OGH vom 04.02.1993, 8Ob506/93
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Griehsler als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.E.Huber, Dr.Jelinek, Dr.Rohrer und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des ***** mj.Massimiliano ***** I*****, infolge Revisionsrekurses des Dr.Joachim B*****, Rechtsanwaltsanwärter, ***** gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten als Rekursgerichtes vom , GZ R 859/92-35, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St.Pölten vom , GZ 1 P 177/91-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Stefano I*****, der außereheliche Vater des am geborenen mj.Massimiliano I*****, ist von seinem bisherigen Wohnort verzogen und seither unbekannten Aufenthaltes (ON 26). Mit Beschluß vom bewilligte das Pflegschaftsgericht dem Minderjährigen ab den Bezug von Unterhaltsvorschüssen in der monatlichen Höhe von S 1.800,-. Zwecks Zustellung des Bewilligungsbeschlusses an den Vater bestellte es für diesen den Rechtsanwaltsanwärter Dr.Joachim B***** zum Abwesenheitskurator.
Das von Dr.Joachim B***** mit Rekurs angerufene Gericht zweiter Instanz bestätigte den erstgerichtlichen Beschluß. Es erklärte den Revisionsrekurs für zulässig und führte in seiner Entscheidungsbegründung aus: An der Notwendigkeit einer Kuratorbestellung nach § 276 ABGB könne hier nicht gezweifelt werden.
Die Bestimmung des § 280 ABGB in der Fassung vor dem
Sachwaltergesetz BGBl 1983/136 habe noch ausdrücklich die Regeln über
die Bestellung eines Vormundes auch für die Bestellung eines Kurators
rezipiert. Nunmehr ordne diese Gesetzesstelle lediglich an, daß bei
der Auswahl des Sachwalters oder Kurators auf die Art der
Angelegenheit, die er zu besorgen habe, zu achten sei. § 281 Abs 3
ABGB sehe auch die Bestellung eines Rechtsanwaltes oder
Rechtsanwaltsanwärters vor. Die Entschuldigungsgründe der §§ 191 bis
195 ABGB seien nicht mehr unmittelbar anwendbar, bildeten aber
Wertungsrichtlinien. Hier bringe der bestellte Abwesenheitskurator
vor, daß er bereits in zwei anderen Verfahren Abwesenheitskurator
und in einem weiteren Verfahren Kollisionskurator sei und ihm ein
weiteres derartiges Amt daher nicht zugemutet werden könne. Diese
Entschuldigungsgründe seien nicht gerechtfertigt, da
Abwesenheitskuratelen mit der Führung selbst nur kleinerer
Vormundschaften noch in keiner Weise vergleichbar erschienen. Halte
das Gericht die behaupteten Gründe für eine Ablehnung der Übernahme
der Vormundschaft für nicht gerechtfertigt, könne es gemäß § 203
ABGB sogar Zwangsmittel anwenden. Alle diese Bestimmungen seien hier
jedenfalls analog anwendbar. Die Bezugnahme des Rekurswerbers auf
Art 4 Abs 2 und 3 MRK, wonach niemand dazu gezwungen werden dürfe,
Zwangs- und Pflichtarbeit, ausgenommen Arbeiten oder
Dienstleistungen, die zu den normalen Bürgerpflichten gehörten, zu
verrichten, gehe hier ebenfalls fehl. Im Rahmen jedes Gemeinwesens
müsse nämlich den schwächeren Mitgliedern Hilfe geboten werden und
für den Berufstand der Rechtsanwälte gehöre daher eine derartige
Hilfe bei der Rechtsverfolgung zur Bürgerpflicht.
