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VfGH vom 29.09.1992, B1282/90

VfGH vom 29.09.1992, B1282/90

Sammlungsnummer

13155

Leitsatz

Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung der Beschwerdeführerin ohne richterlichen Haftbefehl; Kontaktaufnahme der mit Funkgeräten ausgerüsteten Beamten mit dem Gericht möglich

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist dadurch, daß sie am um ca. 10.00 Uhr durch dem Bundesminister für Inneres dienstzugeteilte Organe der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich festgenommen und bis ca. 14.00 Uhr des angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Antrag auf Kostenseparation wird abgewiesen.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden des Beschwerdevertreters die mit S 53.157,60 bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art 144 (idF vor der B-VG-Novelle 1988, BGBl. 685/1988) gestützten Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof begehrt die Beschwerdeführerin die kostenpflichtige Feststellung, sie sei durch die am um ca. 10.00 Uhr erfolgte Festnahme in ihrer Wohnung in Wien durch Organe der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich und durch ihre bis , ca. 14.30 Uhr, dauernde Anhaltung ohne richterlichen Haftbefehl in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit im Sinne des Art 8 StGG verletzt worden.

In der Beschwerde wird dazu ausgeführt, daß im Zuge einer Fahndung nach H G B in ihrer Wohnung eine Hausdurchsuchung durchgeführt wurde, wobei eine geringe Menge an Haschisch vorgefunden worden sei. Dieses habe jedoch H G B gehört; von der Existenz dieses Suchtgiftes habe sie keine Kenntnis gehabt. Es sei weder ein Tatverdacht noch seien Haftgründe gemäß § 175 Abs 1 StPO vorgelegen. Ein richterlicher Haftbefehl sei weder beantragt noch erlassen worden.

2. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich legte den Verwaltungsakt vor und erstattete eine Äußerung, in welcher sie bekanntgab, daß die Beamten nicht für die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich eingeschritten seien. Vielmehr hätten diese die Amtshandlung für das Bundesministerium für Inneres, welches auch die Dienstzuteilung dieser Beamten zum Bundesministerium für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, für die Dauer der Amtshandlung außerhalb des örtlichen Wirkungsbereiches verfügt habe, durchgeführt.

3. Der durch die Finanzprokuratur vertretene Bundesminister für Inneres als belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in der beantragt wird, die Beschwerde bezüglich der behaupteten Verletzung in der Zeit vom von 10.00 Uhr bis 13.50 Uhr desselben Tages als unzulässig zurückzuweisen; die Beschwerdeführerin sei freiwillig mit den Beamten zur Verfassung einer Niederschrift mitgekommen; sie sei nicht aufgefordert worden, persönliche Utensilien mitzunehmen oder für eine längere Abwesenheit vorzusorgen.

Die vorläufige Verwahrung vom , 13.50 Uhr, bis zum , 14.00 Uhr, sei jedoch zu Unrecht erfolgt, da kein richterlicher Befehl eingeholt worden sei, ein solcher jedoch über das Amtstelefon eingeholt hätte werden können.

4. Die Beschwerdeführerin replizierte auf diese Gegenschrift und betonte, sie sei nicht freiwillig mit den Beamten mitgegangen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

A. 1. Aufgrund des Parteienvorbringens, der vorgelegten Verwaltungsakten und der im Rechtshilfeweg erhobenen Beweise, nämlich der Einvernahme der Revierinspektorin C S, des Revierinspektors F R, der Bezirksinspektoren F F, W M, G S und

G G sowie von Gruppeninspektor H B als Zeugen sowie der Beschwerdeführerin als Partei nimmt der Verfassungsgerichtshof folgenden entscheidungsrelevanten Sachverhalt als gegeben an:

Im Zuge von Ermittlungen durch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich wegen strafbarer Handlungen nach dem Suchtgiftgesetz wurde ua. gegen H G B ermittelt. Es wurde angenommen, daß er am an eine dritte Person in der Wohnung der Beschwerdeführerin in Wien Simmering eine größere Menge an Haschisch übergeben wollte.

