OGH vom 14.03.2018, 13Os149/17m (13Os150/17h)
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pichler als Schriftführerin in der Strafsache gegen Erwin P***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 2 U 5/16f des Bezirksgerichts Waidhofen an der Thaya, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom (ON 21) und weitere Vorgänge im angeführten Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Oberstaatsanwalt Mag. Artner und des Verteidigers des Angeklagten Mag. Strobl zu Recht erkannt:
Spruch
Im Strafverfahren AZ 2 U 5/16f des Bezirksgerichts Waidhofen an der Thaya verletzen
1. die Durchführung der Hauptverhandlung am (ON 19) in Abwesenheit des am geborenen Angeklagten § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG;
2. die in der Hauptverhandlung am (ON 20) ergangene Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche ohne zuvor erfolgte Vernehmung des Angeklagten hiezu und an ihn gerichtete Aufforderung zur Erklärung über ein allfälliges Anerkenntnis § 245 Abs 1a StPO iVm § 447 StPO;
3. die Verwertung des in der Hauptverhandlung nicht vorgekommenen Inhalts von Aktenstücken, nämlich der Abschlussberichte der PI H***** vom (ON 2 in ON 7) und der PI G***** vom (ON 3 in ON 7), des Protokolls über die Vernehmung des Zeugen DI Manfred U***** (ON 2 S 17 ff in ON 7) sowie der Strafregisterauskunft (ON 2 S 11 f, ON 4, ON 2 S 13 f in ON 7, ON 3 S 15 ff in ON 7, ON 9, ON 14 S 13 ff) im Urteil vom § 12 Abs 2 und § 258 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;
4. das Urteil vom (ON 21) in der Subsumtion der in den Punkten I.1 und 2 bezeichneten Taten gesondert als (zwei) Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB § 29 StGB.
Es werden das genannte Urteil sowie demzufolge der unter einem gefasste Beschluss auf Widerruf bedingter Strafnachsichten (US 2) aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Waidhofen an der Thaya verwiesen.
Auf diese Entscheidung werden die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte mit ihren Berufungen, Letzterer auch mit seiner impliziten Beschwerde, verwiesen.
Text
Gründe:
Im Verfahren AZ 2 U 5/16f des Bezirksgerichts Waidhofen an der Thaya legte die Staatsanwaltschaft Krems an der Donau dem am geborenen Erwin P***** mit Strafantrag vom , AZ 51 BAZ 316/15a, ein als „die Vergehen“ des Diebstahls nach § 127 StGB subsumiertes Verhalten zur Last (ON 3).
Danach habe er
„1. in der Zeit von bis mit der Bankomatkarte der Jessica Pu***** von deren Konto insgesamt 1.240,-- Euro mit dem Vorsatz abgehoben, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern;
2. mit dem Tankschlüssel der Jessica Pu***** bei der Tankstelle 'Pö*****' in G***** um den Gesamtbetrag von 188,-- Euro mit dem Vorsatz getankt, sich dadurch unrechtmäßig zu bereichern.“
In der Folge bezog das Bezirksgericht zwei weitere Verfahren in das gegenständliche Verfahren ein (ON 1 S 1a und 1b), in denen die Staatsanwaltschaft gegen Erwin P***** Strafantrag wegen dem Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB unterstellte Taten (ON 6) und wegen eines als Vergehen des Betrugs nach § 146 StGB beurteilten Verhaltens (ON 15) gestellt hatte.
In der Hauptverhandlung am (ON 17) schloss sich Jessica Pu***** im Rahmen ihrer Vernehmung als Zeugin dem Verfahren mit 1.428 Euro als Privatbeteiligte an (ON 17 S 5). Zur Einvernahme der Zeugen Hermine und David M***** wurde die Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 17 S 6).
