VfGH vom 26.02.1990, B1186/89
Sammlungsnummer
12258
Leitsatz
Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und kurzfristige Anhaltung; "erniedrigende Behandlung" durch Leibesvisitation in sachlich nicht gerechtfertigter Form
Spruch
1.a) Die Beschwerdeführerin ist dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien sie am um 15,05 Uhr festnahmen und in der Folge bis 15,50 Uhr anhielten, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden. In diesem Umfang wird die Beschwerde abgewiesen.
b) Hingegen ist die Beschwerdeführerin durch die Art und Weise, wie am in Wien ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien bei ihr eine Leibesvisitation durchführte, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK) verletzt worden.
2. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführerin beantragt in der vorliegenden, auf Art 144 Abs 1 (zweiter Satz) B-VG gestützten Beschwerde der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, am in Wien dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion (BPD) Wien a) sie um 15,05 Uhr festnahmen und bis 15,50 Uhr anhielten, sowie b) sie zur Duldung einer menschenunwürdigen Leibesvisitation veranlaßten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden zu sein.
2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene BPD Wien als belangte Behörde legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellt, die Beschwerde a) als verspätet zurückzuweisen, b) sie als unbegründet abzuweisen, in eventu als unzulässig zurückzuweisen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1.a) Gemäß § 82 Abs 2 VerfGG kann die Beschwerde gegen einen in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangenen Verwaltungsakt nur innerhalb einer Frist von sechs Wochen erhoben werden. Diese Frist begann hier am und endete am .
Die (selbstverfaßte), mit dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe verbundene Beschwerde wurde am zur Post gegeben.
In der Folge wurde der Beschwerdeführerin die Verfahrenshilfe bewilligt. Der Ausschuß der Rechtsanwaltskammer Wien bestellte sodann mit Bescheid vom einen Rechtsanwalt zum Verfahrenshelfer. Der Verfassungsgerichtshof übermittelte dem Rechtsanwalt mit Schreiben vom den Bestellungsbescheid und forderte ihn gemäß §§18 und 35 VerfGG iVm § 85 Abs 2 ZPO auf, innerhalb von sechs Wochen die von der Beschwerdeführerin selbst verfaßte Beschwerde verbessert einzubringen. Dieser Aufforderung kam der Beschwerdevertreter mit dem am zur Post gegebenen Schriftsatz nach.
Die selbst verfaßte Beschwerde wurde innerhalb der in § 82 Abs 2 VerfGG vorgesehenen sechswöchigen Frist eingebracht und der Mangel der Unterschrift eines Rechtsanwaltes (§17 Abs 2 VerfGG) innerhalb der vom Verfassungsgerichtshof gesetzten Frist behoben (§82 Abs 2 VerfGG).
Die Beschwerde wurde sohin rechtzeitig eingebracht.
b) Eine Festnahme und eine Anhaltung durch Polizeiorgane stellen ebenso wie eine Leibesvisitation Maßnahmen dar, die in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergingen und nach Art 144 Abs 1 zweiter Satz B-VG beim Verfassungsgerichtshof bekämpfbar sind (vgl. zB VfSlg. 10 661/1985, 11 146/1986).
c) Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2.a) Der Verfassungsgerichtshof nimmt aufgrund des vorgelegten Verwaltungsstrafaktes der BPD Wien Zl. Pst 14756-L/89 und der Ausführungen der Parteien dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens folgenden Sachverhalt als erwiesen an:
Die Beschwerdeführerin begab sich (im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters) aufgrund einer Ladung in Begleitung mehrerer Verwandter am um etwa 14,30 Uhr ins Gebäude des Bezirkspolizeikommissariates Leopoldstadt. Die Beschwerdeführerin empörte sich über - zwar nicht an sie gerichtete - von ihr als fremdenfeindlich verstandene Äußerungen eines Polizeibeamten. In der Folge eskalierte die verbale Auseinandersetzung zwischen ihr und mehreren Polizeibeamten. Die Beschwerdeführerin schrie - ungeachtet wiederholter Abmahnungen - lautstark auf die Beamten ein. Dadurch wurde der Dienstbetrieb im Wachzimmer Leopoldsgasse erheblich gestört; so konnten zwei vorsprechende Parteien längere Zeit ihr Begehren nicht vorbringen.
