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OGH vom 12.03.1991, 10ObS414/90

OGH vom 12.03.1991, 10ObS414/90

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Göstl (Arbeitgeber) und Mag. Karl Dirschmied (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Karl H*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei ALLGEMEINE UNFALLVERSICHERUNGSANSTALT (Landesstelle Linz), 1200 Wien, Adalbert Stifter Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und Dr. Josef Milchrahm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 13 Rs 109/90-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 13 Cgs 181/89-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger zog sich bei einem Arbeitsunfall (Verkehrsunfall) am einen Schädelbasisbruch mit Ertaubung des linken Ohres, einen Schlüsselbeinbruch links und eine Prellung des linken Auges zu. 1976 traten am linken Auge erstmals Sehstörungen auf, in der Folge entwickelte sich ein grauer Star, der 1979 operiert werden mußte. Auf der Grundlage der Untersuchungsbefunde vom wurde dem Kläger mit Bescheid der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom eine Dauerrente von 40 v.H. der Vollrente gewährt, wobei bezüglich des linken Auges die Unfallskausalität der operativen Linsenentfernung als Folge der traumatischen Linsentrübung anerkannt wurde; das rechte Auge war damals ohne Besonderheit.

Am beantragte der Kläger die Erhöhung der bisher gewährten Dauerrente. Nunmehr bestünden auch unfallskausale Beschwerden am rechten Auge, weshalb insgesamt eine wesentliche Änderung eingetreten sei.

Mit Bescheid vom wies die beklagte Partei diesen Antrag ab, weil im Zustand der Unfallsfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten und die Beschwerden des rechten Auges nicht auf den Unfall zurückzuführen seien. Es bleibe somit bei der dem Kläger zuerkannten Rente von 40 v.H. der Vollrente.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger den Zuspruch einer 50 %-igen Dauerrente samt Schwerversehrtenzusatzrente ab im gesetzlichen Ausmaß. Seit etwa einem halben Jahr habe sich auch am rechten Auge ein grauer Star entwickelt, der ebenfalls eine Unfallsfolge darstelle und eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen bedeute. Der Kläger habe auf Grund der Unfallsfolgen seine Arbeit als Servicemechaniker aufgeben müssen und sei arbeitslos.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren dem Grunde nach statt und trug der beklagten Partei bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides zusätzlich zu der bisher gewährten Dauerrente eine vorläufige Zahlung von weiteren S 1.000,-- monatlich ab auf. Es stellte folgenden weiteren Sachverhalt fest:

Im Vergleich zu den am festgestellten Unfallfolgen ist mit Ausnahme des Zustands am rechten Auge zum keine Änderung eingetreten. Bei der augenärztlichen Untersuchung zeigte sich nunmehr - neben der bereits bekannten postoperativen Linsenlosigkeit des linken Auges - ein gelblich brauner Kernstar des rechten Auges, der zu einer allmählichen Sehverschlechterung an diesem Auge führte. Ein unmittelbarer Zusammenhang dieses Leidens mit dem Unfallereignis ist unwahrscheinlich, allerdings wurde durch das damals erlittene schwere Schädelhirntrauma das präsenile Auftreten des von der Trübungsform her typischen Altersstars begünstigt. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wäre der braune Kernstar des rechten Auges ohne das Unfallereignis nicht zeitgleich, sondern erst mehr als ein Jahr später aufgetreten. Durch den früheren Eintritt dieser Krankheit ergibt sich zusätzlich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 v.H., so daß augenärztlicherseits nunmehr unter Einschluß des linken Auges eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % dauernd besteht. Unter Berücksichtigung aller übrigen bereits im Oktober 1979 festgestellten Unfallsfolgen beträgt die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit aus dem Arbeitsunfall ab 50 v.H.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Kausalität sei dann zu bejahen, wenn der Schaden (ohne Unfallereignis) nicht in der gleichen Schwere oder Schnelligkeit eingetreten wäre. Nur dann, wenn der anlagebedingte Krankheitszustand in absehbarer Zeit, d.h. innerhalb eines Jahres mit denselben Folgen eingetreten wäre, trete das Unfallereignis in den rechtlichen Rang einer Gelegenheitsursache. Ansonsten aber habe eine Zurechnung an die Unfallversicherung dann zu erfolgen, wenn die aus dem geschützten Lebensbereich stammende Ursache zu einer Verfrühung oder Erschwerung des Schadens geführt habe. Der Arbeitsunfall habe an dem zeitlich früheren Eintritt des Kernstars am rechten Auge wesentlich mitgewirkt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Es hielt ein Eingehen auf den Berufungsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung für überflüssig, weil der Rechtsrüge der beklagten Partei schon vom festgestellten Sachverhalt ausgehend Berechtigung zukomme. Um beurteilen zu können, ob der geänderte Zeitpunkt des eingetretenen Erfolges ein erheblich anderer sei und damit der Arbeitsunfall eine wesentliche Bedingung, sei die Relation zu jenem Zeitraum herzustellen, in dem die krankhafte Veranlagung für sich allein zum Ausbruch der Krankheit geführt hätte. Letztlich stellten sich die beiden Ursachen für die Sehbeeinträchtigung am rechten Auge des Klägers so dar, daß es eines Alterungsprozesses von 26 Jahren bedurfte. Ohne Unfall wäre es bei einer nur verhältnismäßig unbedeutend längeren Zeitspanne zur gleichen Beeinträchtigung des Sehvermögens gekommen. Die beim Arbeitsunfall entstandenen Verletzungen würden daher nach ihrer Qualität völlig zurücktreten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils.

