OGH vom 24.06.2020, 10Ob19/20x

OGH vom 24.06.2020, 10Ob19/20x

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr.

Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj E*****, geboren ***** 2013, vertreten durch das Land Niederösterreich (Bezirkshauptmannschaft Melk, 3390 Melk, Abt Karl-Straße 25a) als Kinder- und Jugendhilfeträger, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 42/20d-36, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Melk vom , GZ 1 Pu 88/13i-30, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der aus Kenia stammende Vater verpflichtete sich anlässlich der Anerkennung seiner Vaterschaft im April 2013 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 100 EUR für das im Jänner 2013 geborene Kind. Der Unterhaltsvereinbarung lag ein damaliges Einkommen aus einem Lehrverhältnis in Österreich zugrunde.

Der Vater befand sich ab Februar 2014 in Haft, weshalb Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG von bis gewährt wurden (ON 5). Im Anschluss an diese Haftvorschüsse wurden mit Beschluss vom aufgrund der Unterhaltsvereinbarung Titelvorschüsse über monatlich 100 EUR von bis gewährt (ON 7).

Der Unterhaltsschuldner wurde im August 2014 neuerlich inhaftiert. Die Titelvorschüsse wurden von bis wiederum auf Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG umgestellt (ON 14).

Nach Entlassung des Vaters im Oktober 2015 wurde die Gewährung von Haftvorschüssen mit Ablauf des Oktober 2015 beendet. Die Titelvorschüsse wurden bis wieder in Geltung gesetzt (ON 19).

Aufgrund einer neuerlichen Inhaftierung des Vaters am wurden die Titelvorschüsse wieder auf Haftvorschüsse umgestellt (ON 26). Der Unterhaltsschuldner befand sich zuletzt in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.

Im Dezember 2019 beantragte das durch den Kinder und Jugendhilfeträger (KJHT) vertretene Kind, das österreichische Staatsbürgerin ist und in Österreich bei der Mutter lebt, Titelvorschüsse nach § 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 100 EUR monatlich (ON 28). Der Vater sei in Kenia unbekannten Aufenthalts, eine Exekution sei nicht zielführend.

Das Erstgericht bewilligte mit Beschluss vom diesen Antrag und gewährte Titelvorschüsse in Höhe von 100 EUR von bis (ON 30). Gleichzeitig bestellte es einen Rechtsanwalt zum Zustellkurator für den Vater (ON 29).

Gegen den Beschluss über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen erhob der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, einen Rekurs mit den Abänderungsanträgen auf a) Umstellung der mit Beschluss vom gewährten Haftvorschüsse mit Ablauf des nach § 7 Abs 2 UVG wieder auf Titelvorschüsse, b) Einstellung der Gewährung von Titelvorschüssen mit Ablauf des nach § 7 Abs 1 UVG und c) Abweisung des Antrags vom auf Gewährung von Titelvorschüssen.

Das Rekursgericht änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass die dem Kind mit Beschluss vom gewährten Haftvorschüsse mit Ablauf eingestellt und gemäß § 7 Abs 2 UVG wieder auf bis zum zu gewährende Titelvorschüsse nach § 3, 4 Z 1 UVG umgestellt und der Antrag des Kindes vom auf Gewährung von Titelvorschüssen zurückgewiesen wurden. Nach seiner rechtlichen Beurteilung hätte das Erstgericht nach Kenntnis von der tatsächlich am erfolgten bedingten Entlassung des unterhaltspflichtigen Vaters von Amts wegen die Haftvorschüsse wieder auf Titelvorschüsse umstellen müssen. Die Entscheidung des Erstgerichts, das nur über den neuen Antrag auf Gewährung von Titelvorschüssen entschieden habe, sei unvollständig geblieben. Sinngemäß liege eine unvollständige Erledigung von Sachanträgen als Mangelhaftigkeit des Verfahrens vor (§ 57 Z 3 AußStrG). Das Rekursgericht sei funktional zuständig, von Amts wegen den angefochtenen Beschluss um diesen fehlenden Ausspruch zu ergänzen. Nach § 7 Abs 2 zweiter Satz UVG seien (unter anderem) Titelvorschüsse mit der Beendigung einer Freiheitsstrafe des Unterhaltsschuldners auf Antrag oder von Amts wegen unverändert wieder in Geltung zu setzen. Dabei dürften – ausgenommen die im Gesetz genannte Minderjährigkeit des unterhaltsberechtigten Kindes – die Voraussetzungen für die Gewährung von Titelvorschüssen nicht neuerlich geprüft werden. In der Lehre werde eine teleologische Reduktion des jede Prüfung ausschließenden Gesetzeswortlauts befürwortet. Danach solle jedenfalls eine Prüfung iSd § 7 Abs 1 UVG ausgeschlossen sein. Berechtigt sei daher der Rekursantrag auf Umwandlung der Haftvorschüsse auf Titelvorschüsse mit Ablauf des Juli 2019. Aufgrund des Wiederauflebens der Titelvorschussgewährung ab sei der auf eine Neugewährung gerichtete Antrag des Kindes vom Dezember 2019 entbehrlich oder verfehlt und daher zurückzuweisen.

