TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
OGH vom 17.03.2009, 10Ob14/09w

OGH vom 17.03.2009, 10Ob14/09w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. Ebru T*****, geboren am , und 2. Aleyna T*****, geboren am , beide *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 12, 13, 23, Rößlergasse 15, 1230 Wien), über den Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 725/08y, 43 R 726/08w-U21, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, die Beschlüsse des Bezirksgerichts Meidling vom , GZ 2 P 85/08p-U11 und -U12, abgeändert wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die am geborene Ebru T***** und die am geborene Aleyna T***** sind die Töchter von Mustafa T***** und Jale T*****. Die Ehe der Eltern wurde am gemäß § 55a EheG geschieden. Der Vater Mustafa T***** hat sich im Scheidungsvergleich verpflichtet, ab einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 266 EUR für Ebru und von 196 EUR für Aleyna zu leisten. Die beiden Kinder leben mit ihrer Mutter in Wien; auch der Vater lebt in Wien. Sowohl die Eltern als auch die Kinder sind türkische Staatsangehörige.

Mit Beschlüssen je vom bewilligte das Erstgericht den beiden Kindern gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG Unterhaltsvorschüsse in Titelhöhe für die Zeit von bis . Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, Folge und änderte die angefochtenen Beschlüsse im antragsabweisenden Sinn ab. Die Kinder könnten nur in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige des geldunterhaltspflichtigen Vaters in den Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 (Wanderarbeitnehmerverordnung) fallen. Dies sei aber deswegen nicht der Fall, weil der Vater (offensichtlich) nicht beschäftigt sei, weshalb auch kein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse bestehe.

Über Zulassungsvorstellung nach § 63 AußStrG hat das Rekursgericht ausgesprochen, dass der ordentliche Revisionsrekurs gemäß § 62 Abs 1 AußStrG im Hinblick auf die OGH-Judikatur zu 10 Ob 76/08m, wonach bei einer - abgesehen von der Staatsangehörigkeit - „rein inländischen Situation" ein Vorschussanspruch in Österreich bestehe, zulässig sei.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Kinder mit dem Antrag auf Wiederherstellung der antragstattgebenden Entscheidungen des Erstgerichts. Der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, der Vater als Unterhaltsschuldner und die Mutter als Zahlungsempfängerin haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

Die Revisionsrekurswerberinnen weisen auf das im Assoziationsratsbeschluss Nr 3/80 enthaltene Diskriminierungsverbot hin. Komme aufgrund des Wohnsitzes des Vaters nur die Anwendung österreichischer Vorschriften in Betracht, würden die ebenfalls in Österreich wohnhaften Kinder im Vergleich zu Kindern in der gleichen Lage, die die österreichische Staatsangehörigkeit besitzen, unmittelbar diskriminiert, würde ihnen der Vorschussanspruch unter Berufung auf § 2 Abs 1 Satz 1 UVG versagt.

Dazu wurde erwogen:

1. Auszugehen ist davon, dass Eltern und Kinder


Tabelle in neuem Fenster öffnen
-
türkische Staatsangehörige sind und
-
in Österreich ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Der Oberste Gerichtshof hat zuletzt in zwei Entscheidungen (10 Ob 76/08m und 10 Ob 54/08a) ausgesprochen, dass eine - abgesehen von der tschechischen bzw polnischen Staatsangehörigkeit des Kindes - „rein inländische Situation" zu einem Vorschussanspruch des Kindes in Österreich führt, weil das Kind sonst (primärrechtswidrig) wegen seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert würde.
2. Die primärrechtlichen Regelungen gelten nicht für türkische Staatsangehörige. In Bezug auf türkische Staatsangehörige ist daher die Reichweite des in Art 3 des Assoziationsratsbeschlusses (ARB) Nr 3/80 vom enthaltenen Diskriminierungsverbots maßgeblich.

2.1. Der Zweck des ARB Nr 3/80 liegt darin, die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten dahin gehend zu koordinieren, dass türkische Arbeitnehmer, die in einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft beschäftigt sind oder waren, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen können (EuGH Rs C-262/96, Sürül, Slg 1999, I-2685 [Rz 15]). Zu diesem Zweck verweist der ARB Nr 3/80 im Wesentlichen auf Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 (Wanderarbeitnehmerverordnung) und einige Bestimmungen der Durchführungsverordnung (EWG) Nr 574/72.

2.2. Die Artikel 1 bis 4 des ARB Nr 3/80 finden sich in Titel I, der die Überschrift „Allgemeine Vorschriften" trägt. Sie haben folgenden

Wortlaut:

„Artikel 1

Begriffsbestimmungen

Für die Anwendung dieses Beschlusses:

a) haben die Ausdrücke ... 'Familienangehörige', 'Wohnort', ...