Zur Durchführung der in Wien Simmering, also außerhalb des örtlichen Wirkungsbereichs der genannten Behörde, vorzunehmenden Ermittlungen wurden ua. Gruppeninspektor H B sowie zwei Bezirksinspektoren mit Erlaß des Bundesministeriums für Inneres vom diesem zugeteilt. Außer diesen nahmen noch fünf weitere Beamte an der Amtshandlung teil. Am Vormittag des wurde von den einschreitenden Sicherheitsorganen in der Wohnung der Beschwerdeführerin zunächst niemand angetroffen. Nach dem Erscheinen der Beschwerdeführerin wurde von den Beamten eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Dabei wurden 50 Gramm Haschisch gefunden und sichergestellt.

Die Beschwerdeführerin wurde daraufhin, ohne daß eine förmliche Festnahme ausgesprochen wurde, verhaftet und in das Landesgendarmeriekommando für Niederösterreich in Wien Landstraße verbracht. Im Zuge ihrer niederschriftlichen Vernehmung erklärte sie, daß das sichergestellte Haschisch wahrscheinlich H G B, der auch einen Wohnungsschlüssel besitze, gehöre; andere Personen hätten keinen Zutritt zu ihrer Wohnung. Sodann wurde über die Beschwerdeführerin von Gruppeninspektor B um 13.50 Uhr des aus eigenem Antrieb wegen des Verdachts nach § 12 Suchtgiftgesetz wegen Verdunkelungsgefahr formell die Verhaftung ausgesprochen. Die Beschwerdeführerin wurde am nächsten Tag () um ca. 14.00 Uhr wieder freigelassen.

Für die Verhaftung und Anhaltung der Beschwerdeführerin lag ein richterlicher Haftbefehl nicht vor.

2. In Würdigung der aufgenommenen Beweise gelangte der Verfassungsgerichtshof aus folgenden Überlegungen zu diesen Feststellungen:

Strittig ist zwischen den Verfahrensparteien lediglich, ob die Beschwerdeführerin am schon um ca. 10.00 Uhr verhaftet wurde oder ob sie freiwillig den Beamten folgte und erst um ca. 13.30 Uhr desselben Tages verhaftet wurde.

Der Verfassungsgerichtshof folgt in dieser Beziehung den klaren, widerspruchsfreien und mit den Erfahrungen in Einklang stehenden Aussagen der Beschwerdeführerin. Sie mußte nach dem Fund von Haschisch in ihrer Wohnung annehmen, daß die nunmehr abschließend wiederholte Aufforderung, sie müsse nun mitkommen, als Verhaftung galt. War sie doch zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wohnung von allen sieben eingeschrittenen Beamten umringt. Ob ihr dabei mitgeteilt wurde, daß sie zur Abfassung einer Niederschrift mitkommen müsse, kann angesichts der Umstände dahingestellt bleiben.

Bei dieser Beurteilung war auch maßgeblich, daß sich die eingeschrittenen Beamten angesichts der längeren Zeitspanne zwischen ihrem Einschreiten und ihrer Einvernahme durch das ersuchte Gericht im allgemeinen nur vage an die Vorgänge zu erinnern vermochten. Auch haben sie nur das Vorliegen einer förmlichen Festnahme in der Wohnung der Beschwerdeführerin verneint.

Einzelne Zeugen, insbesondere der Leiter der Amtshandlung, verneinten zunächst kategorisch, daß eine Verhaftung schon um ca. 10.00 Uhr des erfolgt sei, obwohl sie sich entweder zwischenzeitig entfernt hatten bzw. sich in verschiedenen Räumlichkeiten der Wohnung der Beschwerdeführerin befunden hatten. Sodann äußerten sie sich in breiter Weise darüber, wie in solchen Fällen korrekt vorzugehen ist.

Der Verfassungsgerichtshof hegt daher nach den Umständen des Falles keinen Zweifel daran, daß die Beschwerdeführerin - auch wenn keine formelle Verhaftung ausgesprochen wurde - den Beamten in der Annahme, daß sie nun verhaftet sei, folgte.

