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VfGH vom 12.12.2012, B1189/12

VfGH vom 12.12.2012, B1189/12

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Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Bezirkshauptmann von Baden erließ gegen den Beschwerdeführer, einen serbischen Staatsangehörigen, mit Bescheid vom auf Grund mehrerer im Bundesgebiet im Zusammenhang mit seiner Drogensucht gesetzter Straftaten ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Land Niederösterreich vom abgewiesen.

2. Den vom Beschwerdeführer am

gestellten Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots wies der Bezirkshauptmann von Baden am ab. In seiner Berufung gegen diesen Bescheid führte der Beschwerdeführer aus, dass die dem Aufenthaltsverbot zugrunde liegenden Verurteilungen auf seine nun nicht mehr bestehende Drogensucht zurückzuführen gewesen wären. Er bereute seine Straftaten und hätte seit seiner letztmaligen Verurteilung Wohlverhalten an den Tag gelegt. Weiters wäre er in Österreich seit langem beruflich und sozial integriert.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom

weist der Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (im Folgenden: UVS) die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Begründend hält die belangte Behörde dabei Folgendes fest:

"Durch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom ist klargestellt, dass auf Grund der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ('Rückführungsrichtlinie') und entgegen dem Wortlaut des § 9 Abs 1 Z 2FPG 2005 der Instanzenzug nicht mehr zur örtlich zuständigen Sicherheitsdirektion, sondern zum örtlich zuständigen unabhängigen Verwaltungssenat geht. Mit trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011, in wesentlichen Teilen in Kraft.

Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Rechtsmittelbehörde grundsätzlich das im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides geltende Recht anzuwenden hat. Eine andere Betrachtungsweise wird nur dann geboten sein, wenn etwa der Gesetzgeber in einer Übergangsbestimmung anderes anordnet oder wenn darüber abzusprechen ist, was an einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem konkreten Zeitraum rechtens war. Da die Übergangsbestimmungen (§125 Abs 16 FPG) nur vorsehen, dass vor Inkrafttreten des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 (BGBl. I Nr. 38/2011) erlassene Aufenthaltsverbote bis zum festgesetzten Zeitpunkt gültig bleiben, aber keine Regelung in der Art enthalten, das Verfahren, die bei Inkrafttreten des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 bereits anhängig waren, nach der alten Rechtslage vorzuführen sind, waren die novellierten Bestimmungen anzuwenden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters ausgesprochen, dass es sich bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes (unabhängig von der Benennung des innerstaatlich festgelegten Rechtsinstitutes) um eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art 3 Z 4 Rückführungsrichtlinie und ein Einreiseverbot im Sinne des Art 3 Z 6 dieser Richtlinie handelt.

Der Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes vom und der angefochtene Bescheid der Erstbehörde vom bezogen sich nach der damals geltenden Rechtslage auf § 65 Abs 1 FPG in der Fassung vor der Fremdenrechtsnovelle, wonach das Aufenthaltsverbot oder das Rückkehrverbot auf Antrag oder von Amtswegen aufzuheben ist, wenn die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind.

Nunmehr findet aber, in konsequenter Anwendung der zuvor wiedergegebenen Grundsätze, § 60 FPG alt (in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 38/2011) auf das dem (alten) Aufenthaltsverbot innewohnende Einreiseverbot Anwendung.

Aus § 60 Abs 1 FPG neu ergibt sich, dass kein

Antragsrecht des Drittstaatsangehörigen auf Aufhebung eines unbefristeten oder zehnjährigen Einreiseverbotes (mehr) besteht. Insofern ist dem FPG seit der Novelle ein Rechtsanspruch auf Entscheidung über den Antrag auf Aufhebung eines unbefristeten oder zehnjährigen Einreiseverbotes nicht mehr zu entnehmen, zumal § 60 Abs 5 FPG neu - wonach ein Rückkehrverbot auf Antrag oder von Amtswegen aufzuheben ist, wenn die Gründe, die seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind - eben den Wortlaut nach lediglich auf Rückkehrverbote im Sinne des § 54 FPG neu (Rückkehrverbote gegen Asylwerber), nicht jedoch auf Einreiseverbote (wie § 60 Abs 1 FPG neu) anzuwenden ist.

Wie aus der Regierungsvorlage zu BGBl. I Nr. 3812011 hervorgeht, ist diese Differenzierung vom Gesetzgeber bewusst gewollt. Diese Vorgangsweise widerspricht nicht dem Gemeinschaftsrecht, da in Art 11 Abs 3 der Rückführungsrichtlinie festgelegt ist, dass die Mitgliedsstaaten in Einzelfällen ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen können.

