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VfGH vom 15.12.2011, B1295/10

VfGH vom 15.12.2011, B1295/10

19605

Leitsatz

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch ein Straferkenntnis wegen illegaler Beschäftigung von Ausländern; keine Rechtfertigung der Verfahrensdauer von fast drei Jahren; im Übrigen Abweisung der Beschwerde

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

Der Bescheid wird im Strafausspruch und im Kostenausspruch aufgehoben.

II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III. Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 1.420,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.

1. Mit Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe es

"als Masseverwalter und somit zur Vertretung nach

außen Berufener der M.-Y H. C Gesellschaft m.b.H. zu verantworten, dass diese Gesellschaft mit Sitz in Wien 15, [...], von bis in der Betriebsanlage der Gesellschaft in Wien 15 [...], den chinesischen Staatsangehörigen W. X. [...] als Koch beschäftigt hat, obwohl für diesen weder eine Beschäftigungsbewilligung, eine Zulassung als Schlüsselkraft oder eine Entsendebewilligung erteilt oder eine Anzeigebestätigung ausgestellt wurde noch der Ausländer eine für diese Beschäftigung gültige Arbeitserlaubnis oder einen Befreiungsschein oder einen Niederlassungsnachweis besitzt".

Über den Beschwerdeführer wurde nach § 28 Abs 1 Z 1 lita iVm § 3 Abs 1 AuslBG eine Geldstrafe in der Höhe von € 1.120,-- (1 Woche und 1 Tag Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt.

2. Der dagegen erhobenen Berufung des Beschwerdeführers vom wurde nach Durchführung eine mündlichen Verhandlung am , die am nach ergänzenden Erhebungen fortgesetzt worden war, mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (im Folgenden: UVS Wien) vom , Z UVS-07/A/37/2263/2007-21, keine Folge gegeben und das angefochtene Straferkenntnis mit der Maßgabe bestätigt, dass für den Zeitraum vom bis § 3 Abs 1 AuslBG und § 28 Abs 1 Z 1 lita AuslBG in der Fassung BGBl. I 126/2002 anzuwenden seien und dass für den Zeitraum vom bis für W. weder eine Beschäftigungsbewilligung, eine Zulassung als Schlüsselkraft oder eine Entsendebewilligung erteilt oder eine Anzeigebestätigung ausgestellt worden waren noch W. über eine für diese Beschäftigung gültige Arbeitserlaubnis oder einen Befreiungsschein oder eine "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt" oder einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EG" oder einen Niederlassungsnachweis besessen habe und dass für diesen Zeitraum § 3 Abs 1 AuslBG und § 28 Abs 1 Z 1 lita AuslBG in der Fassung BGBl. I 101/2005 anzuwenden seien.

3. In der dagegen erhobenen, auf Art 144 B-VG

gestützten Beschwerde wird zunächst die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf Unversehrtheit des Eigentums, auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 EMRK und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nach § 83 Abs 2 B-VG behauptet. Ferner bringt der Beschwerdeführer Bedenken gegen die den Bescheid tragenden Rechtsvorschriften vor: § 28 Abs 1 Z 1 AuslBG sei verfassungswidrig, da es keine sachliche Rechtfertigung für die angeordneten Mindeststrafen gebe und § 9 VStG sei zu unbestimmt, da nicht deutlich umschrieben werde, welche Sorgfaltspflichten das verantwortliche Organ treffe. Der Beschwerdeführer beantragt daher die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

4. Die belangte Behörde legte den bezughabenden Verwaltungsakt vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die den angefochtenen Bescheid tragenden Rechtsvorschriften sind vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes

(VfSlg. 13.790/1994, 18.219/2007, 18.775/2009 sowie zur Zulässigkeit der Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe vgl. VfSlg. 15.447/1999, 16.137/2001, 16.625/2002, 18.420/2008) verfassungsrechtlich unbedenklich.

Der Beschwerdeführer wurde daher durch den

angefochtenen Bescheid nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt.

2. Die Beschwerde ist jedoch insofern berechtigt, als sie die überlange Dauer des Verfahrens rügt:

2.1. Nach Art 6 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch

darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Tribunal gehört wird, das über seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat.

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. VfSlg. 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005, 18.743/2009; vgl. auch Frowein/Peukert, EMRK³, 2009, Art 6 Rz 251, sowie Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4, 2009, § 24 Rz 69). Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des EGMR ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg. 16.385/2001 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR; VfSlg. 17.821/2006, 18.066/2007, 18.509/2008).

2.2. In der Rechtsprechung des EGMR zu Strafverfahren wird für den Beginn der Frist jener Zeitpunkt angenommen, "in which a person is charged", dh. sobald ein Beschuldigter durch offizielle Mitteilung oder auch in sonstiger Weise darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass gegen ihn wegen des Verdachts, eine strafbare Handlung begangen zu haben, Ermittlungen mit dem Ziel strafrechtlicher Verfolgung durchgeführt werden und seine Lage dadurch in erheblicher Weise beeinträchtigt wird (Frowein/Peukert, aaO, Art 6 Rz 240; EGMR , Fall Eckle, Appl. 8130/78; VfSlg. 16.385/2001, 17.339/2004, 17.854/2006).

