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OGH vom 02.10.2012, 10ObS113/12h

OGH vom 02.10.2012, 10ObS113/12h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden und durch den Hofrat Dr. Fellinger sowie die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter (Senat nach § 11a Abs 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Dr. Petra Patzelt, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 56/12b 18, mit dem die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 16 Cgs 253/10i 11, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Zurückweisungsbeschluss wird aufgehoben.

Die Kosten des Rekursverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

In der mündlichen Streitverhandlung vom verkündete das Erstgericht in Anwesenheit beider Parteien das die Klage auf Invaliditätspension abweisende Urteil samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Die klagende Partei gab vorerst keine Rechtsmittelerklärung ab. Laut dem im Akt erliegenden (computergenerierten) elektronischen Zustellnachweis wurde der Klagevertreterin das Protokoll über die mündliche Streitverhandlung am „ (2:48:03) IMD“ elektronisch zugestellt.

Mit einem am eingebrachten Schriftsatz meldete die klagende Partei Berufung an.

Das Berufungsgericht wies die Berufung als verspätet zurück. Rechtlich ging es davon aus, dass gemäß dem seit der ZVN 2002 auch in Sozialrechtssachen anwendbaren § 461 Abs 2 ZPO gegen ein in Anwesenheit beider Parteien mündlich verkündetes Urteil Berufung nur von einer Partei erhoben werden kann, die diese entweder sofort nach der Verkündung des Urteils mündlich oder binnen 14 Tagen ab der Zustellung der Protokollsabschrift über jene Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung, in der das Urteil verkündet worden ist, in einem bei dem Prozessgericht erster Instanz überreichten Schriftsatz angemeldet hat. Eine mündliche Anmeldung der Berufung sei nicht erfolgt. Die schriftliche Anmeldung der Berufung sei verspätet, weil ausgehend vom Zustelldatum die in § 461 Abs 2 ZPO genannte 14 tägige Frist zur schriftlichen Anmeldung der Berufung am geendet habe. Die erst am eingebrachte Anmeldung der Berufung wäre bereits vom Erstgericht als unzulässig zurückzuweisen gewesen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der klagenden Partei aus den Rekursgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und der unrichtigen Tatsachenfeststellung mit dem Antrag, der Oberste Gerichtshof möge den angefochtenen Beschluss aufheben und dem Berufungsgericht die Entscheidung über die Berufung auftragen.

Rechtliche Beurteilung

Die beklagte Partei hat keine Rekursbeantwortung erstattet.

Der Rekurswerber bringt vor, entgegen den Feststellungen des Berufungsgerichts sei das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom seiner Rechtsvertreterin nicht schon am Freitag, dem zugestellt worden, sondern erst am darauffolgenden Montag, dem ; dies obwohl das Protokoll bereits am „hinterlegt“ gewesen sei. Wie nämlich vom Bundesrechenzentrum, Verfahrensautomation Justiz am mitgeteilt worden sei, habe es am im Bereich des VJ-Rückverkehrs eine Betriebsbehinderung gegeben, sodass aufgrund technischer Schwierigkeiten ein Teil des ERV Rückverkehrs nicht zugestellt werden konnte. Da der elektronische Rückverkehr aufgrund der Betriebsbehinderung nicht am abgerufen werden konnte, sei das Protokoll der mündlichen Streitverhandlung tatsächlich erst am Montag, den in den elektronischen Verfügungsbereich der Klagevertreterin gelangt. Die am erfolgte Anmeldung der Berufung sei innerhalb der 14 tägigen Frist des § 461 Abs 2 ZPO erfolgt und daher rechtzeitig. Zum Beweis ihres Vorbringens legte die Klagevertreterin mit dem Rekurs eine Kopie der E Mails des Bundesrechenzentrums bei.

In ihrer Stellungnahme zu den vom Obersten Gerichtshof in der Folge zur Rechtzeitigkeit der Berufung veranlassten Erhebungen durch Anfrage bei der Bundesrechenzentrum GmbH (§ 509 Abs 3 ZPO) brachte die Klagevertreterin dann noch ergänzend vor, üblicherweise werde in der Kanzlei der elektronische Rückverkehr täglich zweimal, und zwar in der Früh und nachmittags abgerufen. Dies ergebe sich auch aus den beigelegten Verbindungsprotokollen betreffend den 7. bis 10. November und betreffend den 12. bis . Lediglich für den an dem die Kanzlei ebenfalls besetzt gewesen sei liege kein Verbindungsprotokoll vor, sodass davon ausgegangen werden müsse, dass an diesem Tag trotz Abrufens des elektronischen Rückverkehrs kein solcher empfangen wurde. Dies könne nur darin seinen Grund haben, dass die Zustellung aufgrund technischer Gebrechen nicht möglich gewesen sei. Infolge der dem Rekurs beigelegten E Mail über technische Schwierigkeiten beim Abrufen des ERV Rückverkehrs habe die Sekretärin das eingelangte Protokoll mit dem Eingangsstempel vom versehen. Ausgehend von diesem Datum sei die Anmeldung der Berufung rechtzeitig erfolgt. Sollte die Zustellung des Protokolls der mündlichen Streitverhandlung vom doch nicht aufgrund technischer Probleme beim Bundesrechenzentrum oder bei der Übermittlungsstelle (der IMD GmbH) unterblieben sein, wäre davon auszugehen, dass das Unterbleiben der Zustellung auf Probleme der in der Rechtsanwaltskanzlei verwendeten Endgeräte zurückzuführen sei. In diesem Fall läge ein unvorhergesehenes Ereignis vor, das erstmals durch die Ergebnisse der vom Obersten Gerichtshof veranlassten Erhebungen bekannt geworden sei. Unter einem werde daher ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur rechtzeitigen Anmeldung der Berufung gestellt und die Anmeldung der Berufung und die Berufung nachgeholt. Die Klage werde gemäß § 483 Abs 3 ZPO iVm § 72 ASGG zurückgezogen.

