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VfGH vom 16.06.1998, B1172/96

VfGH vom 16.06.1998, B1172/96

Sammlungsnummer

15187

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit zur Frage der Rechtzeitigkeit von Einwendungen der Nachbarn in einem Widmungsbewilligungsverfahren; keine Überprüfungsbefugnis der Berufungsbehörde hinsichtlich präkludierter Einwendungen

Spruch

Die beschwerdeführenden Österreichischen Bundesbahnen sind durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Die Landeshauptstadt Graz ist schuldig, den beschwerdeführenden Österreichischen Bundesbahnen zu Handen der Finanzprokuratur die mit S 12.500,- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Bescheid der Berufungskommission der Landeshauptstadt Graz vom wurde der Berufung der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) gegen den Bescheid des Stadtsenates der Landeshauptstadt Graz, mit welchem der mitbeteiligten Partei gemäß den §§2 und 3 der Steiermärkischen Bauordnung 1968, LGBl. 149 idF LGBl. 43/1992, (im folgenden: Stmk. BauO 1968), unter Festsetzung von Bebauungsgrundlagen und Vorschreibung von Auflagen die Widmung für das Grundstück Nr. 202/2, KG Gösting, bewilligt wurde, keine Folge gegeben. Das Grundstück Nr. 202/2, KG Gösting, ist im rechtskräftigen 2.0 Flächenwidmungsplan 1992 der Landeshauptstadt Graz, vom Gemeinderat beschlossen am , und , genehmigt mit Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom , kundgemacht im Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz vom , (im folgenden: 2.0 Flächenwidmungsplan 1992) als "Reines Wohngebiet" ausgewiesen.

2. Gegen den Bescheid der Berufungskommission der Landeshauptstadt Graz vom richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde der ÖBB, mit der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und "in eventu" auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sowie der Sache nach die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm behauptet wird.

3. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Schreiben vom die Berufungskommission der Landeshauptstadt Graz als belangte Behörde aufgefordert, die Verwaltungsakten vorzulegen, und ihr die Gelegenheit zur Erstattung einer Gegenschrift eingeräumt.

Der daraufhin vom Magistrat Graz "(f)ür die Berufungskommission" eingebrachten Gegenschrift vom liegt - wie eine telefonische Anfrage vom beim Sachbearbeiter des Magistrates Graz, der die Gegenschrift unterfertigt hat, ergeben hat - kein Beschluß des zuständigen Kollegialorganes zugrunde, sodaß die Ausführungen in der "Gegenschrift" nicht berücksichtigt werden können.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Aus den Verwaltungsakten ergibt sich folgender entscheidungsrelevanter Sachverhalt:

Am beantragte E. O. die Bewilligung der Widmung des Grundstückes Nr. 202/2, EZ 666, KG Gösting, gemäß den §§2 und 3 der Steiermärkischen Bauordnung 1968 idF LGBl. 43/1992.

Zu der für , 9.30 Uhr anberaumten mündlichen Verhandlung wurde die ÖBB, die nunmehrige beschwerdeführende Partei, als Nachbar geladen.

In der Verhandlungsschrift über diese mündliche Verhandlung scheint unter den anwesenden Teilnehmern ein "Baumeister F."

(richtig wohl "Bahnmeister") auf. Weiters ist festgehalten, daß von den Nachbarn keine Einwendungen erhoben wurden. Die Verhandlungsschrift ist von H. F. mit der Beifügung "(ÖBB)" unterfertigt.

In ihrer Berufung vom behauptet die beschwerdeführende Partei, sie hätte anläßlich der Widmungsverhandlung am vorgebracht, daß die Widmung des Grundstückes Nr. 202/2, KG Gösting, zu einem Bauplatz mit dem zulässigen Verwendungszweck "Reines Wohnen" wegen der Nähe zur Eisenbahn und der nicht auszuschließenden Beeinträchtigung der Wohnqualität durch Lärm- und Erschütterungseinflüsse, bedingt durch den rechtmäßigen Bestand und Betrieb der Eisenbahn, abzulehnen sei.

Am teilte der Magistrat Graz den ÖBB mit, die ÖBB seien bei der mündlichen Verhandlung durch Baumeister (richtig wohl: Bahnmeister) F. vertreten gewesen; dieser habe allerdings, wie aus der Verhandlungsschrift ersichtlich sei, keine Einwendungen erhoben. Die inhaltliche Behandlung der Berufung durch die Berufungsbehörde sei nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes davon abhängig, ob der Nachbar rechtzeitig Einwendungen erhoben hat, was im gegenständlichen Fall nach der Aktenlage nicht zuzutreffen scheine.

Der Magistrat Graz gab den ÖBB Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen Stellung zu nehmen.

Am teilten die ÖBB mit, Herr F. habe die Einwände der ÖBB anläßlich der mündlichen Widmungsverhandlung vorgebracht und habe vorgehabt, eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Der Verhandlungsleiter habe die Einwendungen der ÖBB abgelehnt und nicht zu Protokoll genommen.

