaatsangehörige ausdehnt, erfordert nach ihrem Art 1, dass diese drittstaatsangehörigen Personen einen rechtmäßigen Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat haben (vgl Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [45. Lfg 2014] Art 2 VO 883/2004 Rz 16).

3.2. In Erwägungsgrund (13) der VO (EU) 1231/2010 wird aber klargestellt, dass ein Wohnort in einem Drittstaat der Anwendung der zwischenstaatlichen Rentenberechnung nach Titel III Kap 4 und 5 entgegensteht, weshalb auch in einem solchen Fall die Berechnung einer Pension nach der VO (EG) 883/2004 durchzuführen ist ( Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [45. Lfg 2014] Art 2 VO 883/2004 Rz 16).

Im Fall eines bosnischen Staatsangehörigen, der eine Zusammenrechnung der österreichischen und französischen Versicherungszeiten begehrte, zum Zeitpunkt der Antragstellung aber bereits in Bosnien-Herzegowina wohnte, verweigerte der Oberste Gerichtshof die Zusammenrechnung mit der Begründung, dass sich der Anwendungsbereich der Verordnung nur auf jene Drittstaatsangehörige und deren Familienangehörige und Hinterbliebene erstrecke, die sich (aktuell) rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten (10 ObS 159/12y, SSV NF 27/3; RIS-Justiz RS0128676). Der genannte Erwägungsgrund soll nämlich schon nach seinem Wortlaut nur Personen schützen, denen bereits nach der VO (EG) 883/2004 Rechte zukommen; ein Versicherter soll durch den Wegfall des rechtmäßigen Wohnsitzes nicht eines bereits erworbenen Pensionsanspruchs verlustig gehen.

3.3. Da der Kläger in der Türkei wohnhaft ist, liegt die geforderte Wohnsitzvoraussetzung nicht vor, weshalb die Ausdehnung der VO (EG) 883/2004 durch die VO (EU) 1231/2010 für den Kläger nicht zur Anwendung kommt. Auch vom Schutzzweck des Erwägungsgrundes (13) ist der Kläger nicht umfasst, weil er keine Rechte aus der VO (EG) 883/2004 hat.

4. Der Kläger fällt in den persönlichen Geltungsbereich des Assoziationsratsbeschlusses Nr 3/80 vom (im Folgenden: ARB 3/80), des weiteren auch des bilateralen Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit, BGBl III 2000/219, das in seinem Art 10 die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten vorsieht.

Beide Rechtsgrundlagen befassen sich nicht explizit mit der Anrechnung von Zeiten, die in Drittstaaten zurückgelegt wurden.

5. Zum ARB 3/80:

Der ARB 3/80 dehnt die Geltung der Wanderarbeitnehmer-VO (EWG) 1408/71 und der Durchführungs-VO (EWG) 574/72 partiell auf türkische Arbeitnehmer und deren Familienangehörige aus.

5.1. Art 3 des ARB 3/80 enthält ein Gleichbehandlungsgebot für Personen, die in einem Mitgliedstaat wohnen. Art 6 des ARB 3/80 erklärt für die Auszahlung bestimmter (Dauer )Geldleistungen wie Pensionen und Renten Wohnortklauseln für unzulässig. Die Art 12 und 13 des ARB 3/80 enthalten Regelungen über die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten.

5.2. Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt den Art 12 und 13 des ARB 3/80 in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung zu, solange der Rat nicht die zur Durchführung des Beschlusses unerlässlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat (, Taflan-Met [Rz 38]). Das Assoziationsrecht verpflichtet daher nicht zur Sicherstellung der Koordination innerhalb der Union betreffend die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten ( Zaglmayr in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [40. Lfg, 2013] Assoziierungs-Abk Allg Teil Rz 121).

5.3. Unmittelbare Wirkung kommt nach der Rechtsprechung des EuGH (, C 485/07, Akdas ua [Rz 74]) demgegenüber dem ein Verbot von Wohnortklauseln normierenden Art 6 des ARB 3/80 zu. Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht einschlägig, weil der Kläger noch keinen Anspruch auf eine Dauerleistung erworben hat, weshalb ihm auch keine Leistung im Zusammenhang mit einer Wohnortänderung entzogen werden kann.

