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VfGH vom 12.06.1989, B1166/88

VfGH vom 12.06.1989, B1166/88

Sammlungsnummer

12031

Leitsatz

Keine Bedenken gegen § 35 litc VStG 1950; vertretbare Annahme einer Übertetung des ArtIX Abs 1 Z 2 EGVG 1950 (ungestümes Benehmen); Festnahme in § 35 litc VStG 1950 gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch seine am in Innsbruck von einem Organ der dortigen Bundespolizeidirektion verfügte Festnahme weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

II. Der Beschwerdeführer ist schuldig, dem Bund zu Handen der Finanzprokuratur die mit 20.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. G R begehrte in seiner Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gemäß Art 144 (Abs1) B-VG die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch eine (der Bundespolizeidirektion Innsbruck zuzurechnende) exekutive Amtshandlung, nämlich seine Festnahme am in Innsbruck, demnach durch einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG, Art 5 EMRK) sowie in seinen Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes, nämlich des § 35 litc VStG 1950, verletzt worden sei.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Innsbruck als belangte Behörde erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Beschwerdeführer am um 1 Uhr 36 in der Maria-Theresien-Straße in Innsbruck von dem dort Funkstreifendienst versehenden Revierinspektor G R ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs 1 Z 2 EGVG 1950 ("ungestümes Benehmen") gemäß § 35 litc VStG 1950 (vorübergehend) festgenommen wurde.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art 144 Abs 1 Satz 2 B-VG idF der Novelle BGBl. 302/1975 erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies zB für die Festnehmung einer Person zutrifft (vgl. VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 10.112/1984).

2.1.2. Da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.1.1. Der Beschwerdeführer hält zunächst dafür, daß die - hier präjudizielle - Bestimmung des § 35 litc VStG 1950 verfassungswidrig sei, weil sie Festnahmen auch wegen geringfügiger Verwaltungsübertretungen vorsehe und dem unüberprüfbaren Ermessen der einschreitenden Sicherheitsorgane anheimstelle.

2.2.1.2. Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 EMRK (s.

VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige

"Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958, 10.112/1984 ua.). Das Gesetz zum

Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8

StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867,

zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149

Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem § 4, daß

die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in

den "vom Gesetz bestimmten Fällen" eine Person in Verwahrung nehmen

dürfen. Eine derartige verwaltungsbehördliche Festnahmebefugnis

sieht die Vorschrift des § 35 litc VStG 1950 vor (zB

VfSlg. 7252/1974, ), gegen die nach

ständiger Judikatur des Verfassungsgerichtshofes - und auch aus der

Sicht dieser Beschwerdesache - verfassungsrechtliche Bedenken nicht

bestehen: Nichts deutet darauf hin, daß der einfache

Bundesgesetzgeber mit der Norm des § 35 litc VStG 1950 die

Verfassungsvorschrift des § 4 des Gesetzes zum Schutze der

persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, verletzt habe. Er übernahm

vielmehr mit der vom Beschwerdeführer relevierten und als

verfassungswidrig bezeichneten Wortfolge "Die Organe des

öffentlichen Sicherheitsdienstes dürfen . . . Personen . . .

festnehmen . . ." im ersten Satz des § 35 VStG 1950 nahezu

wortgleich den wesentlichen Regelungsinhalt der eben zitierten

Verfassungsnorm (: "Die zur Anhaltung berechtigten Organe der

öffentlichen Gewalt dürfen . . . eine Person in Verwahrung nehmen

. . ."). Damit wurde die Festnehmung eines Verdächtigen nach der

präjudiziellen Regel des § 35 litc VStG 1950 freilich nicht dem schrankenlosen Ermessen der Sicherheitsorgane überlassen, wie der Beschwerdeführer zu vermeinen scheint. Denn die Festnahme eines einer Verwaltungsübertretung Verdächtigen ist nur - nach Maßgabe des Gesetzeszweckes, das ist hier die Hinderung an der Fortsetzung der strafbaren Handlung; vgl. VfSlg. 3022/1956 - zulässig, wenn auch alle sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen (hier des § 35 litc VStG 1950) erfüllt sind (vgl. Hellbling, Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, Bd. II, S 253).

