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VfGH vom 01.10.2013, B1208/2012

VfGH vom 01.10.2013, B1208/2012

19797

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Bestrafung des Beschwerdeführers wegen aufdringlichen Bettelns sowie wegen Störung der öffentlichen Ordnung durch besonders rücksichtsloses Verhalten mangels Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Tatbestände des Wiener Landes-Sicherheitsgesetzes und des Sicherheitspolizeigesetzes trotz identen Tatvorwurfs

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973).

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) und das Land Wien sind schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.400,– bestimmten Prozesskosten je zur Hälfte binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Dem Beschwerdeführer, einem slowakischen Staatsangehörigen, wurden mit Straferkenntnis der (damaligen) Bundespolizeidirektion Wien vom Geldstrafen in Höhe von insgesamt € 300,– auferlegt. Der Spruch des Straferkenntnisses lautet wie folgt:

"Sie haben am um 12.35 - 12.40 Uhr in Stephansplatz 1, vor dem Haupteingang zum Dom

1) an einem öffentlichen Ort in aufdringlicher Weise um Geld oder geldwerte Sachen gebettelt. Konkret haben Sie folgende Tathandlung gesetzt:

Die Dombesucher behinderten sie beim Eingang in das Gotteshaus, in dem sie sogar von rechts nach links wechselten und wieder zurück, sodass man kaum ohne angebettelt zu werden an ihnen vorbeigehen konnte. Sie stellten auch ihren Gehstock den Passanten vor die Beine, zwei Touristen hielten sie am Oberarm fest um Bettelgeld zu ergattern.

2) und durch dieses besonders rücksichtslose[…] Verhalten (Behinderung der Dombesucher beim Ein- und Austreten des Gebetshauses) die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt gestört."

Dadurch habe – so der erstinstanzliche Bescheid – der nunmehrige Beschwerdeführer sowohl § 2 Abs 1 lita Wiener Landes-Sicherheitsgesetz (aufdringliches oder aggressives Betteln) als auch § 81 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz (Störung der öffentlichen Ordnung) verletzt.

2. Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wies der Unabhängige Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS) mit Bescheid vom ab. Nach einer wörtlichen Wiedergabe des erstinstanzlichen Strafbescheides und der Berufung setzt sich die belangte Behörde mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers wie folgt auseinander: Die Berufung beziehe sich

"offensichtlich auf einen anderen Fall als den hier gegenständlichen, da der Berufungswerber Ausführungen nicht hinsichtlich des , sondern des trifft und überdies vorbringt, er habe die Zeitschrift 'Augustin' verkauft, wohingegen laut Anzeige der Berufungswerber zwei Zeitungen des 'Global Players' in der Hand hielt.

Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass sich die Ausführungen des Berufungswerbers doch auf den gegenständlichen Vorfall vom beziehen, bringt der Berufungswerber nicht vor, dass er

1) in nicht aufdringlicher Weise gebettelt habe und

2) die Dombesucher beim Ein- und Austreten in den bzw. aus dem Dom nicht behindert habe".

Die Strafbemessung wird nach Wiedergabe der beiden gesetzlichen Grundlagen wie folgt begründet:

"Die Übertretungen schädigten in nicht unerheblichem Maße das durch die Strafdrohungen geschützte Interesse an der Vermeidung von aufdringlicher Bettelei an öffentlichen Orten und an der Vermeidung ungerechtfertigter Störungen der öffentlichen Ordnung. Deshalb war der Unrechtsgehalt der Übertretungen – selbst bei Fehlen sonstiger nachteiliger Folgen – nicht gering.

Das Verschulden des Berufungswerbers kann nicht als geringfügig angesehen werden, da weder hervorgekommen ist noch auf Grund der Tatumstände anzunehmen war, dass die Einhaltung der Vorschriften eine besondere Aufmerksamkeit erfordert habe oder dass die Verwirklichung der Tatbestände aus besonderen Gründen nur schwer hätte vermieden werden können.

Mildernd war kein Umstand, erschwerend hinsichtlich beider Spruchpunkte der Umstand, dass der Berufungswerber verwaltungsstrafrechtlich einschlägig vorbestraft ist.

Da geringere Geldstrafen nicht geeignet waren, den Berufungswerber von der Begehung neuerlicher Übertretungen abzuhalten, erscheinen die verhängten Geldstrafen angemessen, selbst bei ungünstigen finanziellen Verhältnissen des Berufungswerbers.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden."

