OGH vom 26.09.1991, 7Ob590/91
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Wurz als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta, Dr.Egermann, Dr.Niederreiter und Dr.Schalich als weitere Richter in der Unterbringungssache der ***** 1949 geborenen Monika M*****, derzeit im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien, infolge Revisionsrekurses der Patientenanwältin Mag.Marina Wallner gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 485/91-11, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Hietzing vom , GZ 11 Ub 298/91-7, bestätigt wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung wie folgt zu lauten hat:
Die Unterbringung der Kranken im psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien ist unzulässig.
Text
Begründung:
Monika M***** hielt sich bereits mehrmals, zuletzt seit durchgehend aufgrund einer pflegschaftsbehördlichen Maßnahme im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien auf. Bei der - aufgrund der Übergangsbestimmung im § 45 Abs 2 UbG durchgeführten - Erstanhörung am erklärte das Erstgericht die Unterbringung der Kranken bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG vorläufig für zulässig und beraumte die mündliche Verhandlung für den an. Am Schluß der - von einem anderen Richter des Erstgerichtes abgehaltenen - mündlichen Verhandlung vom erklärte das Erstgericht die Unterbringung der Kranken für drei Monate, sohin bis zum für zulässig. Das Erstgericht stellte aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens bei der Kranken "ein oliophrenes Zustandsbild nach Status post Meningoencephalitis und Epilepsie" fest und folgerte daraus - gleich dem Sachverständigen - daß Monika M***** an einer psychischen Erkrankung leide. Wegen der hochgradigen noopsychischen Beeinträchtigung und der daraus resultierenden mangelnden Realitätsanpassung sowie Kritikunfähigkeit bestehe eine ernstliche und erhebliche Selbstgefährdung.
Das Rekursgericht bestätigte den Beschluß des Erstgerichtes und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Das Unterbringungsgesetz ordne nicht an, daß die Erstanhörung (§ 19 UbG) und die mündliche Verhandlung (§ 22 UbG) vom selben Richter durchgeführt werden müsse. Im außerstreitigen Verfahren gelte der Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht allgemein. Eine Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit liege daher nicht vor. Das vom Erstgericht festgestellte Krankheitsbild lasse keinen Zweifel daran offen, daß die Kranke an einer psychischen Krankheit leide. Der Gesetzgeber habe geistig behinderte Personen nicht generell aus dem Unterbringungsrecht ausgenommen. Vielmehr sei jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob das vorliegende Zustandsbild eine psychische Krankheit im Rechtssinn sei. Der gesetzliche Begriff der psychischen Krankheit müsse sich nicht generell mit dem medizinischen Begriff decken.
Eine weitere Unterbringung nach Ablauf der Frist wurde in der Folge für unzulässig erklärt (ON 29).
Gegen den (ersten) endgültigen Zulässigkeitsbeschluß richtet sich der Revisionsrekurs der Patientenanwältin. Er ist zulässig, weil weder zur verfahrensrechtlichen Frage, ob und wie weit im Unterbringungsverfahren der Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt, noch zur materiell-rechtlichen Frage, ob eine geistige Behinderung unter den weiteren Voraussetzungen des Unterbringungsgesetzes die Unterbringung rechtfertigt, eine (veröffentlichte) Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes besteht. Der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Daß die Unterbringung nach Ablauf der Dreimonatefrist im Sinne des § 26 Abs 2 UbG nunmehr für unzulässig erklärt wurde (ob die Kranke aus der geschlossenen Anstalt auch entlassen und in Fürsorgepflege übernommen wurde, läßt sich dem Akt allerdings nicht entnehmen), ändert nichts am Vorliegen des Rechtsschutzinteresses der Rechtsmittelwerberin. In Fällen, in denen mit Gerichtsbeschluß das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit (hier Art 5 Abs 1 lit e MRK und Art 2 Abs 2 Z 5 des BVG vom , BGBl Nr 684, über den Schutz der persönlichen Freiheit) berührt wird, hat der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach der Aufhebung der freiheitseinschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Anhaltung zu Recht erfolgte (so zum alten Anhalterecht: SZ 39/83; SZ 60/12; ÖAV 1988, 109; zum Unterbringungsverfahren nach dem UbG:1 Ob 549/91; 7 Ob 585/91). Das trifft auch auf das Rechtsmittel des Patientenanwaltes, der gemäß § 14 Abs 1 UbG kraft Gesetzes Vertreter des Kranken für das im Unterbringungsgesetz vorgesehene gerichtliche Verfahren ist, zu.
Eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dadurch, daß die Erstanhörung und die mündliche Verhandlung nicht vom selben Richter durchgeführt wurden, liegt entgegen der Ansicht der Rechtsmittelwerberin allerdings nicht vor. Daß im Außerstreitverfahren im allgemeinen der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht gilt (EFSlg 47.243, SZ 47/35 ua), ist für die vorliegende Entscheidung nicht maßgebend, weil das Unterbringungsgesetz besondere Verfahrensvorschriften enthält, nach denen zu beurteilen ist, ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Unterbringungsverfahren gilt. Auch im Verfahren nach dem Sachverwaltergesetz (§§ 239 ff AußStrG) wurde, ebenso wie früher im Widerspruchsverfahren nach der Entmündigungsordnung, die Geltung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit aus den besonderen Verfahrensvorschrifte abgeleitet (EvBl 1954/456; EvBl 1971/142; Maurer, Sachwalterrecht in der Praxis Anm 1 und 4 zu § 239 AußStrG).
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz besagt, daß die Verhandlung und Beweisaufnahme vor dem erkennenden Richter, also jenem Richter, der die Entscheidung fällt, durchzuführen sind (Fasching LB2 Rz 671). Für den Zivilprozeß bestimmt § 412 Abs 1 ZPO, daß das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, welche an der dem Urteil zugrundeliegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben; bei Änderungen in der Gerichtsbesetzung vor der Urteilsfällung ist die mündliche Verhandlung von neuem durchzuführen (Abs 2). Einschränkungen davon enthalten allerdings § 412 Abs 2 ZPO,§ 281 a StPO und §§ 282 ff ZPO. Für das Unterbringungsverfahren bestimmt § 19 UbG, daß sich das Gericht binnen vier Tagen ab Kenntnis von der Unterbringung einen persönlichen Eindruck vom Kranken in der Anstalt zu verschaffen hat; die Abs 2 und 3 dieser Gesetzesstelle enthalten weitere Verfahrensvorschriften über die Grundlagen der bei der Erstanhörung zu fällenden Entscheidung. Aus § 20 UbG ergibt sich, daß das Gericht noch bei der Anhörung eine vorläufige Entscheidung zu treffen hat, ob die Unterbringung zulässig ist. Erklärt es diese bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG für zulässig, dann hat es eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die spätestens innerhalb von 14 Tagen nach der Anhörung stattzufinden hat. Der Kranke ist zu dieser Verhandlung zu laden (§ 22 Abs 2 UbG); der Abteilungsleiter hat dafür zu sorgen, daß der Kranke an der mündlichen Verhandlung teilnehmen kann (§ 24 UbG); das Gericht hat ua dem Kranken Gelegenheit zu geben, zu den für die Entscheidung wesentlichen Umständen Stellung zu nehmen und Fragen an Auskunftspersonen und Sachverständige zu stellen (§ 25 Abs 2 UbG). Am Schluß der mündlichen Verhandlung hat das Gericht über die Zulässigkeit der Unterbringung zu entscheiden; der Beschluß ist in der mündlichen Verhandlung in Gegenwart des Kranken zu verkünden, zu begründen und diesem zu erläutern (§ 26 Abs 1 UbG). Aus diesen Vorschriften ergibt sich lediglich, daß die vorläufige Entscheidung nach der Erstanhörung von jenem Richter, der die Erstanhörung, die endgültige Entscheidung aber von jenem Richter, der die mündliche Verhandlung durchgeführt hat, zu fällen ist. Eine Anordnung, daß der Richter, der die Erstanhörung durchgeführt und dabei vorläufig über die Zulässigkeit der Unterbringung entschieden hat, auch die mündliche Verhandlung durchzuführen und danach endgültig darüber zu entscheiden hat, enthält das Gesetz nicht. Weder aus § 19 Abs 1 UbG, wonach es auch auf den persönlichen Eindruck vom Kranken bei der Erstanhörung ankommt, noch aus den Vorschriften über das Rechtsmittelverfahren, wonach das Gericht zweiter Instanz das Verfahren selbst zu ergänzen oder neu durchzuführen hat, soweit es das für erforderlich hält, ergibt sich ein Anhaltspunkt für ein Unmittelbarkeitsgebot in der von der Rechtsmittelwerberin verstandenen Weise. Die Vorschriften über die mündliche Verhandlung bieten ausreichend Gewähr dafür, daß der Richter, der sie durchgeführt hat und danach endgültig über die Zulässigkeit der Unterbringung entscheidet, ein umfassendes Bild über die Voraussetzungen einer Unterbringung erlangt. Daß er darüberhinaus auch den Eindruck vom Kranken bei der Erstanhörung benötigt, ist nicht ersichtlich. Ein Vergleich mit dem alten Anhalterecht, wie ihn die Rechtsmittelwerberin vornimmt, gibt darüber keinen Aufschluß, weil in diesem die Zweiteilung des Verfahrens in die Erstanhörung und in die mündliche Verhandlung nicht vorgesehen war. Aber auch für das Sachwalterbestellungsverfahren, das - als Muster für die Regelung im UbG - ebenso eine Zweiteilung des Verfahrens in eine Erstanhörung und in die mündliche Verhandlung vorsieht, wird nicht gefordert, daß der Richter, der die Erstanhörung durchgeführt hat, auch die mündliche Verhandlung durchführen muß. Ein Vergleich mit diesem Verfahren wäre im Hinblick darauf, daß es keine Fristen für den Verfahrensablauf enthält, auch nicht zielführend. Wegen dieser Fristen wäre die Einhaltung einer Forderung, daß Erstanhörung und mündliche Verhandlung stets vom selben Richter durchzuführen seien, schon aus gerichtsorganisatorischen Gründen nicht immer möglich. Ein Unmittelbarkeitsgebot im angestrebten Sinn müßte auch zu dem - nicht realisierbaren - Ergebnis führen, daß der neue Richter trotz des Vorliegens einer vorläufigen Entscheidung die Erstanhörung zu wiederholen hätte. Da nach der mündlichen Verhandlung auch nicht darüber entschieden wird, ob die vorläufige Unterbringung zulässig war (vgl zum maßgebenden Entscheidungszeitpunkt Kopetzky, UbG Rz 443), wirkt der Umstand, daß die Erstanhörung und die mündliche Verhandlung nicht vom selben Richter durchgeführt wurden, im Verfahren nur wie eine mittelbare Beweisaufnahme, welche vom UbG aber nicht generell ausgeschlossen ist (siehe dazu § 23 UbG).
