OGH vom 01.06.2010, 10Ob25/10i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Emily O*****, geboren am , *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung, Bezirk 22, 1220 Wien, Kapellenweg 35/1A), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 595/09x 41, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom , GZ 17 PU 54/09s 32, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Die mj Emily O***** ist die Tochter von Vesna O***** und Jochen P*****. Die Minderjährige und ihre Mutter sind Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina und haben ihren Wohnsitz in Wien. Der Vater, der österreichischer Staatsangehöriger ist und nach der Aktenlage in Österreich als Arbeitnehmer beschäftigt ist, lebt in der Steiermark. Er ist aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichts Horn vom , 1 P 4/07y U12, zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 164 EUR an die Minderjährige verpflichtet.
Mit Beschluss vom (ON 32) bewilligte das Erstgericht der Minderjährigen antragsgemäß (ON 28) Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum vom bis in monatlicher Höhe von 164 EUR. Es begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die vor dem Bezirksgericht Hartberg zu 6 E 2178/09s auf das Arbeitseinkommen des Vaters geführte Exekution auch unter Anrechnung hereingebrachter Rückstände auf den laufenden Unterhalt diesen Unterhalt für die letzten sechs Monate vor der Antragstellung nicht gänzlich gedeckt habe. Die Minderjährige sei bosnische Staatsangehörige; sie habe aber gemäß § 12 Abs 2 StbG einen Rechtsanspruch auf die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Gemäß der Verordnung (EWG) 1408/71 seien rechtmäßig in einem EU Mitgliedstaat wohnende Drittstaatsangehörige wie inländische Beschäftigte zu behandeln. Nach Art 1 dieser Verordnung und § 123 ASVG sei ein Pflegekind im Sinne des ABGB als Familienangehöriger anzusehen, wenn es vom Versicherten unentgeltlich gepflegt werde. Der Lebensgefährte der Mutter sei österreichischer Staatsbürger und verpflege die Minderjährige unentgeltlich.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, Folge und wies den Unterhaltsvorschussantrag der Minderjährigen ab. Es begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass Drittstaatsangehörige nach der Verordnung (EG) 859/2003 nur dann unter den Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 fielen, wenn sie nach legalem Aufenthalt in einem EU Staat innerhalb der Europäischen Union zu oder abwandern. Dies sei hier nicht der Fall. Es liege in diesem Sinn keine Wanderarbeitnehmereigenschaft der Minderjährigen oder eines Elternteils vor, da sie innerhalb der Europäischen Union ausschließlich zu Österreich einen Bezug hätten. Es sei daher auch nicht relevant, ob die Minderjährige vom Lebensgefährten der Mutter gepflegt werde.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zu der gegenständlichen Thematik noch keine gefestigte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses abzuändern.
Die anderen Verfahrensparteien haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.
In ihrem Revisionsrekurs macht die Antragstellerin neuerlich geltend, sie sei zwar bosnische Staatsbürgerin, lebe aber seit ihrer Geburt in Österreich und habe gemäß § 12 Abs 2 StbG auch einen Rechtsanspruch auf die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Im Übrigen müsse es für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ausreichen, wenn jenes Familienmitglied, welches als Arbeitnehmer anzusehen sei, die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitze. Sowohl ihr Pflegevater als auch ihr leiblicher Vater seien österreichische Staatsbürger. Ihr Pflegevater, ihr leiblicher Vater und auch ihre Mutter seien seit Jahren in Österreich als Arbeitnehmer beschäftigt und leisteten die entsprechenden Sozialabgaben. Nach der Verordnung (EWG) 1408/71 seien rechtmäßig in einem EU Mitgliedstaat wohnende Drittstaatsangehörige wie inländische Beschäftigte zu behandeln. Sie habe daher Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse.
Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden:
1.) Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder einen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Ob ein Kind Staatsangehöriger eines bestimmten Staates ist, ist nach dem Recht dieses Staates zu beurteilen (Neumayr in Schwimann, ABGB 3 § 2 UVG Rz 11). Nach dem österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht ist ein Kind österreichischer Staatsbürger, wenn es die Staatsbürgerschaft erworben (§§ 6 ff StbG) und in der Folge nicht verloren hat (§ 26 StbG). Der Umstand, dass ein Kind nach § 12 StbG allenfalls Anspruch auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft hat, begründet daher noch nicht den Erwerb der österreichischen Staatsangehörigkeit (vgl Neumayr aaO § 2 UVG Rz 11 mwN). Es besteht somit nach dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung des § 2 Abs 1 UVG kein Vorschussanspruch der Antragstellerin als Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse.
2.) Diese Norm des § 2 Abs 1 UVG wird allerdings durch gemeinschaftsrechtliche Normen überlagert, insbesondere die Verordnung (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) samt Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 sowie die Verordnung (EG) 859/2003, die die Geltung der Wanderarbeitnehmerverordnung unter bestimmten Voraussetzungen auf Drittstaatsangehörige erweitert (vgl jüngst 10 Ob 9/10m mwN). Mit wurden die VO (EWG) 1408/71 von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst.
