OGH vom 11.09.2007, 10ObS107/07v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Markus Kaspar (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Monika Kemperle (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Branislavka B*****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Kommandit-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 90/07g-9, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Die am geborene Klägerin bezog von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt ab eine befristete Invaliditätspension, die mehrfach - ohne Unterbrechung - weitergewährt wurde. Mit Bescheid vom hat die beklagte Partei die Weitergewährung über den hinaus abgelehnt; die dagegen erhobene Bescheidklage wurde rechtskräftig abgewiesen. Nach einem ersten erfolglosen Antrag vom beantragte die Klägerin am neuerlich die Gewährung der Invaliditätspension, die mit Bescheid der beklagten Partei vom wegen Nichterfüllung der Wartezeit abgelehnt wurde. Die Klägerin hat zum Stichtag 76 Beitragsmonate und 38 Ersatzmonate, insgesamt 114 Versicherungsmonate erworben; diese liegen im Zeitraum zwischen und . Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension ab gerichtete Klagebegehren ab, da die Klägerin die Wartezeit nach § 236 ASVG nicht erfüllt habe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Da im vorliegenden Fall kein lückenloses Weiterbestehen von Invalidität zwischen dem und dem nunmehrigen Stichtag vorliege, habe der Antrag der Klägerin vom einen neuen Stichtag ausgelöst, zu dem sämtliche Leistungsvoraussetzungen neu zu prüfen seien. Die Klägerin habe dieselben Wartezeitvoraussetzungen zu erfüllen wie ein Versicherter, der zum ersten Mal einen Antrag auf Invaliditätspension nach Vollendung des 50. Lebensjahres stelle. Das Gesetz sehe für diejenigen Versicherten, die „zwischenzeitig" eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bezogen haben, mehrfache Abfederungsmaßnahmen vor: Zum einen würden diese Zeiten wegen ihres Charakters als neutrale Zeiten zu einer Verlängerung des Rahmenzeitraumes führen; zum anderen kämen auch diese Personen in den Genuss der Verlängerung des Rahmenzeitraumes um zwei Monate pro Monat, um den der Stichtag nach der Vollendung des 50. Lebensjahres liege. Dazu komme die Möglichkeit, die Wartezeit auch in der Variante der so genannten „ewigen Anwartschaft" gemäß § 236 Abs 4 ASVG zu erfüllen. Auf diese Weise nehme der Gesetzgeber auf die betroffene Personengruppe ausreichend Bedacht und benachteilige sie nicht in unsachlicher Weise.
Der vorliegende Fall sei letztlich dadurch gekennzeichnet, dass die Klägerin vor dem Bezug ihrer Invaliditätspension insgesamt zu wenig Versicherungsmonate erworben habe und damit nicht in den Genuss der skizzierten Abfederungsmaßnahmen komme; darin liege aber keine Gleichheitswidrigkeit der anzuwendenden Regelungen des § 236 ASVG. Gegen die sekundäre Leistungsvoraussetzung der Wartezeit bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken, auch nicht gegen die „wachsende kurze Wartezeit", die durch den relativ kurzen Zeitraum bis zum Erreichen des Regelpensionsalters gerechtfertigt werden könne; außerdem könne zur Erfüllung der wachsenden Wartezeit auf wesentlich länger zurück liegende Versicherungsmonate zurückgegriffen werden als bei der kurzen Wartezeit. Angesichts der höchstgerichtlichen Judikatur zur Parallelregelung des § 111 Abs 3 Z 1 und Abs 4 Z 1 BSVG (10 ObS 359/89) bestünden auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken betreffend die hier zu behandelnde besondere Konstellation eines über die Vollendung des 50. Lebensjahres hinausreichenden Invaliditätsbezuges.
Die Revision sei nicht zulässig, weil das Berufungsgericht nicht von der zitierten höchstgerichtlichen Judikatur abgewichen sei. In ihrer außerordentlichen Revision macht die Klägerin in erster Linie die Verfassungswidrigkeit der Bestimmung des § 236 Abs 1 lit b ASVG geltend: Die Klägerin habe aufgrund der gut 9 Jahre, die sie wegen ihrer Arbeitsunfähigkeit bis zum 55. Lebensjahr in der Invaliditätspension verbracht habe, keine weiteren Versicherungszeiten erwerben können. Durch die „wachsende Wartezeit" sei ihr für immer jeder Zugang zur Invaliditätspension versperrt, weil aufgrund der kurzfristigen Unterbrechung der Arbeitsunfähigkeit nach dem 50. Lebensjahr eine neue, anders konstruierte Regelung hinsichtlich der Wartezeit zum Tragen komme (wäre die Periode der vorübergehenden Arbeitsfähigkeit vor dem 50. Lebensjahr gelegen, wäre dies nicht weiter schädlich gewesen). Derart dramatische Konsequenzen für einen Normunterworfenen widersprächen - mangels sachlicher Differenzierung - dem Gleichheitssatz. Die vom Obersten Gerichtshof zu 10 ObS 359/89 geäußerte Auffassung sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, weil es hier um die unterschiedlichen Folgen der Auslösung eines neuen Stichtages bei einer auch nur kurzfristigen Unterbrechung des Invaliditätspensionsbezuges vor oder nach dem 50. Lebensjahr gehe.