'Familienleistungen', 'Familienbeihilfen' ... die Bedeutung, wie sie

in Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ... definiert ist;


Tabelle in neuem Fenster öffnen
b)
bezeichnet der Ausdruck 'Arbeitnehmer' jede Person,
i)
die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfaßt werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist, und zwar vorbehaltlich der Einschränkungen in Anhang V Punkt A. Belgien, Absatz 1 zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71;
ii) die im Rahmen eines für alle Einwohner oder die gesamte erwerbstätige Bevölkerung geltenden Systems der sozialen Sicherheit gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken pflichtversichert ist, die von den Zweigen erfaßt werden, auf die dieser Beschluss anzuwenden ist,
— wenn diese Person aufgrund der Art der Verwaltung oder der Finanzierung dieses Systems als Arbeitnehmer unterschieden werden kann, oder
— wenn sie bei Fehlen solcher Kriterien im Rahmen eines für die Arbeitnehmer errichteten Systems aufgrund einer Pflichtversicherung oder freiwilligen Weiterversicherung gegen ein anderes im Anhang näher bezeichnetes Risiko im Rahmen eines Systems für Arbeitnehmer versichert ist;
...
Artikel 2
Persönlicher Geltungsbereich
Dieser Beschluß gilt:
— für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind;
— für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet
eines Mitgliedstaats wohnen;
— für Hinterbliebene dieser Arbeitnehmer.
Artikel 3
Gleichbehandlung

(1) Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die dieser Beschluß gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit dieser Beschluß nichts anderes bestimmt.

Artikel 4

Sachlicher Geltungsbereich

(1) Dieser Beschluß gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:


Tabelle in neuem Fenster öffnen
a)
Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft;
b)
Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind;
c)
Leistungen bei Alter;
d)
Leistungen an Hinterbliebene;
e)
Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten;
f)
Sterbegeld;
g)
Leistungen bei Arbeitslosigkeit;
h)
Familienleistungen."

2.3. Der in Art 1 lit b sublit ii zweiter Gedankenstrich des ARB Nr 3/80 genannte Anhang enthält für Österreich keine Präzisierung der Definition des Arbeitnehmerbegriffs.

2.4. Eine Verordnung des Rates über die Durchführung des ARB Nr 3/80 ist seit dem Jahr 1983 im Vorschlagsstadium stecken geblieben (Egger,

Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung2 [2005] 309). Der EuGH hatte sich mehrmals mit der Frage zu befassen, ob Assoziationsratsbeschlüsse unmittelbar anwendbar sind. Er hat eine unmittelbare Anwendbarkeit bejaht, wenn Beschlussregelungen unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf Sinn und Zweck des Assoziierungsabkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthalten, deren Erfüllung und Wirkung nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt (Egger, Arbeits- und Sozialrecht der EU2 310 mwN unter FN 660). Anders als noch in der Rs C-277/94, Z. Taflan-Met (Slg 1996, I-4085), hat der EuGH letztlich in der Rs C-262/96, Sürül (Slg 1999, I-2685), entschieden, dass Art 3 des ARB Nr 3/80 unmittelbar anwendbar ist (dazu etwa Sieveking, Soziale Sicherheit für türkische Staatsangehörige nach dem Assoziationsratsbeschluß EWG-Türkei Nr. 3/80, ZIAS 2001, 160, und Gutmann, Landeserziehungsgeld in der Assoziation EWG-Türkei, ZFSH/SGB 2002, 214; aA Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union2 [2003] Rz 59). Die unmittelbare Anwendbarkeit wurde vom EuGH in der Rs C-373/02, Öztürk (Slg 2004, I-3605), bekräftigt; sie wird auch der nunmehrigen Entscheidung zugrunde gelegt.

2.5. Der Begriff der „Familienleistungen" ist im ARB Nr 3/80 so zu verstehen wie in der VO (EWG) 1408/71 (ebenso BSozG B 10 EG 2/01 R). Auch im sachlichen Anwendungsbereich des ARB Nr 3/80 fallen daher Unterhaltshaltsvorschussleistungen - entsprechend der EuGH-Judikatur - unter den Begriff der Familienleistungen.

2.6. Es ist nochmals zu wiederholen, dass sich das Diskriminierungsverbot des Art 3 des ARB Nr 3/80 nur auf Personen bezieht, „die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die dieser Beschluß gilt". Der ARB Nr 3/80 gilt nach Art 2 für bestimmte Arbeitnehmer und für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, sofern sie im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen. Nach der Entscheidung des EuGH in der Rs C-262/96, Sürül (Slg 1999, I-2685), ist der persönliche Geltungsbereich nach Art 2 der VO (EWG) 1408/71 entsprechend auch für die Bestimmung des persönlichen Geltungsbereichs des ARB Nr 3/80 maßgebend (Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 96 und 699).

3. Ob der Vater oder die Mutter der beiden Antragstellerinnen allerdings zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz den auch für die Anwendung des ARB Nr 3/80 in Österreich maßgeblichen Arbeitnehmerbegriff der VO (EWG) 1408/71 erfüllen, wurde von den Vorinstanzen nicht geklärt. Nach der ständigen Rechtsprechung besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft nach der VO (EWG) 1408/71, wenn sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist (RIS-Justiz RS0116469, RS0121106). Dieser Begriff des Arbeitnehmers setzt nicht eine umfassende Vollversicherung voraus; vielmehr genügt schon die Pflichtversicherung gegen ein Risiko - so etwa die verpflichtende Unfallversicherung für geringfügig Beschäftigte - zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77 = RIS-Justiz RS0115509 [T2]). Als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung gilt auch eine Person, die die materiellen Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erfüllt (4 Ob 124/05x; 10 Ob 36/08d).

4. In diesem Sinn ist in dem zu ergänzenden Verfahren noch zu klären, ob die Antragstellerinnen als Familienangehörige in den von Art 3 des ARB Nr 3/80 begünstigten Personenkreis fallen, weil entweder der Vater oder die Mutter (vgl 10 ObS 87/08d ua) zum Entscheidungszeitpunkt erster Instanz in Österreich infolge unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit oder Arbeitslosigkeit in das System der sozialen Sicherheit integriert waren.

Dem Revisionsrekurs der Antragstellerinnen ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.