Dem Verhandlungstermin am blieb Erwin P***** trotz eigenhändiger Übernahme der Ladung (ON 1 S 1b verso) unentschuldigt fern. Das Bezirksgericht beschloss daraufhin die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (ON 19 S 3) und vernahm Hermine und David M***** als Zeugen zum Vorwurf des Strafantrags wegen § 146 StGB (ON 15). Letztgenannter schloss sich dem Verfahren mit 200 Euro als Privatbeteiligter an. Anschließend wurde die Hauptverhandlung erneut auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 19 S 4).
Die fortgesetzte Hauptverhandlung am fand in Anwesenheit des Angeklagten statt (ON 20).
Nach dem Protokoll über die Hauptverhandlung (ON 17, 19 und 20) wurden – mit Ausnahme eines Berichts der Bewährungshelferin (ON 19 S 3) – weder Verlesungen vorgenommen noch Aktenstücke vorgetragen. Ebenso wenig ist dem Protokoll eine Vernehmung des Angeklagten zu den geltend gemachten Privatbeteiligtenansprüchen zu entnehmen.
Mit Urteil des Bezirksgerichts Waidhofen an der Thaya vom , GZ 2 U 5/16f-21, wurde Erwin P***** anklagekonform „der Vergehen“ des Diebstahls nach § 127 StGB (I./1./ und 2./) sowie je eines Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB (II./) und des Betrugs nach § 146 StGB (III./) schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe sowie zur Zahlung von 200 Euro an David M***** und von 1.428 Euro an Jessica Pu***** verurteilt. Mit unter einem gefassten Beschluss wurden die zu den mit Urteilen des Bezirksgerichts Horn (richtig: Hollabrunn [US 8]), AZ 3 U 54/14k, und des Landesgerichts Korneuburg, AZ 521 Hv 7/14p, verhängten Freiheitsstrafen jeweils gewährten bedingten Strafnachsichten widerrufen.
In den Entscheidungsgründen wird ausdrücklich angeführt, dass Beweis aufgenommen wurde „durch … Strafregisterauskunft, Abschlussbericht Polizeiinspektion H***** vom , Abschlussbericht Polizeiinspektion G***** vom … “.
Die Darstellung der Vorstrafenbelastung des Angeklagten im Urteil (US 3) gründet sich ersichtlich auf dessen Strafregisterauskunft (ON 2 S 11 f, ON 4, ON 2 S 13 f in ON 7, ON 3 S 15 ff in ON 7, ON 9, ON 14 S 13 ff).
Die Feststellungen zum Schuldspruch II stützte das Erstgericht unter anderem auf die vor der Polizei getätigten Angaben des Zeugen DI Manfred U***** (ON 2 S 17 ff) sowie auf polizeiliche Erhebungsergebnisse, die in den oben angeführten Abschlussberichten der Polizeiinspektionen H***** (ON 2 in ON 7) und G***** (ON 3 in ON 7) dargestellt sind (vgl US 6).
Gegen das Urteil erhoben der Angeklagte Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe, die Staatsanwaltschaft Berufung wegen Strafe (ON 20 S 5; ON 1 S 1c verso; ON 22 f).
Die Rechtsmittelentscheidung des Landesgerichts Krems an der Donau liegt noch nicht vor.
Rechtliche Beurteilung
Im bezeichneten Verfahren wurde – wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt – das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:
1. Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind in Strafverfahren gegen junge Erwachsene die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren nicht anzuwenden. Ist der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht erschienen, so ist diese zu vertagen (§ 32 Abs 1 zweiter Satz erster Halbsatz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG). Die Durchführung der Hauptverhandlung am (ON 19) in Abwesenheit des zu diesem Zeitpunkt erst achtzehnjährigen Angeklagten (vgl § 1 Z 5 JGG) war daher nicht zulässig (vgl Schroll in WK² JGG § 32 Rz 5 und § 46a Rz 6; RIS-Justiz RS0121343 [T1]).