Die beklagte Partei beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne eines Aufhebungsantrages, der im Revisionsantrag enthalten ist (EvBl. 1955/188, SZ 48/1, SZ 48/19 ua; Fasching Komm. IV 64), berechtigt.

Wie der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre wiederholt ausgesprochen hat, gilt für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und der Körperbeschädigung des Versicherten die besondere Kausalitätslehre der gesetzlichen Unfallversicherung, nämlich die Lehre von der wesentlichen Bedingung oder wesentlich mitwirkenden Ursache (SSV-NF 4/83 mwN). Der Zusammenhang ist nicht nur zu bejahen, wenn der Unfall die alleinige Bedingung des Körperschadens ist; auch wenn er nur eine von mehreren Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne ist (konkurrierende Kausalität) bildet er im Sinne der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre eine Ursache, wenn er eine wesentliche Bedingung für den Körperschaden war. Als Ursache oder Mitursache sind daher unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben, die also nicht im Hinblick auf Mitursachen so erheblich in den Hintergrund treten, daß sie als unwesentlich erscheinen.

Die Judikatur bezeichnet als wesentlich nur jene Bedingung, ohne deren Mitwirkung der Erfolg zu einem erheblich anderen Zeitpunkt oder nur im geringeren Umfang eingetreten wäre. Dieser Grundsatz ist auf die sogenannten Anlagefälle zugeschnitten: Der Gesundheitsschaden ist zwar real durch eine kausale Einwirkung aus dem Schutzbereich der Unfallversicherung entstanden, doch wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb kurzer Zeit in ähnlicher Schwere auch auf Grund einer schicksalhaften inneren Anlage entstanden. Es handelt sich damit um eine Problemlage, die im Schadenersatzrecht als überholende Kausalität bekannt ist (Tomandl SV-System 4.ErgLfg. 305 mwN). Im Schadenersatzrecht wird in solchen Fällen die Haftung nur dann ausgeschlossen, wenn die Schädigung weder zu einer rascheren noch zu einer stärkeren Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt hat, als sie krankheitsbedingt auch ohne das Schadenereignis eingetreten wäre. Im Sozialversicherungsrecht meint die Judikatur, daß die Unfallversicherung zur Leistung nur verpflichtet ist, wenn eine erhebliche Differenz besteht, dies offenbar deshalb, weil im allgemeinen Schadenersatzrecht die Ersatzpflicht nur auf den Verfrühungs- oder Verschlimmerungsschaden eingeschränkt ist, während die gesetzliche Unfallversicherung so lange leisten muß, als der unfallbedingte Leidenszustand nicht gebessert ist; spätere hypothetische oder wirkliche Beeinträchtigungen der Gesundheit vermögen sie grundsätzlich nicht zu entlasten. Der Körperschaden wird daher nur dann der Unfallversicherung zugerechnet, wenn er ohne den Umstand aus der Gefahrensphäre der Unfallversicherung erheblich später oder erheblich geringer eingetreten wäre (Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 58 f; derselbe, Juristische Überlegungen zur Neuordnung der gesetzlichen Unfallversicherung in FS Weissenberg [1980], 417 ff, besonders 432 und 434; derselbe SV-System aaO jeweils mwN).

