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VfGH vom 20.09.2012, B1233/11

VfGH vom 20.09.2012, B1233/11

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Leitsatz

Entzug des gesetzlichen Richters durch Zurückweisung einer Maßnahmenbeschwerde hinsichtlich der Durchsuchung des auf die Beschwerdeführerin zugelassenen PKW; Überschreitung der richterlichen Anordnung im Sinne eines Exzesses

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid, soweit damit ihre Beschwerde hinsichtlich der Durchsuchung des auf sie zugelassenen Personenkraftwagens zurückgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird insoweit aufgehoben.

Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.400,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1.1. Im Rahmen eines gegen den Lebensgefährten der Beschwerdeführerin bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch wegen Verdachts der Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Betruges nach §§146 ff. StGB und der betrügerischen Krida nach § 156 Abs 1 StGB anhängigen Ermittlungsverfahrens wurde von der Staatsanwaltschaft am auf Grund gerichtlicher Bewilligung gemäß §§117 Z 2 litb, 119 Abs 1 und 120 Abs 1 erster Halbsatz StPO die Durchsuchung von Orten und Gegenständen samt Sicherstellung gemäß §§109 Z 1 lita, 110 Abs 1 Z 1 und Abs 2 StPO angeordnet.

1.2. Die Durchsuchung bezog sich ausdrücklich auf "folgende[...] Orte, nämlich die vom Beschuldigten H. B. verwendeten Unterkünfte" in mit genauer Anschrift genannten Objekten mit dem Zusatz "Wohnungsinhaber H. B." bzw. "Wohnungsinhaberin E. G." (die nunmehrige Beschwerdeführerin) "samt den dazugehörigen Nebenräumlichkeiten." Die Sicherstellung betraf "sämtliche[...] Gegenstände, die beweisrelevant sind, insbesondere sämtliche Beweismittel über Einkünfte des Beschuldigten H. B. seit dem Jahr 2000 bis zum heutigen Tag."

1.3. In der Begründung wird ausgeführt, dass H. B. verdächtig sei, durch Vortäuschung seiner Arbeitslosigkeit trotz Lukrierung erheblicher Einkünfte in den Jahren 2005 bis 2009 vom Arbeitsmarktservice die Auszahlung von rund € 40.000,-- betrügerisch erwirkt zu haben. Zudem habe er im Zuge eines Schuldenregulierungsverfahrens beim Bezirksgericht Dornbirn die erzielten Einkünfte gegenüber dem Masseverwalter verschwiegen. Zur Aufdeckung des Umfanges der Malversationen sei es erforderlich, das Objekt der Meldeadresse des Beschuldigten sowie das von ihm bewohnte Reihenhaus seiner Lebensgefährtin nach beweisrelevanten Unterlagen zu durchsuchen.

1.4. Am führten Beamte des Landeskriminalamtes Vorarlberg gemeinsam mit Beamten der Steuerfahndung des Finanzamtes Feldkirch im Auftrag bzw. mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft die angeordnete Hausdurchsuchung durch. Im Rahmen der Amtshandlung wurden von der Kriminalpolizei Geräte und Unterlagen (Computer, Beleg- und Urkundenordner) der Beschwerdeführerin sichergestellt und auch ein auf sie zugelassener PKW durchsucht.

1.5. Gegen die Sicherstellung ihr gehöriger

Gegenstände erhob die nunmehrige Beschwerdeführerin bei der Staatsanwaltschaft Einspruch gemäß § 106 StPO, der vom Landesgericht Feldkirch - soweit selbständige kriminalpolizeiliche Akte betroffen waren - unter Hinweis auf das Erkenntnis VfSlg. 19.281/2010 (mit dem das in § 106 Abs 1 StPO geregelte Einspruchsrecht gegen Handlungen der Kriminalpolizei aufgehoben worden war) zurückgewiesen wurde.

