VfGH vom 27.02.2012, B1103/11

VfGH vom 27.02.2012, B1103/11

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Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen beleidigender und verunglimpfender Formulierungen in einer Berufungsschrift

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Tirol. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom wurde er des Disziplinarvergehens der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes schuldig erkannt und über ihn gemäß § 16 Abs 1 Z 1 des Bundesgesetzes vom über das Disziplinarrecht der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter - DSt), BGBl. 474 idF BGBl. I 141/2009 die Disziplinarstrafe des "strengen" Verweises verhängt, weil er in seiner Berufungsschrift als Verfahrenshilfeverteidiger der Angeklagten in einem Strafverfahren des Landesgerichtes Innsbruck wegen des Verdachts des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB nachstehende Formulierungen verwendet hatte:

"Die freche Abstempelung und Vorabverurteilung als Verleumderin hat jedoch bereits vorher zur unverschämten Vorgangsweise geführt."

und

"Neben einer vielleicht berechtigten Sorge um seine massive Unabkömmlichkeit ist jedoch auch dieser Zeuge [...] auf unverschämte Weise uninteressiert, ..."

Der Disziplinarrat erachtete diese Wortwahl als "zu weit gehend". Für die aufgestellten Behauptungen liege keine sachliche Rechtfertigung vor, sie seien in einer Art und Weise erfolgt, die der Förderung bzw. Verteidigung der rechtlichen Interessen der verfahrensbeholfenen Partei des Disziplinarbeschuldigten nicht dienlich seien. Nicht am Verfahren beteiligte Personen würden durch derartige Formulierungen beleidigt. Das inhaltlich Gleiche hätte ohne Weiteres auch durch eine nicht beleidigende und verunglimpfende Wortwahl zum Ausdruck gebracht werden können.

2. Der dagegen rechtzeitig erhobenen Berufung wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit als Bescheid zu wertendem Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission (im Folgenden: OBDK) vom mit der Maßgabe nicht Folge gegeben, dass der Passus "streng" in der angefochtenen Entscheidung zu entfallen habe. Zum Berufungsvorbringen des Beschwerdeführers, es wäre ihm als eingetragenem Anwalt geradezu anheim gestellt, alles unumwunden für seine Partei vorzubringen, er sehe es quasi als Ausübung seiner Pflicht an, derart vorzugehen, weshalb bereits die Vermutung der Rechtmäßigkeit für ihn bestünde sowie Rechtsanwälte könnten schonungslos behaupten und dürften derartige Formulierungen gerade nicht der stilistischen Zensur der Standesbehörde unterliegen, führte die OBDK aus, der Beschuldigte vergesse bei seiner Argumentation, dass es nicht darum gehe, seine persönlichen Befindlichkeiten und subjektiven Meinungen in Schriftsätzen zum Ausdruck zu bringen, sondern dass er in Ausübung seines Berufes nur solche Mittel anzuwenden habe, die mit Gesetz, Anstand und Sitte vereinbar seien und eine sachliche Rechtfertigung aufwiesen. Die Formulierungen des Disziplinarbeschuldigten seien darunter nach der ständigen Rechtsprechung der OBDK nicht mehr zu subsumieren. Der Disziplinarbeschuldigte habe die Grenze der Sachlichkeit auch unter dem Gesichtspunkt des unumwundenen Vorbringens für seine Partei überschritten. Es wäre ihm leicht möglich gewesen, seinen Verteidigungsaufgaben durch die Verwendung nicht beleidigender und verunglimpfender Formulierungen gerecht zu werden.

Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken in der Berufung ob der personellen Zusammensetzung des erkennenden Disziplinarrates wies die OBDK auf die in VfSlg. 18.562/2008 dargestellte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hin, wonach es sich bei einem Einleitungsbeschluss lediglich um eine prozessleitende Verfügung handle, die der Durchführung eines Disziplinarverfahrens vorauszugehen habe, durch die aber gerade keine Präjudizierung des Disziplinarrates eintrete.

3. Dagegen richtet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die "Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte und/oder Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm" behauptet wird.