Der weiteren Auffassung des Revisionsrekurses aber, daß eine psychische Erkrankung der Betroffenen als Voraussetzung für eine Unterbringung nach dem UbG nicht vorliegt, ist beizupflichten:
Nach § 3 UbG darf in einer Krankenanstalt oder einer Abteilung für Psychiatrie (Anstalt iSd § 2 UbG) nur untergebracht werden, wer 1. an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet, und 2. nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer Anstalt, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann. Materiell-rechtliche Voraussetzung der Unterbringung ist sohin (ua) das Vorliegen einer psychischen Krankheit. § 3 UbG erwähnt - im Gegensatz etwa zu § 273 Abs 1 ABGB - nicht daneben auch die geistig behinderten Personen. Aus der gleichzeitigen Novellierung des § 37 Abs 1 KAG - dort wurde die bisherige Wortfolge "Geisteskranken, Geistesschwachen und Suchtkranken" durch die bloße Nennung von "psychisch Kranken" ersetzt - und dem Justizausschußbericht dazu (1204 BlgNR 17.GP 1), geht die Absicht des Gesetzgebers eindeutig hervor, daß geistig Behinderte in Hinkunft nur dann in Abteilungen und Sonderkrankenanstalten für Psychiatrie aufgenommen werden dürfen, wenn neben der geistigen Behinderung auch Symptome einer psychischen Erkrankung auftreten. Die bloße geistige Behinderung kann daher - selbst bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 3 UbG - die Aufnahme in eine solche Anstalt nicht rechtfertigen.
Die Begriffe psychische Krankheit und geistige Behinderung sind Rechtsbegriffe (Pichler in Rummel, ABGB2, Rz 1 zu § 273 ABGB; Kopetzki, aaO Rz 58; vgl EvBl 1974/214). Das Vorliegen einer geistigen Behinderung schließt nicht notwendig auch eine psychische Erkrankung ein. Zutreffend hat daher das Rekursgericht erkannt, daß in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob das Zustandsbild des Kranken eine psychische Krankheit im Rechtssinn aufweist. Das hier festgestellte oligophrene Zustandsbild nach einer Meningoencephalitits sowie die vorliegende Expilepsie führen nach dem Sachverständigengutachten nur zu deutlichen Auffassungen-, Orientierungs-, sowie Konzentrationsstörungen und mnestischen Leistungsbeeinträchtigungen. Wahn bzw Halluzinationen konnten aber nicht festgestellt werden; Noopsychische Beeinträchtigungen aber, die dem Gutachten zu entnehmen sind, schränken nur die intellektuelle Leistungsfähigkeit ein (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 256 Stichwort: Noopsyche). Der festgestellte Befund erlaubte daher nicht die Annahme einer psychischen Krankheit (in diesem Sinn auch das nunmehr vorliegende, vor der Unzulässigerklärung der weiteren Unterbringung eingeholte Gutachten ON 24).
Im Hinblich auf die deutlich zum Ausdruck gebrachte Absicht des Gesetzgebers, nur die Aufnahme psychisch Kranker in Anstalten gemäß § 2 UbG zu gestatten, kommt mangels Vorliegens einer "planwidrigen Unvollständigkeit", also einer nicht gewollten Lücke (Bydlinski in Rummel, ABGB2 Rz 2 zu § 7), eine analoge Anwendung des Unterbringungsgesetzes auf bloß geistig behinderte Personen nicht in Frage (7 Ob 586/91; 4 Ob 542/91). Wenn die Kranke wegen ihrer Behinderung einer besonderen Betreuung bedarf, kommen dafür nur Maßnahmen der Fürsorge außerhalb einer psychiatrischen Krankenanstalt in Frage.
Daher war auszusprechen, daß die Unterbringung der Kranken unzulässig ist.