Im vorliegenden Fall erlangte der Beschwerdeführer mit Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung durch den Magistrat der Stadt Wien am erstmals offiziell Kenntnis von dem gegen ihn erhobenen Tatvorwurf. Dieser Tag ist daher als Anfangszeitpunkt des Verwaltungsstrafverfahrens anzusehen.

Das Verfahren endete in erster Instanz mit dem Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom , zugestellt am .

Als Zeitpunkt des vorläufigen Endes des der Beurteilung durch den Verfassungsgerichtshof unterliegenden Verfahrens ist grundsätzlich der Tag der Zustellung des das Verfahren abschließenden, angefochtenen Bescheides maßgeblich (vgl. mwN). Im vorliegenden Fall wurde der angefochtene Bescheid jedoch nicht durch Zustellung, sondern durch mündliche Verkündung erlassen; zugestellt wurde lediglich die schriftliche Ausfertigung des bereits erlassenen Bescheides.

Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR (vgl. EGMR , Fall Jancikova, Appl. 56.483/00) sowie jener des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 18.066/2007 zur Zustellung des angefochtenen Bescheides mehr als ein Jahr und acht Monate nach dessen Verkündung; vgl. ferner

VfSlg. 18.533/2008 zum Fall der verzögerten Zustellung eines - nicht bereits mündlich erlassenen - Bescheides) ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass auch die Zeitspanne zwischen der mündlichen Verkündung und der Ausfertigung des Bescheides zur Verfahrensdauer iSd Art 6 Abs 1 EMRK zählt.

Als Zeitpunkt des Endes des zu überprüfenden

Verfahrens ist daher, wenn auch der angefochtene Bescheid bereits durch mündliche Verkündung am erlassen wurde, der Tag der Zustellung des am ausgefertigten Bescheides der belangten Behörde, somit der anzusehen. Die zu beurteilende Verfahrensdauer beträgt sohin 3 Jahre und 11 Monate.

2.3. Im vorliegenden Fall fällt ins Gewicht, dass zwischen der mündlichen Verkündung des angefochtenen Bescheides am und der Zustellung der mit datierten Ausfertigung am 3 Jahre und 2 Monate vergangen sind.

Für die ungewöhnliche Länge des Zeitraums zwischen der mündlichen Verkündung und der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Bescheides ist allein das Verhalten der belangten Behörde verantwortlich; insbesondere kann dem Beschwerdeführer kein Vorwurf gemacht werden, das Verfahren unnötig verzögert zu haben.

Da nach der Aktenlage weder Art und Umfang des Sachverhaltes noch die zu beurteilende Rechtsfrage die Behandlung dieser Rechtssache als ungewöhnlich komplex erscheinen lassen, in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren aber auch kein weiterer besonderer Umstand hervorgekommen ist, welcher die Dauer des Verfahrens rechtfertigen könnte, ist die Dauer des Verfahrens von insgesamt nahezu 4 Jahren bis zur Zustellung des angefochtenen Bescheides nicht mehr als angemessen iSd Art 6 EMRK anzusehen. Im Hinblick auf die bereits am erfolgte mündliche Verkündung des angefochtenen Bescheides vermag auch der Hinweis der belangten Behörde, dass mit der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Bescheides "aus verfahrensökonomischen Gründen" bis zur Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof in einem ähnlich gelagerten, ebenso den Beschwerdeführer betreffenden Fall zugewartet worden sei, um den mündlich verkündeten Bescheid im Einklang mit diesem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes auszufertigen, daran nichts zu ändern.

2.4. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem durch Art 6 Abs 1 EMRK gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

2.5. Der angefochtene Bescheid ist - abgesehen vom Kostenausspruch - lediglich im Umfang des Strafausspruchs aufzuheben, weil die festgestellte Rechtsverletzung den Ausspruch über die Schuld unberührt lässt und eine Änderung nur im Rahmen der Strafbemessung gemäß § 19 VStG in Betracht kommt, insbesondere durch die verfassungskonforme Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund iSd § 19 Abs 2 VStG unter sinngemäßer Anwendung des § 34 Abs 2 StGB (vgl. mwN). Die belangte Behörde wird zu prüfen haben, inwieweit bei der Strafbemessung neben der objektiven Schwere der Verwaltungsübertretung und Gründen der General- und Spezialprävention das Vorliegen des Milderungsgrundes der - hinsichtlich der Ausfertigung vorliegenden - unangemessenen Verfahrensdauer zu berücksichtigen ist.

Der Bescheid ist auch im Umfang des Kostenausspruchs aufzuheben, da der Beitrag zu den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens sich nach der Höhe der verhängten Geldstrafe richtet (§64 Abs 2 VStG) und daher mit dem Strafausspruch in Zusammenhang steht.

III.

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung

einer Beschwerde in einer nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossenen Angelegenheit ablehnen, wenn sie von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die in der vorliegenden Beschwerde - abgesehen von der Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK - gerügten Verletzungen verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte wären zum erheblichen Teil nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

Die Angelegenheit ist auch nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen.

Demgemäß wurde beschlossen, insoweit von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie gemäß Art 144 Abs 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG).

IV.

1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Da der Beschwerdeführer nur zum Teil obsiegte, wird diesem angesichts des Gesamtergebnisses lediglich die Hälfte der Kosten des Verfahrens zuerkannt (vgl. VfSlg. 14.492/1996, 16.385/2001, 16.573/2002, 18.066/2007). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 200,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.