OGH vom 12.04.2012, 10Ob14/12z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch und Dr. Schramm sowie die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj L*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 1, 4, 5, 6, 7, 8, 9, Amerlingstraße 11, 1060 Wien), über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 704/11i 62, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom , GZ 25 Pu 26/11p 54, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
1.) Dem Revisionsrekurs wird, soweit er sich gegen die Einstellung eines 34 EUR monatlich übersteigenden Unterhaltsvorschussbetrags für die Zeit vom bis richtet, zurückgewiesen.
2.) Im Übrigen wird dem Revisionsrekurs Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
zu 1.) Die Revisionsrekurswerberin übersieht, dass sich ihr Rekurs nur soweit gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichtet hat, als die Unterhaltsvorschüsse nicht im Umfang von 34 EUR für die Zeit vom bis aufrecht erhalten blieben. Die über diesen Betrag liegende Herabsetzung wurde für diesen Zeitraum nicht bekämpft und erwuchs daher insoweit in Rechtskraft. Diese steht der Geltendmachung einer noch geringeren Einschränkung im Revisionsrekurs entgegen.
zu 2.) In der Unterhaltsvereinbarung vom verpflichtete sich der Vater, der Minderjährigen ab Unterhaltszahlungen in Höhe von 150 EUR monatlich zu leisten. Der Vereinbarung lag eine monatliche Bemessungsgrundlage von 653,10 EUR zu Grunde; es wurde vom Bestehen einer weiteren Unterhaltspflicht ausgegangen.
Mit Beschluss vom gewährte das Erstgericht der Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG für die Zeit vom bis in Höhe von 100 EUR mit der Begründung, die Exekutionsführung gegen den Vater erscheine aussichtslos, weil er lediglich Notstandshilfe beziehe und einer weiteren Unterhaltsverpflichtung nachzukommen habe.
Mit Beschluss vom erhöhte das Erstgericht die Vorschüsse gemäß § 19 Abs 2 UVG ab wieder auf Titelhöhe.
Nachdem das Erstgericht die Unterhaltsvorschüsse für den Zeitraum vom bis und für den Zeitraum vom bis weitergewährt hatte, verfügte es mit Beschluss vom die Innehaltung der Unterhaltsvorschüsse (ON 47). Begründet wurde dieser Beschluss damit, dass der Vater laut Aktenlage seit (nur mehr) Krankengeld in Höhe von 11,59 EUR täglich beziehe.
Am beantragte das Kind vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger die Aufhebung der gänzlichen Innehaltung unter Hinweis darauf, dass der Vater laut Versicherungsdatenauszug seit geringfügig beschäftigt sei, weshalb ab November 2011 wieder „von der Anspannung“ auszugehen sei.
Mit Beschluss vom hob das Erstgericht die Innehaltung der Vorschüsse auf (ON 53). Mit Beschluss vom selben Tag (ON 54) setzte es die Unterhaltsvorschüsse gemäß § 19 Abs 1 UVG für den Zeitraum vom bis auf monatlich 10 EUR herab und sprach aus, dass ab die mit 150 EUR bewilligten Unterhaltsvorschüsse wiederum in voller Höhe auszubezahlen seien. Ein Einbehalt des Übergenusses von den laufenden Bezügen habe nicht zu erfolgen. Grund für die Herabsetzung der Unterhaltsvorschüsse sei das vom Vater vom bis bezogene Krankengeld in Höhe von 11,59 EUR täglich.