5.4. Auch der Gleichbehandlungsregel des Art 3 des ARB 3/80 kommt nach der Rechtsprechung unmittelbare Wirkung zu ( Sürül ; Öztürk ; ebenso 10 ObS 168/09t; SSV NF 24/27). Sie setzt allerdings nach dem eindeutigen Wortlaut des Abs 1 voraus, dass die betreffende Person, die die Gleichbehandlung in Anspruch nehmen will, ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat (in diesem Sinn auch 10 Ob 14/09w). Als Mitgliedstaaten gelten nach der Diktion des Beschlusses die Mitgliedstaaten (damals) der Europäischen Gemeinschaften, während die Türkei kein Mitgliedstaat ist. Im Hinblick auf seinen Wohnsitz in der Türkei kann sich der Kläger nicht auf das Gleichbehandlungsgebot nach Art 3 des ARB 3/80 berufen.

6. Zu prüfen ist weiters die Tauglichkeit des Abkommens zwischen Österreich und der Türkei über soziale Sicherheit (BGBl III 2000/219) als mögliche Anspruchsgrundlage.

6.1. Das Abkommen wurde nach dem EU-Beitritt Österreichs und nach dem ARB 3/80 geschlossen.

Hintergrund für den Abschluss des „neuen“ Abkommens mit der Türkei war, dass das zuvor geltende Abkommen von Österreich zum (zur Sicherstellung des Entfalls der Zahlung von österreichischen Familienbeihilfen für Kinder in der Türkei) aufgekündigt worden war. Mit dem „neuen“ Abkommen sollte der bisherige Schutz im Bereich der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung mit im Wesentlichen gleichem materiellrechtlichen Inhalt aufrecht erhalten werden (ErläutRV 65 BlgNR 21. GP 33).

Das Verhältnis zwischen dem ARB 3/80 – soweit seine Regelungen unmittelbar anwendbar sind – und einem bilateralen Abkommen mit der Türkei kann so charakterisiert werden, dass das bilaterale Übereinkommen vorgeht, außer es würde für die Staatsangehörigen der Türkei oder der Mitgliedstaaten ungünstigere Regelungen als der ARB 3/80 in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich enthalten ( Höller in Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht 6 [2013] Teil 12 Rz 22; Spiegel in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [51. Lfg, 2014] Überblick Rz 38).

In diesem Sinn ist zu klären, ob das Abkommen Regelungen enthält, die den Kläger im Verhältnis zum ARB 3/80 begünstigen.

6.2. Aus der die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten regelnden Bestimmung des Abkommens allein (Art 17) ist für den Kläger, der an sich als Staatsangehöriger der Türkei nach Art 3 in den persönlichen Anwendungsbereich des Abkommens fällt, nichts zu gewinnen, denn die genannte Regelung sieht nur die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten vor, die in Österreich oder in der Türkei zurückgelegt wurden, nicht aber die Anrechnung von Versicherungszeiten aus einem Nichtvertragsstaat wie der Schweiz.

6.3. Auch das in Art 4 des Abkommens normierte Gleichbehandlungsgebot ist keine taugliche Anspruchsgrundlage für den Kläger. Nach dieser Bestimmung stehen bei Anwendung der Rechtsvorschriften eines Vertragsstaats die Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaats den Staatsangehörigen des Vertragsstaats gleich. Der Begriff der Rechtsvorschriften wird in Art 1 Abs 1 Z 2 definiert; demnach sind Rechtsvorschriften „die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und sonstige allgemein rechtsetzende Akte, die sich auf die in Artikel 2 Absatz 1 bezeichneten Zweige der sozialen Sicherheit beziehen und im Gebiet oder in einem Teil eines Vertragsstaates in Kraft sind“. Würde man daraus – über den Wortlaut hinaus – den Schluss ziehen, dass auch von Österreich geschlossene bilaterale Abkommen, die beispielsweise die Gleichbehandlung von österreichischen und schweizer Staatsangehörgen vorsehen, unter den Begriff der „Rechtsvorschriften“ fallen, wären die detaillierten Regelungen des Abkommens Österreichs mit der Türkei weitestgehend obsolet, weil einem türkischen Staatsangehörigen dann von vornherein eine generelle Meistbegünstigung zukäme, indem er im Verhältnis zu jedem Drittstaat, mit dem Österreich Abkommen über soziale Sicherheit geschlossen hat, wie ein österreichischer Staatsbürger behandelt würde. Dieses Verständnis kann dem Abkommen zwischen Österreich und der Türkei nicht zugrunde gelegt werden, denn eine derart weitgehende Geltung stünde nicht in Einklang mit dem Zweck von bilateralen Verträgen, Regelungen für die Angehörigen der beiden vertragsunterzeichnenden Staaten zu schaffen.

