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OGH vom 19.11.2013, 10ObS107/13b

OGH vom 19.11.2013, 10ObS107/13b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Susanne Jonak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J**********, verteten durch Mag. Gerhard Eigner, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 53/13p 17, womit das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 14 Cgs 104/12v 13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,68 EUR (davon 62,28 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die beklagte Partei gewährte dem Kläger mit Bescheid vom Pflegegeld der Stufe 2 vom bis . Dem Gewährungsbescheid lag ein Pflegebedarf von durchschnittlich 105 Stunden im Monat zugrunde.

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom auf Weitergewährung des Pflegegeldes über den hinaus ab.

Das Erstgericht wies das gegen diesen Bescheid erhobene Klagebegehren, dem Kläger ab Pflegegeld mindestens der Stufe 1 zu gewähren, ab. Es legte seiner Entscheidung zugrunde, dass der Kläger seit Beginn 2012 einen durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von nur noch 60 Stunden habe. Nach der am geltenden Rechtslage müsse aber der monatliche Pflegebedarf 60 Stunden übersteigen, damit Pflegegeld der Stufe 1 zuerkannt werden könne.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers, der den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 1 ab begehrte, Folge. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle wegen des schutzwürdigen Personenkreises auf vorhandene Einstufungen der pflegebedürftigen Menschen Bedacht genommen und eine Kürzung der vor Inkrafttreten der Novelle BGBl I 2010/111 zuerkannten Pflegegelder vermieden werden. Eine Herabstufung oder Entziehung allein wegen des Inkrafttretens der geänderten gesetzlichen Voraussetzungen solle nicht in Betracht kommen. Auf „Altfälle“ seien weiterhin die alten Bedarfsgrenzen anzuwenden. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Auslegung der Übergangsbestimmung des § 48b Abs 2 BPGG keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.

Die Revision der beklagten Partei ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin vertritt zusammengefasst den Standpunkt, aus § 48b BPGG ergebe sich, dass in Fällen einer wesentlichen Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfs die ab für Neuanträge geltende Rechtslage heranzuziehen sei. Im vorliegenden Fall sei unstrittig von einer wesentlichen Änderung des Pflegebedarfs auszugehen, weil auch nach der alten Rechtslage kein Anspruch mehr auf Pflegegeld der Stufe 2 bestünde, sondern nur noch ein solcher auf Pflegegeld der Stufe 1. § 48b Abs 2 BPGG sei nicht dahin auszulegen, dass sich der Rechtsanspruch auf Beibehaltung des Pflegestufensystems als solches (50/75 Stunden nach dem „alten“ System) erstrecke.

Hiezu wurde erwogen:

Rechtliche Beurteilung

1. Nach § 9 Abs 2 BPGG ist eine befristete Gewährung von Pflegegeld dann zulässig, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung der Wegfall einer Voraussetzung für die Gewährung eines Pflegegeldes mit Sicherheit oder sehr hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann. Ein befristet zuerkanntes Pflegegeld fällt nach Ablauf der Frist weg, ohne dass es eines behördlichen Akts bedarf. Eine Weitergewährung erfolgt nur über Antrag. Liegen die Voraussetzungen für die Weitergewährung eines Pflegegeldes auch nach Ablauf der Frist vor, so ist das Pflegegeld gemäß § 9 Abs 2 BPGG mit Beginn des auf den Ablauf der Frist folgenden Monats weiter zu gewähren, sofern der darauf gerichtete Antrag innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Befristung gestellt wird. Die Frage, ob nach Ablauf der Befristung weiterhin Pflegegeld gebührt, ist unabhängig von der früheren Einschätzung neu zu prüfen. Es hängt der Anspruch auf Weitergewährung des Pflegegeldes somit nur davon ab, ob die Anspruchsvoraussetzungen nach Ablauf der Frist entweder noch, erstmals oder wieder vorliegen (10 ObS 108/13z mwN).