B. Zur Zulässigkeit.

1. Das beim Verfassungsgerichtshof im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesverfassungsgesetzes vom (Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988), BGBl. 685, das ist der (ArtX Abs 1 Z 1 des genannten BVG), bereits anhängig gewesene Verfahren ist kraft der Übergangsbestimmung des ArtIX Abs 2 leg.cit. nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen (s. dazu ArtII des Bundesgesetzes vom , BGBl. 329).

2. Gemäß Art 144 Abs 1, zweiter Satz, B-VG idF vor der B-VG-Novelle 1988 erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies zB für die Festnahme und Anhaltung einer Person zutrifft (vgl. etwa VfSlg. 12031/1989, 12071/1989, 12116/1989 und die dort zitierte Rechtsprechung).

Demgemäß ist festzuhalten, daß die Beschwerde Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im Sinne des Art 144 Abs 1 B-VG idF vor der B-VG-Novelle 1988 bekämpft.

3. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde - und zwar in ihrem gesamten Umfang (s. II. A.) - zulässig.

C. In der Sache.

Der unter II. A. festgestellte Sachverhalt ist rechtlich wie folgt zu würdigen:

1. Gemäß Art 8 Abs 4 des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. 684/1988, sind im Zeitpunkt des Inkrafttretens desselben - das ist gemäß seinem Art 8 Abs 1 der - anhängige Verfahren, einschließlich solcher vor dem Verfassungsgerichtshof, die in diesem BVG geregelte Angelegenheiten betreffen, nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen; dies gilt somit, da dieses verfassungsgerichtliche Verfahren am vor dem Verfassungsgerichtshof anhängig war (vgl. schon II. B. 1.), auch für diesen Beschwerdefall.

Der somit hier anzuwendende Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 EMRK (vgl. zB VfSlg. 10441/1985, 11426/1987) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung":

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz im Sinne des Art 44 Abs 1 B-VG gilt, bestimmt in seinem § 4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen im Sinne des § 4 leg.cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.

2. In Übereinstimmung mit den Parteien dieses Beschwerdeverfahrens geht der Verfassungsgerichtshof in rechtlicher Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes davon aus, daß die Beschwerdeführerin im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Gemäß § 177 Abs 1 (§10 Z 1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier allein in Betracht kommenden Fall des Haftgrundes nach § 175 Abs 1 Z 3 StPO (vgl. § 177 Abs 1 Z 2 StPO) zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn die Einholung eines richterlichen Befehles wegen Gefahr im Verzuge nicht tunlich ist.

3.1. Wie die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift ausdrücklich dartut, lag für die - von ihr zugestandene - Verwahrung ab 13.50 Uhr des ein solcher Haftgrund nicht vor, da eine telefonische Kontaktaufnahme mit dem Gericht möglich gewesen wäre.

3.2. Eine solche Kontaktaufnahme war aber offensichtlich auch vor der vom Verfassungsgerichtshof festgestellten Verhaftung der Beschwerdeführerin um ca. 10.00 Uhr des möglich:

Es waren sieben Bedienstete eingeschritten, die überdies mit Funkgeräten ausgerüstet waren. Es bedurfte demnach nicht mehr der Klärung der Frage, ob in der Wohnung der Beschwerdeführerin ein Telefon zur Verfügung stand.

3.3. Die Verhaftung der Beschwerdeführerin und die daran anschließende Anhaltung gingen demnach nicht gesetzmäßig vonstatten; die Voraussetzungen des § 4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, wonach die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen in Verwahrung nehmen dürften, treffen hier also nicht zu. Die Beschwerdeführerin wurde somit - Art 8 StGG schützt vor rechtswidriger Verhaftung - in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

D. 1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten sind S 8.859,60 an Umsatzsteuer enthalten.

2. Der Antrag der belangten Behörde auf Kostenseparation in der Rechtshilfetagsatzung vom gemäß § 142 ZPO iVm. § 35 VerfGG mußte abgewiesen werden, da die Erstreckung der Rechtshilfetagsatzung nicht durch die Beschwerdeführerin veranlaßt wurde, deren Rechtsvertreter im wesentlichen nur im Anschluß an die vom ersuchten Gericht gestellten Fragen nähere Präzisierungen der Aussagen wünschte.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4, erster Satz, und Z 2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.