Nachdem die Beschwerdeführerin neuerliche Abmahnungen und die Aufforderung, das Wachzimmer zu verlassen, unbeachtet gelassen hatte, wurde sie schließlich um 15,05 Uhr von einem Sicherheitswachebeamten (SWB) festgenommen und in das Arrestlokal gebracht.
Dort wurde sie von einer Kriminalbeamtin visitiert. Sie mußte sich völlig entkleiden und auch die von ihr getragene Monatsbinde vorweisen und ausschütteln.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, wurde sie um 15,50 Uhr aus der Haft entlassen.
Das gegen sie wegen Verdachtes der Übertretungen nach Art. VIII zweiter Fall und Art. IX Abs 1 Z 1 EGVG eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren, Zl. Pst 14756/L/89, wurde bisher noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.
b) Der Verfassungsgerichtshof folgt bei dieser Sachverhaltsfeststellung den Angaben in der Anzeige des Wachzimmers Leopoldsgasse und den im Zuge des erwähnten Verfahrens abgelegten - übereinstimmenden - Zeugenaussagen der Polizeibeamten.
Auch der Vertreter der Beschwerdeführerin (anläßlich der Verantwortung als Beschuldigte) und ihr Bruder (anläßlich seiner Einvernahme als Zeuge) räumen ein, daß es zu einer Auseinandersetzung der Beschwerdeführerin mit den Polizeibeamten gekommen und daß die Stimmlage der Beschwerdeführerin laut gewesen sei.
3. Diesen Sachverhalt beurteilt der Verfassungsgerichtshof rechtlich wie folgt:
a) Zur Festnahme und Anhaltung
aa) Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958, 10 661/1985).
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem § 4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§ 35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz, doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lit. a bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung stafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974, 10 661/1985).
Gemäß § 35 litc VStG 1950 (auf den sich die Behörde als Festnahmegrund insbesondere beruft) ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der stafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
bb) Wie aus dem vorgelegten Verwaltungsakt hervorgeht, erachteten die einschreitenden SWB die Beschwerdeführerin der Verwaltungsübertretungen nach Art. VIII zweiter Fall und Art. IX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 verdächtig; hiefür hatten sie guten Grund:
Gemäß Art. VIII zweiter Fall EGVG 1950 begeht eine Verwaltungsübertretung, wer ungebührlicherweise störenden Lärm erregt. Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH (zB Z 2528/79 vom mit den dort enthaltenen weiteren Judikaturhinweisen), welcher sich der Verfassungsgerichshof anschließt (vgl. VfSlg. 10 658/1985), setzt die Verwirklichung des Tatbildes dieser Verbotsnorm voraus, daß der Täter Lärm erregt hat, der einerseits ungebührlich war (also gegen ein Verhalten verstoßen hat, wie es im Zusammenleben mit anderen verlangt werden muß und jene Rücksichtnahme vermissen läßt, die die Umwelt verlangen kann) und andererseits von unbeteiligten Personen als störend empfunden worden ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (s. zB VfSlg. 10 112/1984, 11 146/1986) ist das Tatbild der Ordnungsstörung nach Art. IX Abs 1 Z 1 EGVG dadurch gekennzeichnet, daß der Täter ein Verhalten setzt, welches objektiv geeignet ist, Ärgernis zu erregen, und daß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört wird, was ua. dann der Fall ist, wenn eine Handlung geeignet ist, bei anderen, unbefangenen Menschen die lebhafte Empfindung des Unerlaubten hervorzurufen.