2. Nach § 245 Abs 1a StPO, der gemäß § 447 StPO auch für die Verhandlung vor dem Bezirksgericht gilt, ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Bei der vom Gesetz verlangten Vernehmung handelt es sich um ein der Gewährleistung des beiderseitigen rechtlichen Gehörs dienendes Erfordernis, ohne dessen Beachtung ein Zuspruch an den Privatbeteiligten nicht erfolgen darf (vgl RIS-Justiz RS0101178, RS0101197; Kirchbacher, WK-StPO § 245 Rz 23). Der Zuspruch an David M***** und Jessica Pu***** ohne vorangegangene Vernehmung des Erwin P***** verletzt daher das Gesetz.
3. Nach den gemäß § 447 StPO auch im bezirksgerichtlichen Strafverfahren geltenden Bestimmungen des § 12 Abs 2 StPO und des § 258 Abs 1 StPO hat das Gericht bei der Urteilsfällung nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist. Aktenstücke können nur insoweit als Beweismittel dienen, als sie in der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen (§ 252 Abs 2a StPO) worden sind. Vorgekommen ist ein Beweismittel dann, wenn es prozessordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt wurde (vgl Lendl, WK-StPO § 258 Rz 3 ff). Vorhalte bei der Vernehmung des Angeklagten gemäß § 245 StPO (vgl hier ON 20 S 3 f) bewirken noch kein „Vorkommen“ (iSd § 258 Abs 1 StPO) der betreffenden Aussagen in der Hauptverhandlung (Kirchbacher, WK-StPO § 245 Rz 66).
Die Verwertung des Inhalts der Abschlussberichte der PI H***** vom (ON 2 in ON 7) und der PI G***** vom (ON 3 in ON 7), des Protokolls über die Vernehmung des Zeugen DI Manfred U***** (ON 2 S 17 in ON 7) sowie der Strafregisterauskunft (ON 2 S 11 f, ON 4, ON 2 S 13 f in ON 7, ON 3 S 15 ff in ON 7, ON 9, ON 14 S 13 ff) im Urteil war daher nicht zulässig.
4. Nach dem Zusammenrechnungsprinzip des § 29 StGB bilden alle in einem Verfahren demselben Täter angelasteten Diebstähle, mögen sie weder örtlich noch zeitlich zusammenhängen oder jeder für sich rechtlich verschiedener Art sein, bei der rechtlichen Beurteilung eine Subsumtionseinheit. Die Annahme zweier Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB im Urteil vom (US 1; I.1 und 2) war daher verfehlt (RIS-Justiz RS0114927, RS0090615).
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
Auf diese Entscheidung waren die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte mit ihren Berufungen, Letzterer auch mit seiner impliziten Beschwerde (§ 498 Abs 3 dritter Satz StPO) zu verweisen.
Mit Blick auf den zweiten Rechtsgang bleibt anzumerken:
1. Der Gewahrsam am Geldinhalt von Bankomaten steht Mitarbeitern des jeweiligen (automatenaufstellenden) Bankinstituts, nicht aber dem Codekarteninhaber zu, der daran auch keinen Mitgewahrsam, sondern lediglich ein ihm von seiner (kontoführenden) Bank eingeräumtes (eingeschränktes) Geldbezugsrecht besitzt (RIS-Justiz RS0106207).
2. Ausgehend von den Feststellungen zum Schuldspruch II, wonach der Angeklagte mit deliktspezifischem Vorsatz jeweils beide Kennzeichentafeln von den PKW des (richtig:) DI U***** und der Elisabeth B***** abnahm (US 4 f), hat Erwin P***** mehrere Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB verwirklicht (vgl Kienapfel/Schroll in WK2§ 229 Rz 45).
3. Die Berücksichtigung (auch) generalpräventiver Erwägungen bei der Entscheidung über den Widerruf bedingter Strafnachsichten nach § 53 Abs 1 StGB (hier US 8) ist verfehlt (vgl Jerabek in WK2 StGB § 53 Rz 7).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2018:0130OS00149.17M.0314.000 |
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