Gegen den Beschluss ON 54 erhoben das Kind und der Bund Rekurs. Das Kind beantragte, die Unterhaltsvorschüsse von bis (anstatt auf 10 EUR) nur auf 34 EUR herabzusetzen und für Oktober 2011 die Herabsetzung ersatzlos aufzuheben. Der Bund beantragte in seinem Rekurs, die dem Kind für bis gewährten Unterhaltsvorschüsse zur Gänze einzustellen.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes nicht Folge; dem Rekurs des Bundes gab es hingegen Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, dass es die für bis gewährten Unterhaltsvorschüsse zur Gänze einstellte. Das Rekursgericht legte seiner Entscheidung zu Grunde, der Vater habe im Zeitraum bis lediglich Krankengeld von täglich 11,59 EUR bezogen. Rechtlich ging es davon aus, die vom Kind in dessen Rechtsmittel geforderte Anspannung des Vaters auf Stellung eines Antrags auf Mindestsicherung nach dem Niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetz sei im konkreten Fall im Hinblick darauf nicht geboten, dass der Krankengeldbezug nur etwas mehr als vier Monate angedauert habe. Da das unterhaltsrechtlich relevante Existenzminimum weit über dem vom Vater bezogenen Krankengeld liege, sei jegliche Unterhaltsleistung ausgeschlossen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, weil „zur Frage der Anspannung eines Unterhaltspflichtigen auf Beantragung der Mindestsicherung insbesondere bei nicht dauerhaftem Krankenstand“ keine Rechtsprechung vorliege.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes (vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger) mit dem Antrag, den Beschluss des Rekursgerichts dahin abzuändern, dass für den Zeitraum bis Unterhaltsvorschüsse in Höhe von monatlich 36 EUR (!) zu gewähren seien. Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs des Kindes ist zulässig und in seinem im Abänderungsantrag mitenthaltenen Aufhebungsantrag (RIS Justiz RS0041774; 5 Ob 105/09s) auch berechtigt.
Im Revisionsrekurs wird vorgebracht, ein Unterhaltspflichtiger habe sein Einkommen auch durch die Beantragung öffentlich-rechtlicher Versorgungsleistungen zu maximieren. Als Versorgungsleistung sei ua die Mindestsicherung anzusehen; diese betrage in Niederösterreich 773 EUR monatlich. Habe der Vater die Mindestsicherung nicht beantragt, sei seine gänzliche Enthebung von der Unterhaltsverpflichtung nicht zulässig. Es müsse dem Vater unter Berücksichtigung des Unterhaltsexistenzminimums und seiner weiteren Sorgepflicht möglich sein, zumindest einen monatlichen Unterhaltsbetrag von 36 EUR zu leisten.
Dazu ist auszuführen:
1. Das UVG wurde durch das FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, novelliert. Die geänderte Fassung ist im Wesentlichen am in Kraft getreten (§ 37 UVG) und daher hier bereits anzuwenden.
2. Tritt während laufender Unterhaltsvorschüsse ein Fall des § 7 Abs 1 Z 1 oder Z 2 UVG ein, der die Möglichkeit einer gänzlichen oder teilweisen Versagung der Vorschüsse nach sich zieht, sind auch von Amts wegen die bereits zuerkannten Vorschüsse ungeachtet der Rechtskraft des Gewährungsbeschlusses mit dem Zeitpunkt des Eintritts dieses Falls monatsbezogen entsprechend herabzusetzen (§ 19 Abs 1 UVG) bzw zur Gänze zu versagen (§ 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG). Die Herabsetzung bzw Einstellung ist stets mit dem Ablauf des Monats, in dem der Herabsetzungs bzw Einstellungsgrund eintritt, anzuordnen. Im Herabsetzungs und Einstellungsverfahren gilt keine Einengung der Stoffsammlung nach § 11 UVG, sondern unbeschränkt der Stoffsammlungsgrundsatz (Untersuchungsgrundsatz) nach § 16 AußStrG (RIS Justiz RS0126399). Auch eine rückwirkende Herabsetzung oder Einstellung von Vorschüssen nur für einen begrenzten, aus Sicht der erstinstanzlichen Beschlussfassung in der Vergangenheit liegenden Zeitraum ist zulässig (10 Ob 55/08y).
3. Voraussetzung für eine Herabsetzung oder Einstellung ist die mit hoher Wahrscheinlichkeit gegebene Annahme, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht zwischenzeitig unangemessen geworden ist. Eine hohe Wahrscheinlichkeit iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG liegt aber dann nicht vor, wenn die Voraussetzungen für die Anspannung des Unterhaltsschuldners auf einen Unterhalt in Titelhöhe gegeben sind, also er sich an jenem Einkommen messen lassen muss, das er bei zumutbarer Ausschöpfung seiner Möglichkeiten („Anspannung seiner Kräfte“) zu erzielen in der Lage wäre (RIS Justiz RS0076377 [T6]). Umgekehrt können aktenmäßige Anhaltspunkte nicht mit Hilfe einer unbegründeten Anwendung des Anspannungsgrundsatzes beseitigt werden ( Neumayr in Schwimann/Kodek , ABGB 4 § 7 UVG Rz 12).