2.2.2.1. Die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in § 35 VStG 1950 angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) setzt voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zu Schulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden. Dabei ist die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund (= vertretbarerweise) annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974; ).

Gemäß § 35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

2.2.2.2. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß der Beschwerdeführer die Übertretung nach ArtIX Abs 1 Z 2 EGVG 1950 verübt habe (s. Punkt 1.2.).

2.2.2.3. Nach ArtIX Abs 1 Z 2 EGVG 1950 begeht eine Verwaltungsübertretung, wer "sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt."

Der Verfassungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung (zB VfSlg. 9229/1981, 9730/1983, 9921/1984, ) - in Übereinstimmung mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (zB VwSlg. 2263 A/1951, und Z 873/78) - die Auffassung, daß unter "ungestümem Benehmen" ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist (s. auch VfSlg. 7464/1974).

2.2.3.1. Dazu stellt der Verfassungsgerichtshof auf Grund der erhobenen Beweise folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:

Als der damals Funkstreifendienst versehende Revierinspektor G R am in der Maria-Theresien-Straße in Innsbruck gemeinsam mit dem ihn begleitenden Revierinspektor E W einen Radfahrer (R P) wegen rechtswidriger Fahrweise beanstandete, mengte sich der darüber verärgerte und erboste Beschwerdeführer, der hinzugetreten war, in die Amtshandlung ein, indem er die beiden Beamten gröblich beschimpfte. Aufgefordert, sich in die Amtshandlung nicht einzumischen, gestikulierte der Beschwerdeführer aufgeregt und aufgebracht heftig und andrängend mit den Armen; auch deutete er schreiend ("Idiot, willst du gescheit sein") mehrmals mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. Er wurde daraufhin von Inspektor R förmlich abgemahnt, vermochte sich aber nicht zu beruhigen, sondern schimpfte (lautstark) weiter ("Nur weil euch Idioten in der Nacht langweilig ist, belästigt ihr Radfahrer, in meinen Augen seid ihr komplette Idioten"). Auch eine zweite Abmahnung blieb ergebnislos. Der Beschwerdeführer setzte sein schreiendes und beleidigendes Verhalten beharrlich fort, nannte die Polizisten "Affen" und gebrauchte auch das Götzzitat. Daraufhin sprach G R die Festnahme des Beschwerdeführers gemäß § 35 litc VStG 1950 aus.

2.2.3.2. Diese Sachverhaltsfeststellungen zum Tathergang stützen sich in erster Linie auf die nach Lage der Verhältnisse - unter gebührender Berücksichtigung aller konkreten Begleitumstände - in den hier entscheidenden Punkten unbedenkliche und glaubhafte Aussage des als Zeugen einvernommenen Revierinspektors G R, dann aber auch des gleichfalls glaubwürdigen Zeugen E W sowie des Zeugen P, der zwar nicht die gesamten Geschehnisse schildern konnte - so hörte er nicht, daß das Wort "Idioten" gebraucht wurde - , aber bestätigte, daß der Beschwerdeführer heftig gestikulierte ("fuchtelte"). Alles in allem genommen wurde mit diesen Aussagen die (in wesentlichen Teilen) abweichende Aussage des als Partei gehörten Beschwerdeführers widerlegt, der allerdings selbst ausdrücklich zugestand, die einschreitenden Polizisten - vor seiner Festnahme - (wenn auch nur einmal) als "Idioten" beschimpft zu haben (Vernehmungsprotokoll vom ).

2.2.4. Angesichts dieser Sach- und Beweislage durfte der Zeuge G R mit gutem Grund annehmen, daß der (abgemahnte) Beschwerdeführer eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs 1 Z 2 EGVG 1950 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und Tatwiederholung trotz (neuerlicher) Abmahnung der Festnehmungsgrund des § 35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz.

2.2.5. Demzufolge wurde der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

2.3. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder ausdrücklich behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die dem bekämpften Verwaltungsakt zugrundeliegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden (s. schon Abschnitt 2.2.1.2.) - als unbegründet abzuweisen.

2.4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG 1953.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.