2. Tritt eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung ein, so ist das Pflegegeld neu zu bemessen. Nach der Rechtsprechung zu § 9 Abs 4 und 5 BPGG ist eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Änderung dann zu bejahen, wenn eine Veränderung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und in deren Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs gegeben ist, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht (RIS Justiz RS0123144).

3. Durch das Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 2010/111, wurde § 4 Abs 2 BPGG dahin geändert, dass der für die Pflegegeldstufen 1 und 2 erforderliche Pflegebedarf mit auf mehr als 60 bzw mehr als 85 Stunden pro Monat angehoben wurde. Zuvor reichten 50 bzw 75 Stunden aus.

4. Die Übergangsbestimmung des § 48b BPGG idF des BudgetbegleitG 2011 lautet:

„(1) Allen am noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf Zuerkennung oder Erhöhung des Pflegegeldes sind die bis zum jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zugrunde zu legen.

(2) Eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs 2 in der Fassung des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl. I Nr. 111/2010, ist nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist. Dies gilt auch in den Fällen einer Befristung gemäß § 9 Abs 2.

(3) ...

(4) Die Bestimmungen der Abs 1 bis 3 gelten auch für gerichtliche Verfahren.

(5) ... .“

5. Die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 173 f) führen Folgendes aus:

„Durch die demografische Entwicklung und die steigende Lebenserwartung nimmt die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf kontinuierlich zu. ...

Die Notwendigkeit, geeignete Maßnahmen zur Budgetkonsolidierung zu setzen, bedingt auch im Bereich der Pflegevorsorge entsprechende Änderungen, wobei jedoch soziale Härten vermieden werden sollen.

Als budgetbegleitende Maßnahme ist vorgesehen, die Zugangskriterien in den Pflegegeldstufen 1 und 2 dahingehend zu ändern, dass jenen Personen, die ab einen Antrag auf Gewährung oder Erhöhung des Pflegegeldes stellen, bei Vorliegen der erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen künftig ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 bei einem durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 60 Stunden und ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 bei einem durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 85 Stunden gewährt werden soll. ...

Auch wegen des besonders schutzwürdigen Personenkreises soll dennoch auf vorhandene Einstufungen der pflegebedürftigen Menschen Bedacht genommen und eine Kürzung der vor Inkrafttreten dieser Novelle zuerkannten Pflegegelder vermieden werden. Dies soll beispielsweise auch für Fälle gelten, in denen im Rahmen einer Nachuntersuchung ein zeitlicher Pflegebedarf festgestellt wurde, der sich aufgrund der geänderten Anspruchsvoraussetzungen bei der Einstufung auswirken würde.

Das Pflegegeld der Stufen 1 und 2 soll bei Zutreffen der Voraussetzungen in der bisherigen Höhe gewährt werden, wenn der Antrag bereits vor dem eingebracht wurde, die Zuerkennung des Pflegegeldes jedoch erst nach diesem Zeitpunkt erfolgte. ...

Eine Minderung oder Entziehung des Pflegegeldes soll nur dann zulässig sein, wenn eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist. Dieser Schutz soll auch für Fälle des Zuständigkeitswechsels gemäß § 9 Abs 1 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) gelten. Davon sollen auch jene Fälle umfasst sein, in denen es aufgrund eines Zuständigkeitswechsels vom Land zum Bund durch die geplante gesetzliche Änderung zu einem Entfall oder einer Minderung des Pflegegeldes kommen würde.

Ebenso soll diese Schutzbestimmung auch in jenen Fällen zum Tragen kommen, in denen das Pflegegeld gemäß § 9 Abs 2 BPGG befristet zuerkannt wurde und keine Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist. Wurde beispielsweise aufgrund eines monatlichen Pflegebedarfes von 55 Stunden ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 befristet zuerkannt und liegt der Pflegebedarf in dieser Höhe auch nach Ende der Befristung vor, soll auch weiterhin ein Pflegegeld der Stufe 1 geleistet werden.