Rechtliche Beurteilung
Dem ist zu entgegnen, dass das Vorsehen einer Stichtagsregelung (10
ObS 107/92 = SSV-NF 6/58 = RIS-Justiz RS0084543 [T1]; RIS-Justiz
RS0117654; vgl auch VfGH G 103/90, G 144/90 = VfSlg 13.026) und einer Wartezeitregelung (RIS-Justiz RS0056550, RS0084845) im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liegen. Aufgrund des demokratischen Prinzips ist es dem einfachen Gesetzgeber nicht verwehrt, seine jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen im Rahmen vertretbarer Zielsetzungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verwirklichen (10 ObS 205/02y = SZ 2002/151 mwN). Inhaltlich Schranken bestehen (nur) insoweit, als sachlich nicht begründbare gesetzliche Regelungen verfassungsrechtlich verboten sind (VfGH B 226/97 = VfSlg 14.868; zuletzt etwa VfGH G 29/05 = VfSlg 17.605). Dabei ist unter der „Sachlichkeit" einer Regelung nicht ihre „Zweckmäßigkeit" oder „Gerechtigkeit" zu verstehen (VfGH G 128/92 = VfSlg 13.743); die Zweckmäßigkeit einer Regelung unterliegt in der Regel nicht der verfassungsrechtlichen Überprüfung (vgl VfGH B 662/87 ua = VfSlg 11.664).
Betreffend die im vorliegenden Fall die Klägerin belastende „wachsende Wartezeit" hat der Oberste Gerichtshof schon mehrfach zu dem dem § 236 Abs 1 Z 1 lit b ASVG wörtlich entsprechenden § 111 Abs 3 Z 1 lit b BSVG entschieden, dass auch dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen (RIS-Justiz RS0085872). Die sukzessive Verschärfung der Wartezeitregelung für Personen, deren Stichtag (wie unstrittig hier) nach Vollendung des 50. Lebensjahres liegt, soll ein Ausweichen von der Alterspension auf Pensionsformen der geminderten Arbeitsfähigkeit verhindern (Grillberger, Österreichisches Sozialrecht6 [2005] 88) und ist angesichts des Erfordernisses der „langen Wartezeit" bei der Alterspension nicht von vornherein unsachlich. Für den Übergang von Stichtagen, die vor Vollendung des 50. Lebensjahres liegen, auf solche nach Vollendung des 50. Lebensjahres hat der Gesetzgeber die vom Berufungsgericht angeführten Abfederungsmaßnahmen vorgesehen. Das Berufungsgericht hat auch darauf schon hingewiesen, dass das „Problem" der Klägerin darin liegt, dass sie vor dem Bezug ihrer Invaliditätspension so wenig Versicherungsmonate erworben hat, dass sie auch nicht in den Genuss dieser vom Gesetzgeber vorgesehenen Abfederungsmaßnahmen für Versicherte, deren Stichtag nach Vollendung des 50. Lebensjahres liegt, kommen kann. Damit ist aber letztlich die grundsätzliche Problematik von Stichtags- und Wartezeitregelungen tangiert, gegen die - wie erwähnt - grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Nicht einmal der Umstand, dass durch eine gesetzliche Regelung - wie bei der Klägerin - Härtefälle entstehen können, macht das Gesetz per se gleichheitswidrig (RIS-Justiz RS0053509 [T6] und [T7]). Letztlich ist auch die Unmöglichkeit, eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit
zu erlangen, sachlich zu rechtfertigen (vgl 10 ObS 141/01k =
RIS-Justiz RS0084829 [T16] = RS0085107 [T8]).
Da gegen die im gegenständlichen Fall maßgebende gesetzliche Bestimmung keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, war die außerordentliche Revision der Klägerin mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.