OGH vom 12.12.2018, 15Os113/18h (15Os114/18f)
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Kontr. Gsellmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Werner B***** und eine weitere Beschuldigte wegen des Vergehens der Untreue nach § 153 StGB, AZ 5 St 72/16p der Staatsanwaltschaft St. Pölten, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Landesgerichts St. Pölten vom , AZ 12 HR 84/17p (ON 36 der Ermittlungsakten), und des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom , AZ 132 Bs 50/18z (ON 42 der Ermittlungsakten) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wachberger, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Text
Gründe:
Am stellte die Staatsanwaltschaft St. Pölten das zu AZ 5 St 72/16p wegen des Verdachts der Untreue nach § 153 StGB geführte Ermittlungsverfahren gegen Werner B***** und Gerlinde B***** gemäß § 190 Z 2 StPO ein (ON 1 S 8).
Am verlangte die Anzeigerin Renate S***** die „Übermittlung einer Abschrift des Strafaktes 5 St 72/16p mit Stand ab einschließlich ON 31“ (ON 33).
Die Staatsanwaltschaft St. Pölten verweigerte die – der Sache nach begehrte – Gewährung von Akteneinsicht und teilte dies der Antragstellerin mit Note vom mit (ON 34).
Mit Beschluss vom , AZ 12 HR 84/17p (ON 36), gab das Landesgericht St. Pölten dem dagegen von Renate S***** erhobenen Einspruch wegen Rechtsverletzung (ON 35) statt und trug der Staatsanwaltschaft St. Pölten auf, der Genannten aufgrund ihres rechtlichen Interesses als Beteiligte eines zwischen ihr und den Beschuldigten geführten Zivilprozesses wegen eines Entschädigungsanspruchs, der in Zusammenhang mit dem zur Anzeige gebrachten Sachverhalt steht, Akteneinsicht zu gewähren.
Der dagegen erhobenen Beschwerde der vormals Beschuldigten Werner B***** und Gerlinde B***** gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom , AZ 132 Bs 50/18z (ON 42), mit der Maßgabe nicht Folge, dass die Akteneinsicht – wie begehrt – (erst) ab ON 31 zu gewähren ist.
In der Folge übermittelte die Staatsanwaltschaft Renate S***** die verlangte Aktenkopie (ON 1 S 12).
In ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes führt die Generalprokuratur wie folgt aus:
Die Beschlüsse des Landesgerichts St. Pölten vom , AZ 12 HR 84/17p (ON 36), und des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom , AZ 132 Bs 50/18z (ON 42), stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß § 106 Abs 1 StPO steht jeder Person, die behauptet, in einem Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt worden zu sein, weil ihr die Ausübung eines Rechts nach diesem Gesetz verweigert wurde (Z 1), der an das Gericht gerichtete Einspruch wegen Rechtsverletzung zu. Gemäß Abs 3 leg cit ist der Einspruch binnen sechs Wochen ab Kenntnis der behaupteten Rechtsverletzung bei der Staatsanwaltschaft einzubringen; im Regelfall hat diese dem Einspruch binnen vier Wochen zu entsprechen (Abs 5 leg cit) oder den Einspruch an das gemäß § 107 Abs 1 StPO zur Entscheidung darüber berufene Gericht weiterzuleiten.
Gemäß § 107 Abs 1 StPO idF vor BGBl I 2013/195 war ein – bis dahin unbefristet möglicher – Einspruch nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens nicht mehr zulässig; zuvor gemäß § 106 Abs 1 Z 1 StPO erhobene Einsprüche waren ab diesem Zeitpunkt als gegenstandslos zu betrachten.
Mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2013, BGBl I 2013/195, wurde diese Bestimmung beseitigt und durch die in der Folge in § 106 Abs 3 und Abs 5 StPO verankerten Fristen ersetzt. Unter einem wurde der Wortlaut des § 106 Abs 1 StPO dahin geändert, dass der Einspruch nicht mehr unbedingt im Ermittlungsverfahren erhoben werden muss (so die bis dahin geltende Fassung BGBl I 2007/93), sondern Gegenstand des Einspruchs die Behauptung einer im Ermittlungsverfahren erfolgten Verletzung in einem subjektiven Recht ist.