Diese Sonderregelungen sollen auch für gerichtliche Verfahren gelten.“

6. Im zu beurteilenden Fall einer Weitergewährung nach dem ist für die Entscheidung wesentlich, ob bei Änderung des Pflegebedarfs die sich aus der bis dahin geltenden Rechtslage ergebenden Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegegeldstufe 1 und 2 (50/75 Stunden) maßgeblich bleiben, oder die geänderten Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegegeldstufe 1 und 2 nach § 4 Abs 2 BPGG nF (60/85 Stunden) anzuwenden sind.

7. Im Schrifttum wird zu § 48b BPGG vertreten, dass eine zur Herabsetzung oder zum Entzug berechtigende „wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs“ im Sinn der Übergangsbestimmung nur dann angenommen werden könne, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem zu Entzug oder Herabsetzung berechtigt hätte ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 3 Rz 277; Greifender , Neuerungen beim Pflegegeld- Budgetbegleitgesetz 2011, ÖZPR 2011/11, 12; ders , Frage aus der Praxis: Sind die ab geltenden strengeren Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegegeldstufen 1 und 2 in Herabsetzung- bzw Entzugsverfahren maßgeblich? ÖZPR 2011/93, 116). Nach Auffassung von Greifender/Liebhart gebührt in dem Fall der Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 2 seit und Herabsinken des Pflegebedarfs auf monatlich 54 Stunden ab Pflegegeld der Stufe 1, weil sich die Anspruchsvoraussetzungen weiterhin nach der bis zum bestehenden Rechtslage (Bedarfsgrenze für die Stufe 1 mehr als 50 Stunden) richten ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 3 Rz 277). Dies gelte auch in den Fällen der Weitergewährung eines gemäß § 9 Abs 2 BPGG rechtskräftig befristet gewährten Pflegegeldes. Den Übergangsbestimmungen sei insgesamt der Grundsatz zu entnehmen, dass es alleine aufgrund dieser Gesetzesänderung nicht zu einem Entzug oder einer Herabstufung kommen solle. Diese Auffassung hat der Oberste Gerichtshof jüngst in der Entscheidung 10 ObS 108/13z gebilligt.

8. Für den vorliegenden Fall ergibt sich:

Es ist nicht nur die Änderung der Anspruchsvoraussetzungen in § 4 Abs 2 BPGG nF zu berücksichtigen, sondern auch, dass seit dem Ende der Befristung der Pflegebedarf des Klägers von 105 Stunden auf 60 Stunden herabgesunken ist. Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, aus § 48b Abs 2 und 4 BPGG sei abzuleiten, auch in einer derartigen Konstellation sollten bei Weitergewährung nach dem weiterhin die bis dahin geltenden Anspruchsvoraussetzungen (von 50 bzw 75 Stunden) maßgebend sein, ist zutreffend. Sie steht im Einklang mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 10 ObS 108/13z. Den Ausführungen der Revisionswerberin ist die aus den Gesetzesmaterialien ableitbare Intention des Gesetzgebers entgegen zu halten, nach der wegen des besonders schutzwürdigen Personenkreises auch bei im Rahmen von Nachuntersuchungen zu Tage tretenden geändertem Pflegebedarf auf vorhandene Einstufungen Bedacht genommen werden und eine Kürzung des vor Inkrafttreten der Novelle zuerkannten Pflegegeldes vermieden werden soll (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 173). § 48b Abs 2 BPGG ist auch im Hinblick auf befristet gewährtes Pflegegeld vom Grundsatz getragen, dass alleine wegen der Änderungen der Anspruchsvoraussetzungen in § 4 Abs 2 BPGG idF des BudgetbegleitG I 2011/111 eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes nicht zulässig ist. In diesem Sinn kann eine wesentliche Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfs, die zur Minderung oder Entziehung berechtigt, nur dann angenommen werden, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der Rechtslage zum eine Minderung oder Entziehung zulässig wäre.

8. Dies führt zwar nicht zur Entziehung, wohl aber zur Herabsetzung des Pflegegeldes der Stufe 2, deren Ausmaß auch nach der früheren Regelung nicht mehr erreicht wird, auf Pflegestufe 1, weil die Voraussetzungen dafür nach der maßgeblichen Rechtslage zum erfüllt sind.

9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2013:010OBS00107.13B.1119.000