Gegen den rekursgerichtlichen Beschluß erhebt Dr.Joachim B***** Revisionsrekurs mit dem Abänderungsantrag auf ersatzlose Behebung der angefochtenen Entscheidung. Er bringt vor, bei der Tätigkeit eines Abwesenheitskurators handle es sich zweifellos um eine Zwangs- bzw. Pflichtarbeit, die aus den Bestimmungen der §§ 280 ff ABGB nicht abgeleitet werden könne. Er sei auch noch nicht Rechtsanwalt, sondern lediglich ein in Ausbildung stehender Rechtsanwaltsanwärter ohne Haftpflichtversicherung. Für den Minderjährigen sollte im Rahmen der Verfahrenshilfe gesorgt werden. Mangels Entlohnung sei die Bestellung zum Abwesenheitskurator jedenfalls rechtswidrig. Handle es sich um eine "normale Bürgerpflicht", dann müßten auch Notariatskanditaten, Richteramtsanwärter, Beamte usw bestellt werden.
Der Revisionsrekurs ist gemäß § 14 Abs 1 AußStrG zulässig, aber nicht gerechtfertigt.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 3 Ob 543, 1548/92 dargelegt, daß bei Bestellung einer - auch nicht in § 281 ABGB genannten - Person zum Sachwalter gemäß § 273 ABGB grundsätzlich die Verpflichtung zur Übernahme des Amtes in Analogie zur Regelung für die Vormundbestellung (§ 200 ABGB) besteht und für diese Person auch die Vorschriften über die notwendige und freiwillige Entschuldigung eines Vormundes (§§ 191 - 195 ABGB) analog zur Anwendung kommen, so auch die Ablehnung wegen unzumutbarer Belastung zufolge bereits geführter mehrerer Sachwalterschaften. Gleiches muß grundsätzlich aber auch für den - im selben Gesetzesabschnitt "Von der Kuratel" genannten - gemäß § 276 ABGB bestellten Abwesenheitskurator gelten.
Es ist dem Rekursgericht darin zuzustimmen, daß die Belastung des zum Abwesenheitskurator bestellten Rechtsmittelwerbers durch zwei weitere Abwesenheitskuratelen und eine Kollisionskurator-Funktion ihrem Gewicht nach keinen Entschuldigungsgrund bildet. Ebenso versagt die auf Art 4 Abs 2 und 3 lit d MRK gestützte Argumentation des Rechtsmittelwerbers:
Diese im Verfassungsrang stehenden Bestimmungen normieren, daß
"niemand gezwungen werden darf, Zwangs- und Pflichtarbeit zu
verrichten" (Abs 2), hiezu aber "jede Arbeit oder Dienstleistung,
die zu den normalen Bürgerpflichten gehört", nicht zählt (Abs 3 lit
d). Eine die Bestellung eines Rechtsanwaltes oder
Rechtsanwaltsanwärters zum unentgeltlich tätigen Parteienvertreter
betreffende Entscheidung des Obersten Gerichshofes oder des
Verfassungsgerichtshofes liegt nicht vor. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat sich dagegen bereits mit der auf
die vorgenannten Bestimmungen der MRK gestützten Beschwerde eines
zum unentgeltlich tätigen Pflichtverteidiger bestellten belgischen
Rechtsanwaltsanwärters befaßt und sie mit Urteil vom als
nicht gerechtfertigt erkannt. Nach der in Berger, Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, unter "50.Fall
Van der Mussele" (S.219 ff), sinngemäß dargestellten
Entscheidungsbegründung (vgl hiezu auch Frowein-Peukert, Die
Europäische Menschenrechtskonvention EMRK - Kommentar Rz 9 zu Art 4)
argumentierte der Europäische Gerichtshof unter Bezugnahme auch auf
die Übereinkommen Nr. 29 und Nr. 105 der Internationalen
Arbeitsorganisation und ausgehend von der Auffassung, es sei
erforderlich, die Gesamtumstände des Falles im Lichte der dem Art 4
MRK zugrundeliegenden Ziele zu berücksichtigen (Interesse der
Allgemeinheit, gesellschaftliche Solidarität und Normalität), im
einzelnen folgendermaßen: Die zu leistenden Dienste hätten sich im
Rahmen der normalen Tätigkeit eines Rechtsanwaltes bewegt. Darüber