2.1 Nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können grundsätzlich beide Elternteile den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach der VO 1408/71 vermitteln. Normzweck dieser Verordnung ist jedoch nur die Koordinierung und nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Es soll damit nicht ein einheitliches, gemeinschaftsweit geltendes Sozialversicherungssystem geschaffen, sondern durch Koordinierung nationaler Regeln bloß die Freizügigkeit sichergestellt werden. Ziel der VO 1408/71 ist es allein, dem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft zum Durchbruch zu verhelfen (vgl RIS Justiz RS0117828 ua). Grundvoraussetzung für die Anwendung der VO 1408/71 ist deshalb das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Liegt ein derartiger Sachverhalt nicht vor, bedarf es keiner Anwendung der Verordnung, weil die Freizügigkeit in einem solchen Fall nicht sichergestellt werden muss. Der geforderte grenzüberschreitende Bezug wird dadurch hergestellt, dass der Unterhaltsverpflichtete (oder derjenige, bei dem sich das Kind aufhält) von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist (6 Ob 214/06y mwN; Neumayr aaO § 1 UVG Rz 20 mwN).
2.2 Im vorliegenden Fall besteht nach der Aktenlage kein Anhaltspunkt dafür, dass der Vater der Antragstellerin jemals von seinem Recht auf Freizügigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne des Gemeinschaftsrechts Gebrauch gemacht hätte. Derartiges wird auch von der Antragstellerin gar nicht behauptet. Schon aus diesem Grund kann daher die VO 1408/71 in Bezug auf den Vater der Antragstellerin keine Anwendung finden. Dies gilt in gleicher Weise aber auch für den Lebensgefährten der Mutter der Antragstellerin, der die Antragstellerin nach ihrem Vorbringen unentgeltlich pflegt. Es muss daher nicht näher geprüft werden, ob die Antragstellerin auch als Familienangehörige des Lebensgefährten ihrer Mutter anzusehen sei und dieser daher auch den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach der Wanderarbeitnehmerverordnung vermitteln könnte.
2.3 Mit wurde die VO 1408/71 von der neuen Koordinierungsverordnung, der VO (EG) 883/2004, abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des EuGH als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden (vgl Spiegel , Familienleistungen aus Sicht des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [140]). Schon aus diesem Grund kann das Begehren der Antragstellerin auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch nicht mit Erfolg auf die seit geltende VO (EG) 883/2004 gestützt werden.
2.4 Hinsichtlich der Rechtsstellung der Mutter der Antragstellerin, die wie ihre Tochter Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina ist, kommt eine Anwendung der Verordnung (EG) 859/2003, die die Geltung der Wanderarbeitnehmerverordnung unter bestimmten Voraussetzungen auf Drittstaatsangehörige erweitert, in Betracht. Nach Art 1 dieser Drittstaatsangehörigen Verordnung finden die Bestimmungen der VO 1408/71 und der VO 574/72 auch auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen Anwendung, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Österreich hat darüber hinaus im Anhang zur VO (EG) 859/2003 den Anspruch auf Familienleistungen (und damit auch für Unterhaltsvorschüsse) für Drittstaater davon abhängig gemacht, dass diese die Voraussetzungen für einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfe erfüllen (vgl 10 Ob 9/10m mwN).
2.5 Mit der VO (EG) 859/2003 wurden somit Drittstaatsangehörige nicht generell EU bzw EWR Bürgern gleichgestellt, sondern nur in Bezug auf grenzüberschreitende Bewegungen innerhalb der EU bzw EWR Mitgliedstaaten. Das Ziel ist, dass Drittstaatsangehörige, wenn sie innerhalb der Gemeinschaft „wandern“, dadurch keine Nachteile in ihrem sozialen Schutz erleiden sollen. Bei Aufenthalt in einem Drittstaat sind sie also ebenso wenig begünstigt, wie wenn sie sich als Drittstaatsangehörige „nur“ in einem Mitgliedstaat aufhalten, da der Bezug zu einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat nicht genügt (vgl 10 Ob 9/10m mwN). Es entspricht daher der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass drittstaatsangehörige Kinder bei reinem Inlandsbezug nicht in den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 und der VO 574/72 fallen, weshalb sie in diesem Fall keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse im Inland haben (vgl RIS Justiz RS0119548).
2.6 An dieser Rechtslage für Drittstaatsangehörige hat sich durch die neue Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 keine Änderung ergeben, da der persönliche Geltungsbereich dieser Verordnung (Art 2) Drittstaatsangehörige nicht erfasst. Nach Art 90 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 gilt vielmehr für die in VO (EG) 859/2003 einbezogenen Drittstaatsangehörigen weiterhin die VO (EWG) 1408/71.
2.7 Im vorliegenden Fall kann sich die Antragstellerin nach zutreffender Rechtsansicht des Rekursgerichts im Hinblick darauf, dass nach der Aktenlage nur eine Verbindung ihrer Mutter zu einem Drittstaat (Bosnien und Herzegowina) und einem EU Mitgliedstaat, nämlich ausschließlich Österreich, besteht, nicht auf die Bestimmungen der VO 859/2003 berufen.
2.8 Die Antragstellerin kann daher zusammenfassend ihr Begehren auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch nicht mit Erfolg auf die zitierten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen stützen.
3.) Soweit die Antragstellerin schließlich noch geltend macht, in den vom Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung nicht erfassten Fällen sei der nationale Gesetzgeber aufgerufen, die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch dann zu ermöglichen, wenn das Kind selbst nicht EU Bürger sei, erhebt sie eine rechtspolitische Forderung an den Gesetzgeber, die im derzeit geltenden Gesetz jedoch keine Deckung findet.
Dem Revisionsrekurs musste daher ein Erfolg versagt bleiben.