Die noch vor Abänderung des Zulassungsausspruchs eingebrachte, als (verfrühte) Revisionsrekursbeantwortung zu wertende Stellungnahme des Kindes vom hat das Rekursgericht in seinem Beschluss über die Freistellung der Revisionsrekursbeantwortung rechtskräftig zurückgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Der – zur Klärung des Prüfungsumfangs iSd § 7 Abs 2 UVG nachträglich zugelassene – Revisionsrekurs des Bundes ist nicht zulässig.

1. Eine Entscheidung des Rekursgerichts darf grundsätzlich nur im Rahmen des Rekursbegehrens ergehen. In Verfahren, die von Amts wegen eingeleitet werden können, ist das Rekursgericht an das Rekursbegehren nicht gebunden; es kann infolge eines Rekurses über den gesamten Verfahrensgegenstand, über den das Erstgericht entschieden hat, entscheiden und den Beschluss auch zum Nachteil der anfechtenden Partei abändern (§ 55 Abs 2 AußStrG).

2. Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen erfolgt nur auf Antrag (§ 11 Abs 1 UVG). Das Verfahren über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ist kein von Amts wegen einzuleitendes Verfahren iSd § 55 Abs 2 Satz 2 AußStrG (10 Ob 42/15x, RISJustiz RS0130216).

3. Das Erstgericht hat ausschließlich über den Antrag des Kindes vom Dezember 2019 auf (Neu)Gewährung von Titelvorschüssen nach den § 3, 4 Z 1 UVG (auf Basis der Antragsangaben) entschieden. Ein solcher „Neuantrag“ ist nicht ausgeschlossen (10 Ob 111/15v, RISJustiz RS0130648). Richtig ist, dass ein WiederinGeltungSetzen der früheren Titelvorschüsse keinen Antrag voraussetzt: Nach § 7 Abs 2 Satz 2 UVG mussten die dem Kind vor Umstellung auf Haftvorschüsse (§ 7 Abs 2 Satz 1, § 4 Z 3 UVG) gewährten Titelvorschüsse auf Antrag oder von Amts wegen (nachdem das Gericht davon Kenntnis erlangt) ohne Prüfung der Voraussetzungen der Gewährung wieder in Geltung gesetzt werden. Ausgeschlossen wird im Sinn einer teleologischen Reduktion allein eine Prüfung nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG. Ob also ein formell noch aufrecht bestehender Unterhaltstitel materiell (im vollen Umfang) noch besteht, darf nicht geprüft werden. Die Bestimmungen der § 19 und 20 UVG bleiben davon aber unberührt (Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB4 I § 7 UVG Rz 49).

4. Die – hier relevante – Bestimmung des § 20 Abs 1 Z 4 lit b ermöglicht somit iVm mit § 7 Abs 1 UVG die amtswegige oder über Antrag erfolgte Einleitung des Verfahrens, in dem das materielle Erlöschen eines formell aufrechten Unterhaltstitels geprüft wird. Auf dieser Grundlage können zufolge § 7 Abs 2 Satz 2 UVG wieder aufgelebte Titelvorschüsse (nach § 20 Abs 2 UVG auch rückwirkend) eingestellt werden.