Der Begriff der Rechtsvorschriften ist also so zu verstehen, dass bilaterale (bzw auch multilaterale) Abkommen, die eine Begünstigung von österreichischen Staatsbürgern bzw Unionsbürgern (also zB das „alte“ Abkommen Österreich-Schweiz bzw auch das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz) vorsehen, nicht davon erfasst sind.

Dieses Ergebnis wird auch durch folgende Überlegung bestätigt: Das Sozialversicherungsabkommen zwischen Österreich und der Türkei wurde nach dem Datum des ARB 3/80 geschlossen. Entsprechend dem Inhalt des ARB 3/80 erfolgt die Sozialrechtskoordinierung mit der Türkei nach wie vor nach der VO (EWG) 1408/71 (siehe zuletzt 10 Ob 103/15t). Käme der Kläger in den Genuss einer gänzlichen „sozialrechtlichen Gleichstellung“ mit einem österreichischen Staatsangehörigen, müsste auf ihn auch die VO (EG) 883/2004 angewendet werden, was den genannten Grundlagen der Sozialrechtskoordinierung mit der Türkei widerspricht.

Daher ist auch auf der Grundlage des Gleichbehandlungsgebots nach Art 4 des Abkommens eine Zusammenrechnung von österreichischen und schweizer Versicherungszeiten nicht möglich.

7. Der Kläger beruft sich noch darauf, dass aus Art 3 ARB bzw aus Art 4 des Abkommens zwischen Österreich und der Türkei eine Pflicht zur Gleichbehandlung türkischer Staatsangehöriger beim Abschluss von weiteren bilateralen Abkommen (hier zwischen Österreich und der Schweiz) abzuleiten sei, wodurch sein Anspruch auf Zusammenrechnung von Versicherungszeiten begründet werde.

7.1. Da Art 3 des ARB 3/80 nur Personen mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat schützt (siehe auch Groenendijk ua, Das Assoziationsrecht EWG/Türkei [2013] Kap 5 Art 3 Rz 2), kann – wenn überhaupt – auch nur eine Verpflichtung zur Nichtdiskriminierung beim Abschluss von bilateralen Abkommen von Personen mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gefordert sein, während eine Nichtdiskriminierung von Personen, die nicht in einem Mitgliedstaat wohnen, schon aufgrund des Wortlauts von Art 3 des ARB 3/80 nicht intendiert ist. Außerdem bezieht sich das Gleichbehandlungsgebot nur auf die Anwendung nationaler Vorschriften und nicht auf bilaterale Abkommen mit Drittstaaten (siehe etwa die Entscheidung des , Öztürk , in der sich der Gerichtshof in Rz 51 f nur auf die Anwendung nationaler Vorschriften bezieht).

7.2. Dass ein weites, bilaterale Abkommen einschließendes Verständnis der einem türkischen Staatsangehörigen zugute kommenden „Rechtsvorschriften“ auch nicht dem Art 4 des Abkommens Österreich-Türkei über soziale Sicherheit zugrunde liegt, wurde bereits unter 6.3. dargestellt.

8. Da sich die Antworten auf die zu lösenden Rechtsfragen aus den dargestellten Rechtsgrundlagen und der dazu ergangenen Rechtsprechung ableiten lassen, ist die außerordentliche Revision des Klägers mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00118.16Z.1220.000