hinaus hätten sie eine Kompensation in den mit dem Beruf
einhergehenden Vorteilen (ausschließliches Berufsrecht, vor Gericht
zu plädieren und Vertretungen wahrzunehmen) gefunden und zudem zur
beruflichen Schulung des Beschwerdeführers beigetragen. Auch handle
es sich bei dieser Verpflichtung um eine solche, die den in Art 4
Abs 3 lit d MRK erwähnten "normalen Bürgerpflichten" vergleichbar
sei. Schließlich habe sich der Beschwerdeführer keiner
unverhältnismäßigen Belastung gegenüber gesehen (etwa fünfzig
Bestellungen im Laufe einer 3-jährigen Ausbildungszeit)...... Zur
Rüge des Fehlens eines Honorars und der Nichterstattung der Kosten
des Pflichtverteidigers sei anzumerken, daß sich die Gesetzgebung
zahlreicher Vertragsstaaten dahingehend entwickle, die Bezahlung der
zur Verteidigung Bedürftiger bestellten Rechtsanwälte oder Anwärter
der Staatskasse aufzuerlegen. Im vorliegenden Falle habe jedenfalls
trotz mangelnder Entlohnung kein beträchtliches oder unverhältmäßiges
Ungleichgewicht vorgelegen zwischen dem angestrebten Ziel - Zulassung
zur Anwaltschaft - und den übernommenen Verpflichtungen, um dieses
zu erreichen ........ Auch eine Diskriminierung im Sinne des Art 14
iVm Art 4 MRK liege nicht vor. Eine für sich gesehen normale
Tätigkeit könne sich zwar als anormal erweisen, wenn bei der Auswahl
von Gruppen oder Einzelpersonen, welche gehalten seien, diese zu
verrichten, Diskriminierung bestehe. Art 14 MRK schütze Personen in
vergleichbarer Lage gegen jede Art der Diskriminierung, bei den vom
Beschwerdeführer angeführten verschiedenen Berufen (Rechtsanwälte
einerseits und andererseits Richter, Notare oder sonstige
Staatsbeamte) sei jedoch keine Vergleichbarkeit gegeben.
Diese Argumentation des Europäischen Gerichtshofes für Menschrechte trifft grundsätzlich auch auf den Fall eines gemäß § 276 ABGB zum Abwesenheitskurator bestellten Rechtsanwaltsanwärters und somit auch auf den Rechtsmittelwerber zu. Seine Bestellung bloß in einigen wenigen Kuratelfällen und auch der Umstand, daß gerade die gegenständliche Bestellung zum Abwesenheitskurator des Stefano I***** voraussichtlich keinen größeren Aufwand an Zeit und Mühe und keinerlei Unkosten verursacht - der Abwesenheitskurator hat nach der Rechtsprechung im übrigen grundsätzlich einen Entlohnungsanspruch (6 Ob 186/60; 1 Ob 606/81 ua) -, führt daher jedenfalls zur Verneinung der behaupteten Verletzung des Art 4 Abs 2 und 3 lit d MRK. Die dem Rechtsmittelwerber auferlegte Pflicht ist ebenso wie die dem vorgenannten Urteil zugrundeliegende Pflicht zur Tätigkeit als Pflichtverteidiger den in der letztgenannten Konventionsbestimmung angeführten "normalen Bürgerpflichten" vergleichbar. Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 127 ff, meint, diese Pflichten seien stets gegeben, wenn das sittliche Gebot der Nächstenliebe eine Hilfe notwendig mache und verweist hiebei auch auf öffentlich-rechtliche Bürgerpflichten zu ehrenamtlichen Tätigkeiten z.B. als Schöffe oder Geschworener.
Der Zweck des Abwesenheitskuratel erschöpft sich im übrigen nicht darin, die gerechten Interessen des Abwesenden wahrzunehmen, sondern liegt auch darin, den Mitbürgern die Rechtsverfolgung gegen den Abwesenden zu ermöglichen; sie dient daher insgesamt auch der Allgemeinheit.
Der Hinweis des Rechtsmittelwerbers auf eine mögliche Ungleichbehandlung geht hier schon deswegen fehl, weil nach der Gerichtspraxis sehr häufig z.B. auch Richteramtsanwärter und auch Geschäftsbeamte zu Kuratoren bestellt werden.
Demgemäß war dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.