Welches Ausmaß die Verfrühung des Körperschadens durch das Unfallereignis aufweisen muß, wird nicht einhellig beantwortet. In der Bundesrepublik Deutschland wird in Anlehnung an die Rechtsprechung zum unfallbedingten früheren Eintritt des Todes die Auffassung vertreten, daß eine wesentliche Bedingung angenommen werden kann, wenn durch das Unfallereignis der Körperschaden wenigstens ein Jahr früher eingetreten ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung

II 72. Nachtrag 488 t mwN, ebenso Mollowitz, Der Unfallmann10 21). Hingegen wurde in der österreichischen Lehre die Auffassung vertreten, daß etwa die Ablehnung der Gewährung einer Unfallheilbehandlung auch bei einer Verfrühung um nur wenige Tage nicht einzusehen wäre und daß es nur bei der Gewährung von Versehrten- oder Hinterbliebenenrenten auf eine längere Frist ankommen müsse: Als besondere Leistungsvoraussetzung verlange das ASVG für das Entstehen eines Anspruchs auf Versehrtenrente, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 20 v.H. beträgt und durch wenigstens drei Monate anhält (§ 203 Abs. 1 ASVG; Tomandl, FS Weissenberg aaO 434; ähnlich Leistungsrecht aaO 59).

Im gegenständlichen Fall braucht zu dieser Kontroverse nicht Stellung genommen zu werden, weil nach Ansicht des erkennenden Senates eine Verfrühung des Körperschadens durch den Unfall um mehr als ein Jahr jedenfalls erheblich im Sinne der bisherigen Ausführungen ist. Wäre der nunmehr festgestelte Körperschaden (Kernstar des rechten Auges) ohne Unfallereeignis erst mehr als ein Jahr später aufgetreten, dann ist der Unfall wesentliche Bedingung für diesen Körperschaden, mag er auch erst lange Jahre nach dem Unfall aufgetreten sein. Der Auffassung des Berufungsgerichtes, die Verfrühung des Schadens um mehr als ein Jahr sei deshalb unbeachtlich, weil seit dem Unfall 26 Jahre vergangen seien, kann nicht gefolgt werden. Die Schwere eines Körperschadens oder das Ausmaß der Verschlimmerung eines Leidens hängen nicht von dem Zeitraum ab, der seit dem schädigenden Ereignis verstrichen ist.

Dennoch ist die Sache nicht spruchreif. Die wesentliche, auf dem Gutachten des augenärztlichen Sachverständigen beruhende Feststellung, ohne Unfallereignis wäre der Körperschaden erst mehr als ein Jahr später aufgetreten, wurde von der beklagten Partei in der Berufung ausdrücklich als unrichtig bekämpft. Der ärztliche Sachverständige hat diese Aussage in einem Ergänzungsgutachten vom (ON 10) getroffen, ohne allerdings hiefür irgendwelche Gründe anzuführen. Deshalb kann es auch nicht schaden, wenn die beklagte Partei ihren Berufungsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung nicht näher ausführte. Das Berufungsgericht hätte sich aber mit der Beweisrüge der beklagten Partei auseinandersetzen müssen. Mangels Behandlung der Beweisrüge konnte das Berufungsgericht auch die entscheidende Feststellung des Erstgerichtes nicht übernehmen.

Das Urteil des Berufungsgerichtes leidet daher an einem Feststellungsmangel, der im Rahmen des Revisionsgrundes der unrichtigen rechtlichen Beurteilung (§ 503 Z 4 ZPO) wahrgenommen werden muß. Der darin zu erblickende sekundäre Verfahrensmangel, zurückgehend auf eine Nichterledigung der von der beklagten Partei in ihrer Berufung erhobenen Tatsachenrüge zwingt zu einer Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichtes und Zurückverweisung der Sache an dieses zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger mündlicher Berufungsverhandlung (Fasching ZPR2, Rz 1806; 10 Ob S 31/91).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs. 1 ZPO.