1.6. Die von der Beschwerdeführerin im gegebenen Zusammenhang zudem erhobene Maßnahmenbeschwerde wies der Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg (im Folgenden: UVS) mit Bescheid vom gemäß § 67c Abs 3 AVG als unzulässig zurück, weil sämtliche Amtshandlungen von der gerichtlichen Bewilligung gedeckt gewesen und somit nicht in Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt vorgenommen worden seien. Ein offenkundiges Überschreiten des richterlichen Auftrages liege nicht vor. Auch die Nachschau im Fahrzeug der Beschwerdeführerin unterfalle iSd § 117 Z 2 StPO angesichts der Möglichkeit der Auffindung beweisrelevanter Gegenstände der gerichtlichen Bewilligung. Soweit sich die Beschwerde gegen das Einschreiten von Beamten des Finanzamtes wende, sei sie schon deshalb unzulässig, weil Maßnahmenbeschwerden in Finanzstrafsachen des Bundes gemäß Art 129a Abs 1 Z 2 B-VG von der Zuständigkeit der UVS ausgenommen seien.

1.7. Gegen diesen Bescheid richtet sich die

vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs 2 B-VG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

1.8. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, ohne eine Gegenschrift zu erstatten.

II. Rechtslage

1. Hier maßgebliche Bestimmungen der Strafprozessordnung 1975 (StPO), BGBl. 631 idF BGBl. I 93/2007, lauten:

"2. Abschnitt

Identitätsfeststellung, Durchsuchung von Orten und Gegenständen, Durchsuchung von Personen, körperliche Untersuchung und molekulargenetische Untersuchung

Definitionen

§117. Im Sinne dieses Gesetzes ist

1. 'Identitätsfeststellung' die Ermittlung und Feststellung von Daten (§4 Z 1 DSG 2000), die eine bestimmte Person unverwechselbar kennzeichnen,

2. 'Durchsuchung von Orten und Gegenständen' das Durchsuchen

a. eines nicht allgemein zugänglichen Grundstückes, Raumes, Fahrzeuges oder Behältnisses,

b. einer Wohnung oder eines anderen Ortes, der durch das Hausrecht geschützt ist, und darin befindlicher Gegenstände,

3. - 5. [...]"

"§120. (1) Durchsuchungen von Orten und Gegenständen nach § 117 Z 2 litb und von Personen nach § 117 Z 3 litb sind von der Staatsanwaltschaft auf Grund einer gerichtlichen Bewilligung anzuordnen; bei Gefahr im Verzug ist die Kriminalpolizei allerdings berechtigt, diese Durchsuchungen vorläufig ohne Anordnung und Bewilligung vorzunehmen. Gleiches gilt in den Fällen des § 170 Abs 1 Z 1 für die Durchsuchung von Personen nach § 117 Z 3 litb. Das Opfer darf jedoch in keinem Fall dazu gezwungen werden, sich gegen seinen Willen durchsuchen zu lassen (§§119 Abs 2 Z 3 und 121 Abs 1 letzter Satz).

(2) Durchsuchungen nach § 117 Z 2 lita und nach § 117 Z 3 lita kann die Kriminalpolizei von sich aus durchführen."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB

VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

2. Der UVS hat seine Zuständigkeit in Bezug auf das Einschreiten der Polizeibeamten mit der Begründung verneint, dass dieses zur Gänze vom richterlichen Befehl gedeckt gewesen sei.

Diese Auffassung erweist sich insoweit, als die Durchsuchung des PKW der Beschwerdeführerin betroffen ist, als verfehlt:

2.1. Der eindeutige Wortlaut der gerichtlich

bewilligten Anordnung ermächtigte die Kriminalpolizei zur Durchsuchung näher bezeichneter Unterkünfte samt den dazugehörigen Nebenräumen; auch in der Begründung der Anordnung wird ausschließlich auf das Erfordernis der Nachschau in den von H. B. "benützten Wohnräumlichkeiten" verwiesen.

Der Verfassungsgerichtshof geht in seiner

Rechtsprechung davon aus, dass ein PKW nur dann dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Schutz des Hausrechts unterliegt, wenn er seiner Bestimmung nach gleich einer "Räumlichkeit" verwendet wird (vgl. VfSlg. 9525/1982, 10.124/1984). Weder aus dem angefochtenen Bescheid noch aus dem Akteninhalt ergeben sich Anhaltspunkte, die auf eine derartige Benützung des PKW schließen lassen.