Ein Antragsrecht auf Aufhebung oder Herabsetzung

eines Einreiseverbotes besteht gemäß § 60 Abs 1 FPG nur mehr für Einreiseverbote, welche sich auf § 53 Abs 1 und 2 FPG stützen. Diese Fälle umfassen Einreiseverbote, welche auf eine Dauer von mindestens 18 Monaten, höchstens jedoch für fünf Jahre ausgesprochen wurden.

Im gegenständlichen Fall liegen dem Aufenthaltsverbot strafbare Verurteilungen des Berufungswerbers zu Grunde, welche einerseits auf der gleichen schädlichen Neigung beruhen, andererseits zu mehr als dreimonatigen Freiheitsstrafen führten. Die Verurteilungen sind auch noch nicht getilgt. Das seinerzeitige Aufenthaltsverbot wäre daher nach geänderter Rechtslage ein Einreiseverbot, welches unter die Bestimmung des § 53 Abs 3 Z 1 FPG zu subsumieren ist und ein Einreiseverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren rechtfertigen würde. Wie oben bereits dargestellt, besteht für ein unbefristetes oder auf die Dauer von höchstens zehn Jahren befristetes Einreiseverbot kein Antragsrecht auf Aufhebung.

Mangels eines Rechtsanspruches bzw. Antragsrechtes war daher der Antrag des Berufungswerbers auf Aufhebung des Aufenthaltverbotes in Anwendung der umfassenden Abänderungsbefugnis der Berufungsbehörde gemäß § 66 Abs 4 AVG spruchgemäß zurückzuweisen."

3. In der dagegen erhobenen Beschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten nach Art 83 Abs 2 B-VG, Art 6, 8 und 14 EMRK sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander geltend und behauptet weiters die Verfassungswidrigkeit des § 60 Abs 1 FPG, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 38/2011. Durch die Zurückweisung der Berufung habe der UVS dem Beschwerdeführer eine Sachentscheidung verweigert. Da der Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots vor dem In-Kraft-Treten des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011, BGBl. I 38/2011 (im Folgenden: FrÄG 2011), gestellt worden sei, hätte die belangte Behörde auch die entsprechende Bestimmung des FPG in der damaligen Fassung anwenden müssen. Auch das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK hätte es geboten, über den Antrag des Beschwerdeführers inhaltlich abzusprechen. Durch die angefochtene Entscheidung sei er auch in seinem Recht nach Art 8 EMRK verletzt worden, weil er bereits seit 17 Jahren in Österreich lebe, die deutsche Sprache erlernt, eine Ausbildung absolviert habe und einer gesicherten Erwerbstätigkeit nachgehe, weshalb seine Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet als "settled migrant" die Interessen an seiner Außerlandesschaffung jedenfalls überwögen. Die vom UVS angewandte Bestimmung des § 60 Abs 1 FPG sei unsachlich, weil kein sachlich gerechtfertigter Grund bestehe, "warum ein Antragsrecht zur Aufhebung lediglich für Einreiseverbote gem. § 53 Abs 1 und 2 FPG weiterbestehen sollte, jedoch nicht mehr für Aufenthaltsverbote[,] die die Dauer von fünf Jahren übersteigen".

4. Der UVS hat von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen und dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungsakten übermittelt.

II. Erwägungen

1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die -

zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , G74/12, § 60 Abs 1 FPG, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 38/2011, als verfassungswidrig aufgehoben.

1.2. Gemäß Art 140 Abs 7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Rechtsvorschrift bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art 140 Abs 7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10.616/1985, 11.711/1988). Im - hier allerdings nicht gegebenen - Fall einer Beschwerde gegen einen Bescheid, dem ein auf Antrag eingeleitetes Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, muss dieser verfahrenseinleitende Antrag überdies vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 2.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg. 17.687/2005).

1.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am . Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; der ihr zugrunde liegende Fall ist somit einem Anlassfall gleichzuhalten.

Die belangte Behörde wendete bei Erlassung des angefochtenen Bescheides die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben. Im fortzusetzenden Verwaltungsverfahren wird die belangte Behörde die Übergangsbestimmung des § 125 Abs 16 FPG sowie die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu beachten haben (vgl. ).

2. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß § 19 Abs 4 Z 3 VfGG abgesehen.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- enthalten.