Weiters legten die ÖBB eine mit datierte schriftliche Erklärung der Widmungswerberin mit folgendem Wortlaut vor:

"Die Bauwerberin wurde auf die Einwände der ÖBB hingewie(s)en und unterschreibt erst nach Rücksprache mit ihre(m) Baumeister."

Die Berufungsbehörde führte kein Ermittlungsverfahren bezüglich des Verlaufes der mündlichen Verhandlung durch und stellte in der Begründung des angefochtenen Bescheides fest:

"Bei Überprüfung der Frage, ob seitens der Berufungswerberin rechtzeitig zulässige Einwendungen erhoben wurden, ergibt sich, daß die Österreichischen Bundesbahnen in der mündlichen Verhandlung durch Herrn F. vertreten wurden und in der Verhandlungsschrift kein Nachbarvorbringen festgehalten ist. Allerdings wäre der Berufungswerberin auch bei rechtzeitiger Erhebung der in der Berufung erhobenen Einwendungen - im Schriftsatz vom wird der Verhandlungsverlauf dargestellt und die Stellungnahme wiedergegeben - kein Erfolg beschieden gewesen, da sich diese Einwendungen vielmehr gegen die Ausweisung des gegenständlichen Bauplatzes als 'Reines Wohngebiet' im Flächenwidmungsplan 1992 der Landeshauptstadt Graz richten."

2. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt ua. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10338/1985, 11213/1987).

Gemäß § 2 Abs 1 Stmk. BauO 1968 bedarf die Widmung von Grund zu einem oder mehreren Bauplätzen der Bewilligung der Baubehörde. Über das Ansuchen ist gemäß § 3 Abs 1 leg. cit. in der Regel eine örtliche Erhebung und mündliche Verhandlung durchzuführen. Hiebei sind die Bestimmungen über die Bauverhandlung (§61) sinngemäß anzuwenden. Gemäß § 61 Abs 2 Stmk. BauO 1968 kann der Nachbar gegen die Erteilung der Baubewilligung Einwendungen erheben, wenn diese sich auf Bauvorschriften beziehen, die nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern auch dem Interesse der Nachbarn dienen.

Gemäß § 42 Abs 1 und 2 AVG finden Einwendungen von zu einer mündlichen Verhandlung geladenen Beteiligten, die nicht bis spätestens am Tag vor Beginn der Verhandlung bei der Behörde oder während der Verhandlung vorgebracht wurden, keine Berücksichtigung und es wird angenommen, daß die Beteiligten dem Parteiantrag, dem Vorhaben oder der Maßnahme, die den Gegenstand der Verhandlung bilden, zustimmen (Präklusion).

Eine eingetretene Präklusion ist auch im Berufungsverfahren zu beachten. Der Verfassungsgerichtshof folgt der mit dem Erkenntnis des verstärkten Senates VwSlg. 10.317 A eingeleiteten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach die Präklusion die Überprüfungsbefugnis der Berufungsbehörde insofern einschränkt, als sie präkludierte Einwendungen nicht mehr aufgreifen darf.

Wäre im vorliegenden Fall die beschwerdeführende Partei präkludiert, so hätte die Berufungsbehörde keine Zuständigkeit, den mit Berufung bekämpften Widmungsbewilligungsbescheid inhaltlich zu überprüfen. Die Berufungsbehörde darf die Frage, ob Präklusion eingetreten ist, nicht offen lassen, weil von der Beantwortung dieser Frage die meritorische Überprüfungsbefugnis der Berufungsbehörde abhängt.

Die Berufungsbehörde hätte vielmehr in einem Ermittlungsverfahren die Frage klären müssen, ob die beschwerdeführende Partei rechtzeitig Einwendungen erhoben hat. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, daß gemäß § 15 AVG eine gemäß den Bestimmungen des § 14 AVG aufgenommene Niederschrift - soweit nicht Einwendungen erhoben wurden - über den Verlauf und den Gegenstand der betreffenden Amtshandlung vollen Beweis liefert. Jedoch bleibt der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des bezeugten Vorganges zulässig.

Dadurch, daß die belangte Behörde - angesichts der Unterlagen in den Verwaltungsakten - jegliche Ermittlungstätigkeit zur Frage unterlassen hat, ob die ÖBB im Widmungsbewilligungsverfahren rechtzeitig Einwendungen erhoben haben, hat sie den Bescheid mit Gleichheitswidrigkeit belastet.

Der bekämpfte Bescheid war daher aufzuheben.

3. Den - durch die Finanzprokuratur vertretenen (vgl. § 19 Abs 6 Bundesbahngesetz 1992) - obsiegenden ÖBB waren gemäß § 88 VerfGG 1953 die begehrten Kosten in der Höhe von S 12.500,-

zuzusprechen.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.