3.1. Der Beschwerdeführer bringt zunächst vor, das angefochtene Erkenntnis verletze das verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsfreiheit: Schutzobjekt dieser Vorschrift seien nicht nur reine Meinungskundgaben, sondern auch Tatsachenäußerungen. Eine demokratische Gesellschaft könne die in einem Rechtsmittel formulierten Wortgruppen tolerieren, ohne dass die im Art 10 EMRK genannten Schutzobjekte gefährdet würden. Die "inkriminierte Argumentation" richte sich weder gegen einen Anwaltskollegen, noch gegen einen Richter, das Ansehen und die Unabhängigkeit der Rechtsprechung sei nicht einmal im Entferntesten tangiert. Sein seinerzeit in der Berufung formuliertes Argument betreffe eine polizeiinterne Verfügung; durch eine "simple Verfügung (gleichbedeutend: Manipulation)" sei seine Mandantin von der Rolle der verletzten Zeugin mit Ansprüchen auf Schadenersatz und Belehrung über die Vorschriften der Privatbeteiligung in die Parteienrolle als Beschuldigte versetzt worden. Damit hätte er darstellen wollen, dass mit einem "simplen Trick die Parteiposition der Verfahrensbeholfenen verändert und zu deren Nachteil letztlich verschlechtert" worden sei. Die später Verurteilte habe sich von der Rolle als Beschuldigte nie wieder befreien können. Es sei seine feste Überzeugung, dass schon dieser Umstand die Verurteilung wesentlich gefördert und begünstigt habe. Dazu komme, dass die Verfahrensbeholfene schon vor diesem Vorfall von Beamten des betreffenden Polizeiposten "mehrfach schikaniert" worden sei und dass daher nicht das Vertrauen bestand, diese würden eine faire Vernehmung durchführen bzw. diese entsprechend protokollieren. Er habe versucht, die "subtile Manipulation der Polizeibehörde und den Schulterschluss zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft" darzulegen. Die Darstellung solcher Umstände könne nicht disziplinär sein; die Argumentation dieser Zusammenhänge erst recht nicht. § 9 der Rechtsanwaltsordnung (RAO), RGBl. 96/1868 idF BGBl. I 111/2010 verpflichte den Rechtsanwalt, auch peinliche und unerfreuliche Umstände aufzuzeigen und "nach allgemeinem Verständnis auch nicht für handfeste Schweinerein zarte Worte zu finden und die schonendste Bezeichnung zu wählen". Er sei der redlichen Meinung gewesen, dass die so beschriebenen Umstände vorlägen und dass diese Argumentation notwendig sei, um die Interessen seiner Verfahrensbeholfenen zu artikulieren. Die Einvernahme des behandelnden Arztes in der Verhandlung als Zeuge sei insofern unentbehrlich gewesen, als dieser durch verschiedene Formulierungen in seiner schriftlichen Bestätigung und in seiner Aussage Unklarheit hergestellt hätte. Vor allem der Richter, der die Erstreckung der Hauptverhandlung ausschließlich wegen der Einvernahme des Arztes verfügt habe, wozu er erst nach dem Plädoyer des Beschwerdeführers die Ladung des Arztes zur Frage der Verletzung beschlossen und die bereits geschlossene Beweisaufnahme wiedereröffnet habe, hätte auf die Erfüllung der Zeugenpflicht des Arztes beharren müssen.

Unter dem Titel der Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter weist der Beschwerdeführer darauf hin, mit Schreiben vom den Vorsitzenden und drei schon mit dem Einleitungsbeschluss befasste "Senatsmitglieder des Disziplinarausschusses" abgelehnt zu haben. Dass diese drei "Ausschussmitglieder" auch am Disziplinarerkenntnis mitgewirkt hätten, könne nicht verfassungskonform sein. Das Strafverfahren kenne die Trennung der Anklagebehörde vom erkennenden Gericht als tragende, unverzichtbare Stütze des Anklageprozesses. Dieses Prinzip sei nicht nur der derzeitigen Verfassungsrechtslage immanent, sondern stelle ein unverzichtbares Element der Parteienverteilung im Strafprozess dar.

4. Die belangte Behörde legte die Akten des Disziplinarverfahrens vor, erstattete jedoch keine Gegenschrift und verwies auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Bedenken gegen die dem Bescheid

zugrundeliegenden Rechtsvorschriften wurden weder in der Beschwerde vorgebracht, noch sind solche beim Verfassungsgerichtshof aus Anlass dieses Beschwerdefalles entstanden.

Der Beschwerdeführer ist daher durch den

angefochtenen Bescheid in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm nicht verletzt.