Nach den oben zu II.2.a getroffenen Feststellungen konnten die SWB zumindest vertretbarerweise meinen, daß sich die Beschwerdeführerin der beiden erwähnten Verwaltungsübertretungen schuldig gemacht und daß sie trotz Abmahnung die strafbaren Handlungen fortgesetzt habe. Wenngleich die Beamten durch ihre Äußerungen, die von der Beschwerdeführerin als fremdenfeindlich verstanden werden konnten, und durch ihr weiteres Verhalten die Eskalation des Vorfalles (mit) bewirkt haben mögen, konnten die SWB dennoch mit Grund annehmen, daß die Beschwerdeführerin objektiv die erwähnten Tatbilder verwirklicht habe.
Die Festnahme der Beschwerdeführerin war sohin gesetzmäßig.
cc) Die Beschwerdeführerin wurde um 15,05 Uhr festgenommen und - nachdem sie sich beruhigt hatte - bereits um 15,50 Uhr wieder enthaftet. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Anhaltung - entgegen dem § 36 VStG - übermäßig lang gedauert hätte.
dd) Aus dem Gesagten folgt, daß die Festnahme und die Anhaltung der Beschwerdeführerin im Gesetz gedeckt war und daß sie daher weder im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit noch in einem sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt wurde.
Da der Verfassungsgerichtshof unter dem Gesichtspunkt dieser Beschwerde keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die die angefochtenen Verwaltungsakte tragenden Rechtsvorschriften hat, wurde die Beschwerdeführerin durch die Festnahme und Anhaltung auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt.
Die Beschwerde war sohin in diesem Umfang abzuweisen.
b) Zur Leibesvisitation
Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 210/1958, die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art 3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
Ein Sicherheitsorgan, das einem neueingelieferten Gefangenen befiehlt, sich (teilweise) zu entkleiden und einer Leibesvisitation zu unterwerfen, verletzt nicht zwingend die Verfassungsbestimmung des Art 3 MRK. Vielmehr verstößt ein derartiger Akt verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt gegen das in Art 3 MRK verfassungsgesetzlich statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" nur dann, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihm eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist (vgl. zB VfSlg. 10 661/1985 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).
Der Befehl, sich zu entkleiden und auch die getragene Damenbinde vorzuweisen, stellt jedenfalls dann eine "erniedrigende Behandlung" dar, wenn dieses Vorgehen nicht aus sachlichen Gründen dringend geboten ist (vgl. VfSlg. 10 661/1985); zur Verpflichtung der Behörde, Gewalt maßhaltend anzuwenden, vgl. etwa VfSlg. 11 228/1987, 11 229/1987, 11 230/1987, 11 327/1987, 11 329/1987, 11 508/1987.
Von solchen Gründen kann hier keine Rede sein: Die Beschwerdeführerin wurde im Zusammenhang mit geringfügigen Verwaltungsübertretungen festgenommen. Es bestand kein Anhaltspunkt dafür, daß sie im Besitz von Gegenständen wäre, die für sie oder für andere Personen eine Gefahr bilden könnten (etwa von Waffen oder von Suchtgift). Es war von vornherein beabsichtigt, die Beschwerdeführerin nur kurzfristig (nämlich nur solange, bis sie sich beruhigt hatte) anzuhalten.
Unter diesen Umständen war es keineswegs notwendig, die Beschwerdeführerin dazu zu verhalten, sich einer in der geschilderten Weise vorgenommenen Leibesvisitation zu unterziehen.
Dadurch wurde sie als (von Rechts wegen) ihrer Freiheit Beraubte in einer derart unzumutbaren Weise bloßgestellt, gedemütigt und in ihrer Ehre getroffen, daß bereits von einer "erniedrigenden", die Menschenwürde verletzenden Behandlung iS des Art 3 MRK gesprochen werden muß.
Daraus folgt, daß die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK) verletzt wurde.
4. Die Kostenentscheidung (Pkt. 2 des Spruches) fußt auf § 88 VerfGG. Angesichts des Gesamtergebnisses des Beschwerdeverfahrens (teils Abweisung, teils Stattgebung der Beschwerde) wurden die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben (vgl. zB VfSlg. 10 662/1985).
5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.