2.2. Auch der Verweis auf das Erkenntnis VfSlg. 12.625/1991, aus dem die belangte Behörde ableitet, dass die Durchsuchung von Personenkraftfahrzeugen, die auf Adressaten eines Durchsuchungsbefehls zugelassen sind, vom richterlichen Befehl erfasst und somit als Gerichtsakte zu qualifizieren seien, geht fehl: Gegenstand des zitierten Erkenntnisses waren Firmenfahrzeuge, die auf das vom Durchsuchungsbefehl betroffene Unternehmen zugelassen waren, während hier im Verfahren gegen H. B. ein auf die Beschwerdeführerin zugelassener PKW durchsucht wurde, hinsichtlich dessen sich aus dem Inhalt des angefochtenen Bescheides kein vergleichbarer Zusammenhang zu den von der richterlichen Bewilligung erfassten Objekten ergibt.

2.3. Die Auffassung der belangten Behörde, "im Sinne des § 117 Z 2 StPO" sei "auch die Durchsuchung von Fahrzeugen mit umfasst", verschlägt ebenfalls. Die vorliegende Anordnung ist ausdrücklich auf die - lediglich Unterkünfte und darin befindliche Gegenstände betreffende - Vorschrift des § 117 Z 2 litb StPO gestützt, nicht aber auf jene der lita leg.cit.; nur letztere Bestimmung regelt die Durchsuchung von (nicht allgemein zugänglichen) Fahrzeugen.

2.4. Der Umstand, dass § 117 Z 2 lita StPO iVm § 120

Abs2 StPO die Kriminalpolizei im Fall des Vorliegens eines konkreten Verdachts der Begehung einer Straftat zur Durchsuchung von Fahrzeugen "von sich aus" (ohne gerichtliche Bewilligung) ermächtigt, führt hier zu keinem anderen Ergebnis; denn es liegt kein Hinweis dafür vor, dass die bekämpfte Nachschau im PKW der Beschwerdeführerin nach diesen Bestimmungen erfolgt wäre.

2.5. Entgegen der Annahme der belangten Behörde ist daher in Bezug auf die Durchsuchung des Fahrzeugs der Beschwerdeführerin von einem offenkundigen Überschreiten der gerichtlichen Anordnung iS eines Exzesses auszugehen (vgl. VfSlg. 17.046/2003). Das strittige Vorgehen der Kriminalpolizei könnte im Übrigen selbst dann, wenn eine selbständig gesetzte Maßnahme vorläge (wovon die belangte Behörde - wie dargelegt - nicht ausgeht), auf Grund des Entfalls des gerichtlichen Rechtsschutzes für Akte der Kriminalpolizei (durch teilweise Aufhebung des § 106 Abs 1 StPO mit Erkenntnis VfSlg. 19.281/2010) nicht der Gerichtsbarkeit zugerechnet werden.

2.6. Die belangte Behörde hätte daher über die von der gerichtlich genehmigten Anordnung nicht umfasste Durchsuchung des auf die Beschwerdeführerin zugelassenen PKW seitens der Kriminalpolizei meritorisch zu entscheiden gehabt.

Dadurch, dass die belangte Behörde zufolge irriger Annahme, die gesamte Amtshandlung sei von der richterlichen Bewilligung gedeckt gewesen, zur gänzlichen Zurückweisung der Maßnahmenbeschwerde gelangte, hat sie im Hinblick auf die Durchsuchung des Fahrzeugs der Beschwerdeführerin zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert.

3. Da das sonstige Verhalten der einschreitenden Polizeibeamten (einschließlich der in der Beschwerde ebenfalls relevierten Durchsuchung der in einem der von der Anordnung betroffenen Objekte vorgefundenen Geldbörse der Beschwerdeführerin) im Rahmen der gerichtlich genehmigten Anordnung erfolgte, ist die belangte Behörde insofern zu Recht von ihrer Unzuständigkeit ausgegangen; denn weder Art 144 B-VG noch eine andere Rechtsvorschrift räumt dem Verfassungsgerichtshof die Zuständigkeit ein, Akte der Gerichtsbarkeit auf Grund einer an ihn gerichteten Beschwerde zu überprüfen (zB VfSlg. 11.695/1988, 14.186/1995, 14.625/1996; ; , B930/00 ua.).

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid mithin insoweit, als damit ihre Beschwerde hinsichtlich der Durchsuchung des auf sie zugelassenen Personenkraftwagens zurückgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid war daher in diesem Umgang aufzuheben.

Im Übrigen war die Beschwerde abzuweisen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Die teilweise Erfolglosigkeit der Beschwerde kann dabei außer Betracht bleiben, da dieser Teil keinen zusätzlichen Prozessaufwand verursacht hat. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.