4. Auch wenn ein Unterhaltspflichtiger aus in seiner Sphäre liegenden Gründen einen Antrag auf Gewährung einer öffentlich rechtlichen Leistung unterlässt, muss er sich das ihm mögliche Einkommen im Sinn der Anspannungstheorie für die Unterhaltsleistung anrechnen lassen (RIS Justiz RS0047385). Die Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf aber nur dann erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt bzw wie hier eine entsprechende Antragstellung unterlässt (vgl RIS Justiz RS0047495).
5. Zu den öffentlich-rechtlichen Leistungen ist die bedarfsorientierte Mindestsicherung zu zählen, die nach dem mit in Kraft getretenen NÖ Mindestsicherungsgesetz LGBl 59/10 (NÖ MSG) gewährt werden kann (§ 44 NÖ MSG). Die Überleitung von der Sozialhilfe zu den Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung ist in § 43 NÖ MSG (idF der Nov LGBl 92/11) geregelt. Die Leistungen nach dem NÖ MSG werden auf Antrag oder, wenn der Behörde Umstände bekannt werden, die eine Leistung erforderlich machen, von Amts wegen gewährt (§ 15 NÖ MSG). Die bedarfsorientierte Mindestsicherung ist Hilfe suchenden Personen nur so weit zu gewähren, als Bereitschaft zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft besteht und der jeweilige Bedarf nicht durch eigene Mittel oder durch Leistungen Dritter tatsächlich gedeckt wird (§ 2 Abs 1 NÖ MSG).
6.1. Nach dem im Akt zu ON 35 erliegenden Bericht der Polizei Krems/Donau betreffend den Verdacht auf Verletzung der Unterhaltspflicht bezog der Vater ab monatliche Sozialhilfe im Ausmaß von 369,40 EUR. Diesem Bericht ist weiters ein Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Krems vom , KRG2 S 10321/002, angeschlossen, aus dem sich ergibt, dass für den Vater ab bis Anspruch auf Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts (bedarfsorientierte Mindestsicherung) in Höhe von monatlich 507,45 EUR bestand. Ab bis wurde ihm Krankengeld in Höhe von täglich 11,59 EUR gewährt. Gemäß dem Versicherungsdatenauszug AS 149 ging er zwischen und ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis als Arbeiter ein, ab bestand Anspruch auf Notstandshilfe und Überbrückungshilfe.
6.2. Dem Akteninhalt nach hat der Vater demnach Geldleistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung bis somit teilweise auch während des den Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens bildenden Zeitraums bis zuerkannt erhalten. Indem die Vorinstanzen ihren Entscheidungen dennoch zu Grunde legten, der Vater habe im gesamten Zeitraum bis lediglich Krankengeld in Höhe von 11,59 EUR täglich bezogen, sind sie dem Gebot, im Herabsetzungs bzw Einstellungsverfahren alle erforderlichen Beweise von Amts wegen aufzunehmen (§ 16 AußStrG) nicht nachgekommen. Ausgehend von dieser unvollständigen Tatsachengrundlage erscheint eine Verfahrensergänzung durch das Erstgericht unumgänglich, um abschließend beurteilen zu können, ob sich für den Zeitraum bis die Umstände, die die Einschränkung der Vorschüsse rechtfertigen sollen, gegenüber der ursprünglichen Gewährungsentscheidung geändert haben und nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit die Annahme gerechtfertigt ist, die in der Unterhaltsvereinbarung festgesetzte Unterhaltspflicht sei unangemessen geworden. Im fortgesetzten Verfahren werden in Entsprechung des Stoffsammlungsgrundsatzes nach § 16 AußStrG die nötigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen und entsprechende Feststellungen zu treffen sein (RIS Justiz RS0088914 [T9]). Eine Sachentscheidung des Obersten Gerichtshofs ist im derzeitigen Verfahrensstadium schon im Hinblick darauf nicht möglich, dass die Entscheidung nur auf solche Tatsachen gestützt werden kann, zu denen sich alle Verfahrensbeteiligten äußern konnten (§ 15 AußStrG).
War dem Vater die Mindestsicherung bis zuerkannt, stellt sich die vom Rekursgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage jedenfalls für den Zeitraum bis nicht. Für den darüberhinausgehenden Zeitraum wird zu klären sein, ob ein Weiterbezug erfolgte, bzw wenn nicht, warum.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.