1.2. Der Beschwerdeführer erachtet sich in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, weil drei schon an der Beschlussfassung des Einleitungsbeschlusses beteiligte Mitglieder des Disziplinarrates auch am Disziplinarerkenntnis selbst mitgewirkt hätten.

2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits wiederholt dargelegt hat, handelt es sich beim Einleitungsbeschluss um eine lediglich prozessleitende, der Durchführung eines Disziplinarverfahrens zwingend vorausgehende Verfügung (vgl. VfSlg. 17.505/2005, 17.924/2006), durch die keine Präjudizierung des Disziplinarrates erfolgt (vgl. VfSlg. 12.962/1992, 13.731/1994, 17.505/2005, 17.823/2006, 18.562/2008). Aus der Mitwirkung am Einleitungsbeschluss kann daher nicht auf die Befangenheit der Mitwirkenden an der Entscheidung geschlossen werden. Es gibt sohin keine Grundlage für die Ansicht, dass Anwaltsrichter deswegen, weil sie an der Fassung des Einleitungsbeschlusses teilgenommen haben, von der Entscheidung in der Disziplinarsache in erster oder zweiter Instanz ausgeschlossen wären (vgl. VfSlg. 13.731/1994, 17.103/2004).

Der Beschwerdeführer wurde daher nicht in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

3. Zum Vorbringen der Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf freie Meinungsäußerung:

3.1. Nach Art 13 Abs 1 StGG hat jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist zwar nur innerhalb der gesetzlichen Schranken gewährleistet, doch darf auch ein solches Gesetz keinen Inhalt haben, der den Wesensgehalt des Grundrechtes einschränkt (vgl. VfSlg. 6166/1970, 10.700/1985). Eine nähere Bestimmung dieses Wesensgehaltes findet sich in Art 10 EMRK. Diese Bestimmung bekräftigt den Anspruch auf freie Meinungsäußerung - "right to freedom of expression", "droit a la liberte d'expression" - (Abs1) und stellt klar, dass dieses Recht die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen einschließt, sieht aber im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, "wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten." Gemäß Art 10 Abs 2 EMRK darf also die Freiheit der Meinungsäußerung nur aus den dort angeführten Gründen beschränkt werden (VfSlg. 16.792/2003).

3.2. Ein Verwaltungsakt, der sich gegen die Meinungsäußerungsfreiheit richtet, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ua. dann verfassungswidrig, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz denkunmöglich angewendet wurde (VfSlg. 3762/1960, 6166/1970 und 6465/1971). Eine denkunmögliche Gesetzesanwendung liegt auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen - also auch die besonderen Schranken des Art 10 EMRK missachtenden - Inhalt unterstellt

(VfSlg. 10.386/1985, 10.700/1985, 12.086/1989, 13.122/1992).

3.3. Derartiges kann der belangten Behörde, die die vom Beschwerdeführer in seiner Berufungsschrift gewählten Formulierungen als beleidigend und verunglimpfend erachtet und damit den Tatbestand eines Disziplinarvergehens als verwirklicht angenommen hat, jedenfalls nicht vorgeworfen werden. Wie der Verfassungsgerichtshof mehrfach ausgesprochen hat (vgl. etwa VfSlg. 12.796/1991, 14.233/1995, 15.586/1999, 16.792/2003), genießen unsachliche und erkennbar beleidigende Äußerungen nicht den Schutz der freien Meinungsäußerung, weil - wie aus Art 10 Abs 2 EMRK hervorgeht - in einer demokratischen Gesellschaft ein dringendes soziales Bedürfnis besteht, das Ansehen der Rechtsprechung zu wahren. Auch der EGMR hat festgestellt, dass Rechtsanwälte aufgrund ihrer Funktion im Rechtsstaat weitergehende Beschränkungen bei Meinungsäußerungen hinzunehmen haben (s. etwa EGMR, , Fall Steur, Appl. 39.657/98, Z 38; , Fall Schmidt, Appl. 513/05 = ÖJZ 2008, 990, Z 43). Die belangte Behörde hat dem Gesetz somit keinen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt.

Der Beschwerdeführer ist sohin nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.

4. Es ist auch nicht hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer in einem anderen, von ihm nicht geltend gemachten, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden ist.

5. Der Beschwerdeführer ist daher durch den angefochtenen Bescheid nicht in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden. Die Beschwerde war daher abzuweisen.

Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art 133 Z 4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 10.659/1985, 12.917/1991, 14.408/1996, 16.570/2002 und 16.795/2003).

6. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.