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OGH vom 10.05.1988, 10ObS116/88

OGH vom 10.05.1988, 10ObS116/88

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Herbert Vesely und Dr. Franz Köck in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria Anna G***, Landarbeiterin 4360 Grein, Lettental 5, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei S*** DER B*** (Landesstelle Oberösterreich),

1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 13 Rs 1138/87-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 14 Cgs 104/87-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung der ersten Instanz wiederhergestellt wird.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom auf Erwerbsunfähigkeitspension mangels dauernder Erwerbsunfähigkeit ab.

Die auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß gerichtete rechtzeitige Klage stützte sich darauf, daß die Klägerin, die im landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern und nunmehr des Bruders mitgearbeitet habe, in letzter Zeit wegen allgemeiner Körperschwäche keinerlei Arbeiten bzw. nur mehr leichte Arbeiten verrichten könne, jedoch nur unter Anweisung und Aufsicht, weil sie selbständigen Tätigkeiten nervlich nicht gewachsen sei. Die beklagte Partei bestritt die behauptete dauernde Erwerbsunfähigkeit und beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht wies die Klage ab.

Nach seinen Feststellungen bestehen bei der am geborenen Klägerin eine völlige Taubstummheit und eine deutliche mentale Retardierung. Sie ist nur zum Teil orientiert und kann auch die einfachsten allgemeinen Fragen nicht beantworten. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liegt eine ursprüngliche intellektuelle Unterbegabung vor. Der körperliche Zustand ist abgesehen von einem teilprothetischen Gebiß und einer Neigung zu niederen Blutdruckwerten normal. Die Klägerin kann alle mittelschweren Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen ohne unübliche Arbeitspausen leisten, die keinerlei Eigenverantwortung oder Eigeninitiative verlangen, allerdings nur im gewohnten Milieu der elterlichen Landwirtschaft und unter ständiger Anleitung und Aufsicht. Öffentliche Verkehrsmittel kann sie in Begleitung benützen. Die Klägerin besuchte acht Jahre eine Taubstummenanstalt. Von 1963 bis 1969 (richtig 1979) war sie Landarbeiterin bei den Eltern, von 1979 bis 1981 war sie arbeitslos, von März bis Dezember 1983, April bis Dezember 1984, April bis November 1985 und April bis September 1986 arbeitete sie als Landarbeiterin bei ihrem Bruder, der die väterliche Landwirtschaft übernommen hat. Dort arbeitete sie auch seit Mai 1987 wieder. Die Klägerin verrichtete im Stall Ausmistarbeiten und half teilweise bei der Fütterung mit. Im Haushalt erledigte sie das Abwaschen und einfache Aufräumarbeiten. Sie arbeitete auch auf dem Feld, etwa beim Heuen mit. Sie kann nicht selbständig arbeiten und bedarf der Aufsicht. Sie ist zwar arbeitswillig, aber eigensinnig und verrichtet die Arbeit in keiner einigermaßen rationellen Weise. Sie ist weder umschulbar noch anlernbar, sondern nur für ganz einfache Tätigkeiten unterweisbar. Sie war nie und ist auch nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einsetzbar, kann aber auf dem vom Bruder übernommenen elterlichen Hof ihre bisherigen Tätigkeiten weiterhin ausüben. Dafür, daß diesbezüglich irgendwelche Veränderungen eingetreten wären, gibt es keine Anhaltspunkte.

Die Klägerin sei daher nicht dauernd außerstande, irgend einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen und daher nicht dauernd erwerbsunfähig im Sinne des § 124 BSVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der Klägerin Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, daß es das auf eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab gerichtete Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte und der beklagten Partei auftrug, der Klägerin bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides ab eine vorläufige Zahlung von monatlich 1.300,- S zu erbringen.

Die Klägerin könne objektiv auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr eingesetzt werden. Subjektive Gesichtspunkte, wie die Nachsicht des Bruders als Dienstgeber und dessen Bereitschaft zur ständigen Anleitung, die die Klägerin erst in die Lage versetzten, gewisse Tätigkeiten - wenn auch umständlich - zu verrichten, könnten zu einer anderen Beurteilung führen, zu der sich das Berufungsgericht aber nicht veranlaßt sah.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinne abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Der erkennende Senat hat in seinen Entscheidungen

10 Ob S 44/87 und 10 Ob S 62/87 aus den im § 255 Abs 1 , 3, 4 und 5 ASVG formulierten Invaliditätsbegriffen (arg "herabgesunken" und "nicht mehr imstande") und aus den im § 273 ASVG formulierten Berufsunfähigkeitsbegriffen (arg "herabgesunken") abgeleitet, daß die Voraussetzungen dieser Gesetzesstellen, die Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit behandeln (§§ 221, 222 Abs 1 Z 2 und § 223 Abs 1 Z 2 ASVG) nur dann vorliegen, wenn sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat, so daß ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen kann.

Obwohl das BSVG den Versicherungsfall der dauernden Erwerbsunfähigkeit in den §§ 102 bis 104 - ähnlich wie das GSVG in den §§ 111 bis 113 - anders als in den §§ 221 bis 223 ASVG nicht ausdrücklich als Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bezeichnet, handelt es sich auch bei den Versicherungsfällen der dauernden Erwerbsunfähigkeit in den Pensionsversicherungen der in der Land- und Forstwirtschaft und in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen um Versicherungfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit. Das BSVG behandelt die Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit übrigens im § 2 a Abs 1 Z 1 bei der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung bei gemeinsamer Betriebsführung und im § 9 Abs 4 lit a bei der Weiterversicherung in der Pensionsversicherung gleich.

Die in den zitierten Entscheidungen des erkennenden Senates zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit nach dem ASVG vertretene Rechtsmeinung, daß ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand bei Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen kann, ist daher auch auf die Versicherungsfälle der Erwerbsunfähigkeit nach dem BSVG und dem GSVG anwendbar.

Die nach den rechtlich zu beurteilenden Feststellungen schon bei Beginn der Erwerbstätigkeit der Klägerin gegebenen und während ihres Erwerbslebens im wesentlichen unverändert gebliebenen schweren körperlichen Gebrechen und Schwächen ihrer geistigen Kräfte dürfen daher bei der Beurteilung, ob sie dauernd erwerbsfähig geworden ist, nicht berücksichtigt werden.

Sieht man aber von diesen Gebrechen und Schwächen ab, dann kann die Klägerin nicht als erwerbsunfähig im Sinne des § 124 Abs 1 BSVG gelten, weil sie dann nicht dauernd außerstande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen.

Der Revision war daher Folge zu geben und das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung des klageabweisenden Urteils der ersten Instanz abzuändern.