5. Der Bund beantragt in seinem Revisionsrekurs dieselbe Abänderung wie bereits in seinem Rekurs: a) die Umstellung der Haftvorschüsse auf Titelvorschüsse mit Ablauf des gemäß § 7 Abs 2 UVG b) die Einstellung dieser wieder in Geltung gesetzten Titelvorschüsse mit Ablauf des gemäß § 7 Abs 1 UVG und c) die Abweisung des Antrags auf Gewährung von Titelvorschüssen vom .

6. Die Rekursanträge des Bundes auf Wiederherstellung der Titelvorschüsse unter gleichzeitiger Einstellung dieser Vorschüsse nach § 20 Abs 1 Z 4 UVG iVm § 7 Abs 1 Z 1 UVG waren inhaltlich auf die Einleitung eines entsprechenden Verfahrens in erster Instanz gerichtet. Ob das Rekursgericht seine funktionale Zuständigkeit verletzt hat, wenn es das Wiederaufleben der Titelvorschüsse im Rahmen einer Abänderung der Entscheidung des Erstgerichts aussprach, kann dahingestellt bleiben. Dadurch erachtet sich der Revisionsrekurswerber nämlich als nicht beschwert, weil diese in § 7 Abs 2 Satz 1 UVG angeordnete Umwandlung grundsätzlich seinem (Rechtsmittel)Begehren entspricht. Inhaltlich gesteht er zu, dass das ungeprüfte WiederinGeltungSetzen der früheren Titelvorschüsse zu Recht erfolgte. Dies wurde auch vom Kind nicht bekämpft und ist daher insoweit rechtskräftig. Der Bund bemängelt lediglich, dass das Rekursgericht die Titelvorschüsse nicht gleichzeitig von Amts wegen nach § 20 Abs 1 Z 4 lit b iVm § 7 Abs 1 Z 1 UVG eingestellt hat. Der Vater sei nach Verhängung eines Aufenthaltsverbots und bedingter Entlassung aus der Strafhaft nach Kenia abgeschoben worden, dort unbekannten Aufenthalts und verfüge in Österreich weder über ein Einkommen noch über Vermögen. Daher sei er zu überhaupt keiner Unterhaltsleistung mehr fähig.

7. Über die Einstellung nach § 20 Abs 1 Z 4 UVG iVm § 7 Abs 1 Z 1 UVG, die der dazu legitimierte (RS0111782) Bund ebenfalls beantragte, haben weder Erstgericht noch Rekursgericht ausdrücklich im Spruch entschieden. Das gesteht der Bund in seinem Revisionsrekurs zu. Der Bund ist zwar unabhängig davon, ob er einen Antrag gestellt hat oder nicht, berechtigt, Beschlüsse im Verfahren über die Herabsetzung oder Einstellung von Unterhaltsvorschüssen zu bekämpfen, wenn er weiterhin zu Zahlungen verpflichtet ist (10 Ob 28/09d, RS0124788; RS0111782). Das ändert aber nichts daran, dass ein Rechtsmittel gegen eine gar nicht erfolgte Anordnung im Zusammenhang mit der Einstellung der Unterhaltsvorschüsse nicht zulässig ist.

8. Das Erstgericht hat bisher nicht über eine Einstellung von Unterhaltsvorschüssen entschieden, weshalb diese nicht Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist. Eine amtswegige Einstellung der Vorschüsse durch das Rechtsmittelgericht kommt nicht in Betracht, weil dafür das Gericht erster Instanz zuständig ist (10 Ob 42/15x).

9. Das Kind hat kein Rechtsmittel gegen die Zurückweisung seines Antrags auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach den § 3, 4 Z 1 UVG erhoben. Dem Bund fehlt die Beschwer, wenn er in seinem Revisionsrekurs die Abweisung statt der Zurückweisung beantragt.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:0100OB00019.20X.0624.000

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