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und im Recht nach Art 4 7. ZPEMRK wegen Verstoßes gegen das Verbot der Doppelbestrafung, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt werden. Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde jede Ermittlungstätigkeit zu verfahrensentscheidenden Punkten unterlassen habe und dass der Beschwerdeführer für ein und denselben Sachverhalt sowohl nach § 2 Wiener Landes-Sicherheitsgesetz als auch nach § 81 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz bestraft worden sei, ohne die Anwendung beider Bestimmungen zu begründen. Zudem sei (unter Angabe eines Literaturzitates) "Betteln" nicht tatbestandsmäßig iSd § 81 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz.

4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdebehauptungen entgegentritt. Zum Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung führt sie aus, dass dem – vom ersten Spruchpunkt schon rein formal getrennten – zweiten Spruchpunkt des erstinstanzlichen Straferkenntnisses § 81 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz nicht – wie der Beschwerdeführer vermeint – das Betteln unterstellt worden sei, sondern die ungerechtfertigte Störung der öffentlichen Ordnung durch besonders rücksichtsloses Verhalten, nämlich durch Behinderung der Dombesucher "beim Eintreten in das und beim Austreten aus dem Gebetshaus".

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

§81 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz, BGBl 566/1991 idF BGBl I 13/2012, (im Folgenden: SPG) lautet:

"Störung der öffentlichen Ordnung

Wer durch besonders rücksichtsloses Verhalten die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt stört, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 350 Euro zu bestrafen. Anstelle einer Geldstrafe kann bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen verhängt werden."

§2 Abs 1 Wiener Landes-Sicherheitsgesetz, LGBl 51/1993 idF LGBl 25/2010, (im Folgenden: WLSG) lautet:

"Wer an einem öffentlichen Ort

a) in aufdringlicher oder aggressiver oder gewerbsmäßiger Weise oder als Beteiligter an einer organisierten Gruppe um Geld oder geldwerte Sachen bettelt, oder

b) eine unmündige minderjährige Person zum Betteln, in welcher Form auch immer, veranlasst oder diese bei der Bettelei mitführt,

begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 700 Euro, im Fall der Uneinbringlichkeit mit einer Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche zu bestrafen."

III. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet ein Bescheid, wenn er auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn die Behörde dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001).

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solches Verhalten ist der belangten Behörde vorzuwerfen:

Vorauszuschicken ist, dass vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles gegen die angewendeten Rechtsvorschriften beim Verfassungsgerichtshof keine Bedenken entstanden sind (vgl. etwa zum landesgesetzlichen Bettelverbot VfSlg 19.665/2012).

Der angefochtene Bescheid bestätigt das Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Wien, mit dem der Beschwerdeführer wegen Bettelns um Geld an einem öffentlichen Ort in aufdringlicher Weise nach § 2 Abs 1 lita WLSG sowie wegen ungerechtfertigter Störung der öffentlichen Ordnung durch besonders rücksichtsloses Verhalten nach § 81 Abs 1 SPG bestraft wurde.

Damit nimmt die belangte Behörde – trotz der Annahme, dass sich die Berufung des Beschwerdeführers "offensichtlich auf einen anderen Fall als den hier gegenständlichen" beziehe – ein Verhalten als erwiesen an, ohne eine mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, und subsumiert dieses sowohl als aufdringliches Betteln unter § 2 Abs 1 lita WLSG als auch gleichzeitig als ungerechtfertigte Störung der öffentlichen Ordnung durch besonders rücksichtsloses Verhalten unter § 81 Abs 1 SPG.

Da es sich – soweit nach den Sachverhaltsfeststellungen des UVS für den Verfassungsgerichtshof ersichtlich – offenbar um einen identen Tatvorwurf handelt, der zu einer zweimaligen Bestrafung des Beschwerdeführers geführt hat, hätte sich der UVS jedenfalls mit der Frage auseinandersetzen müssen, in welchem Verhältnis die beiden Tatbestände des § 2 Abs 1 lita WLSG und des § 81 Abs 1 SPG zueinander stehen und ob eine Bestrafung nach beiden Tatbeständen überhaupt zulässig ist.

Da der UVS aber jegliche Ausführungen dazu unterlässt, ist der angefochtene Bescheid mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Begründungsmangel belastet.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG und berücksichtigt, dass die belangte Behörde hier im Kompetenzbereich sowohl des Bundes als auch des Landes Wien eingeschritten ist (VfSlg 10.112/1984). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,– enthalten.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2013:B1208.2012