Diesem Schriftsatz legte die Klagevertreterin die Verbindungsprotokolle vom 7. bis und vom 12. bis bei, weiters eine selbst abgegebene eidesstattliche Erklärung, in der zugesichert wurde, dass am trotz Abrufens des ERV kein Rückverkehr empfangen wurde (werden konnte). Weiters legte sie eine eidesstättige Erklärung der Sekretärin vor, in der das zwei Mal tägliche Abrufen des elektronischen Rechtsverkehrs sowie der Umstand bestätigt wird, dass das Sekretariat der Kanzlei am besetzt war.

I. Zum Rekurs gegen den Zurückweisungsbeschluss:

1. Gemäß § 89a Abs 2 GOG kann das Gericht anstelle schriftlicher Ausfertigungen gerichtlicher Erledigungen die darin enthaltenen Daten an Einschreiter, die Eingaben elektronisch anbringen, auch elektronisch übermitteln. Elektronisch übermittelte gerichtliche Erledigungen (§ 89a Abs 2 GOG) gelten als zugestellt, sobald ihre Daten in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangt sind (§ 89d Abs 2 GOG in der infolge Zustellung vor dem noch anzuwendenden Fassung BGBl 1996/757; 6 Ob 199/06t). Dies bedeutet, dass die Zustellung bewirkt ist, sobald sich die Daten auf einem wo auch immer befindlichen Speichermedium befinden, der Empfänger über die Berechtigung zum Zugriff verfügt und auch darauf zuzugreifen vermag ( Frauenberger Pfeiler/Raschauer/Sander/Wessely , Österreichisches Zustellrecht² § 89d Rz 1 mwN).

2. Die jeweilige Übermittlungsstelle hat das Datum (Tag und Uhrzeit), an dem die Daten der Erledigungen in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangt sind (elektronische Zustellung), zu protokollieren und der Bundesrechenzentrum GmbH zur Weiterleitung an das absendende Gericht zu übermitteln. Das Datum (Tag und Uhrzeit), an dem die Daten der Erledigungen vom Empfänger tatsächlich übernommen wurden, ist ebenfalls zu protokollieren und auf Anfrage dem Absender bekannt zu geben (§ 4 Abs 3 der VO der Bundesministerin für Justiz über den elektronischen Rechtsverkehr, BGBl II 2005/481 „ERV 2006“).

3. Technische Gebrechen oder Wartungsarbeiten, die eine Zustellung faktisch unmöglich machen, sind einer Ortsabwesenheit vergleichbar, weshalb versuchte Zustellvorgänge während eines technischen Gebrechens als unwirksam anzusehen sind ( Fraunberger-Pfeiler ua aaO). Ist die Zustellung hingegen wirksam und liegt der Hinderungsgrund für die tatsächliche Kenntnisnahme im Bereich des Empfängers (zB mangels Funktionsfähigkeit des Endgeräts), ist allenfalls eine Wiedereinsetzung möglich.

4. Im Hinblick auf das Rekursvorbringen wurden vom Obersten Gerichtshof, der in Bezug auf die Rechtzeitigkeit eines Rechtsmittels auch „Tatsacheninstanz“ mit Erhebungspflichten sein kann (RIS Justiz RS0036430; Gitschthaler in Rechberger , ZPO 3 § 87 [§ 22 ZustG] Rz 4) Erhebungen durch eine Anfrage bei der Bundesrechenzentrum GmbH durchgeführt und Einsicht in die Protokolldaten genommen (siehe § 4 Abs 3 ERV 2006).

5. Aufgrund des elektronischen Zustellnachweises, der Erhebungsergebnisse (insbesondere der Einsicht in die Protokolldaten), der Einsicht in die E Mail der Bundesrechenzentrum GmbH und der eidesstättigen Erklärungen steht zum Zustellvorgang folgender weiterer Sachverhalt fest:

„Auch aus den Protokolldaten (§ 4 Abs 3 ERV VO) ergibt sich, dass das Protokoll der mündlichen Streitverhandlung am Freitag, dem (2:48:03) durch die IMD GmbH als Übermittlungsstelle in den elektronischen Verfügungsbereich der Klagevertreterin gestellt worden war. Am Morgen des versendete ein Vertreter der Verfahrensautomation Justiz Bundesrechenzentrum GmbH an mehrere Empfänger eine E Mail mit dem Betreff „Teile des ERV Rückverkehrs verzögert“, welche folgenden Inhalt hat:

'Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund technischer Schwierigkeiten konnte ein Teil des ERV Rückverkehrs der Verfahrensautomation Justiz nicht zugestellt werden. An der Behebung des Problems wird gearbeitet. Der Rückverkehr wird im Lauf des Nachmittags zur Verfügung gestellt. Mit freundlichen Grüßen …' .

Diese E-Mail gelangte auch an die Übermittlungsstelle IMD GmbH. Von dieser wurde sie am um 11:06 Uhr an die Kanzlei der Klagevertreterin (weiter )gesendet.

Nicht feststellbar ist, ob diese technischen Schwierigkeiten zur Folge hatten, dass am der Zugriff auf die nach der Aktenlage bereits um 02:48 Uhr in den elektronischen Verfügungsbereich gelangten Daten faktisch unmöglich war, oder ob die Zugriffsmöglichkeit trotz dieser Schwierigkeiten (technisch) gewährleistet war. Die Erledigung wurde jedenfalls am Montag, den um 8:51:58 Uhr von der Klagevertreterin tatsächlich übernommen.“

6. Diese Feststellungen beruhen auf folgenden Erwägungen:

Aus der E Mail ergeben sich im Bereich der Bundesrechenzentrum GmbH bei der Abwicklung des VJ Rückverkehrs auftretende technische Probleme, die zu Verzögerungen führten, deren konkrete Auswirkungen aber nicht näher beschrieben werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese technischen Schwierigkeiten wie die Klagevertreterin in ihrer eidesstattlichen Erklärung zusichert auch dazu führten, dass ihr am der Zugriff auf die übermittelten Daten faktisch unmöglich war und die Daten erst am tatsächlich verfügbar waren. Mit Sicherheit konnte deshalb nur davon ausgegangen werden, dass die Klagevertreterin über die Daten am Montag, dem elektronisch verfügen konnte.

7. Nach ständiger Rechtsprechung hat ein Rechtsmittel bis zur sicheren Widerlegung von Zweifeln die Vermutung der Rechtzeitigkeit für sich, solange nicht seine Verspätung eindeutig ausgewiesen ist (RIS Justiz RS0006965). Verbleibende Zweifel an der Rechtzeitigkeit eines Rechtsmittels gehen immer zu Lasten der Behörde und nicht zu Lasten des Rechtsmittelwerbers (RIS Justiz RS0006965 [T4, T 7, T 13]). Da nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass im Bereich der Bundesrechenzentrum GmbH auftretende technische Probleme dazu führten, dass die Klagevertreterin nur verzögert, nämlich nicht am , sondern erst am auf die übermittelten Daten zugreifen konnte, ist im Zweifel von einer wirksamen Zustellung erst am auszugehen. Sollte das Protokoll von der Übermittlungsstelle zu einem Zeitpunkt in den Verfügungsbereich der Anwenderin gestellt worden sein, zu dem der Zugriff wegen eines technischen Gebrechens faktisch nicht möglich war, läge nur ein versuchter Zustellvorgang vor, der in ähnlicher Weise wie ein Zustellversuch während der Ortsabwesenheit des Empfängers unwirksam wäre.

Die 14 tägige Frist des § 461 Abs 2 ZPO endete somit am . Die an diesem Tag schriftlich erfolgte Anmeldung der Berufung erfolgte demnach rechtzeitig. Dem Rekurs war daher Folge zu geben und der angefochtene Zurückweisungsbeschluss aufzuheben.

Diese Entscheidung war von einem Dreiersenat zu fällen (§ 11a Abs 3 Z 2 ASGG;10 ObS 28/12h; Neumayr in Zell Kommentar 2 , §

11a ASGG Rz 2, 3).

II. Zur Zurückziehung der Klage:

Im Berufungsverfahren kann die Klage gemäß § 483 Abs 3 ZPO bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts zurückgenommen werden, wodurch ex lege die Unwirksamkeit des Ersturteils im Umfang der Rücknahmeerklärung bewirkt wird. Aus Gründen der Rechtssicherheit wird das Berufungsgericht daher mit deklarativem Beschluss über die Unwirksamkeit des Ersturteils abzusprechen haben (RIS Justiz RS0041997). Gemäß § 72 Z 2 lit a ASGG bedarf der Versicherte zur Zurückziehung seiner Klage in keinem Fall der Zustimmung des Versicherungsträgers.

Der Vorbehalt der Verfahrenskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2012:010OBS00113.12H.1002.000