Daraus folgt, dass der Einspruch wegen Rechtsverletzung bei Einhaltung der sechswöchigen Frist (§ 106 Abs 3 StPO) auch nach durch Einstellung oder Einbringung eines Verfolgungsantrags erfolgter Beendigung des Ermittlungsverfahrens erhoben werden kann (Fabrizy, StPO13§ 106 Rz 7, § 107 Rz 1). Zulässig ist er jedoch stets nur dann, wenn ihm die Behauptung zugrunde liegt, der Einspruchswerber sei imErmittlungsverfahren, also vor dessen Beendigung, durch die Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt worden (Pilnacek/Stricker, WK-StPO § 107 Rz 2).
Im gegenständlichen Fall hat Renate S*****, die im Ermittlungsverfahren als Privatbeteiligte auftrat, den Antrag auf Akteneinsicht (durch Aktenübermittlung) erst nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gestellt. Ihr nach Verweigerung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 106 StPO erhobener Einspruch wegen Rechtsverletzung bezog sich somit nicht auf eine von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren getroffene Entscheidung, sondern auf eine solche nach dessen Beendigung. Er wäre daher gemäß § 107 Abs 1 StPO als unzulässig zurückzuweisen gewesen.
Diese Bestimmungen verletzen sowohl der Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom , AZ 12 HR 84/17p (ON 36), mit dem Renate S***** entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft Akteneinsicht gewährt wurde, als auch jener des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom , AZ 132 Bs 50/18z (ON 42), mit welchem der Beschwerde der vormals Beschuldigten nur dahin Folge gegeben wurde, dass die Renate S***** zu gewährende Akteneinsicht auf den von ihr beantragten Umfang beschränkt, die Zulässigkeit des von ihr erhobenen Einspruchs wegen Rechtsverletzung aber ausdrücklich bejaht wurde (BS 7).
Bleibt anzumerken, dass gegen die (unberechtigte) Verweigerung von Akteneinsicht nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens (ohne Anklageerhebung) die Erhebung einer Dienstaufsichtsbeschwerde an die Oberstaatsanwaltschaft in Betracht kommt (Fabrizy, StPO13§ 77 Rz 4, Oshidari, WK-StPO § 77 Rz 4).
Diese jeweilige Gesetzesverletzung wäre (nur) festzustellen; ob sie den vormals Beschuldigten zum Nachteil gereicht (§ 292 letzter Satz StPO), kann dahingestellt bleiben, weil die gegebenenfalls zu Unrecht gerichtlich angeordnete Übermittlung der Aktenabschrift an Renate S***** nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Sah § 107 Abs 1 erster Satz StPO idF des Strafprozessreformgesetzes (BGBl I 2004/19) noch vor, dass „nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens“ ein Einspruch nicht mehr zulässig war und zuvor erhobene Einsprüche gemäß § 106 Abs 1 Z 1 StPO als gegenstandslos zu betrachten waren, lautet § 107 Abs 1 StPO (idgF BGBl I 2013/195) nunmehr:
„Unzulässige, verspätete oder solche Einsprüche, denen die Staatsanwaltschaft entsprochen hat, sind zurückzuweisen. Im Übrigen hat das Gericht in der Sache zu entscheiden. Im Fall, dass Anklage eingebracht wurde, hat über den Einspruch jenes Gericht zu entscheiden, das im Ermittlungsverfahren zuständig gewesen wäre.“
§ 106 Abs 1 (erster Satz) StPO lautete idF BGBl I 2004/19:
„Einspruch an das Gericht steht im Ermittlungsverfahren jeder Person zu, die behauptet, durch Staatsanwaltschaft oder Kriminalpolizei in einem subjektiven Recht verletzt worden zu sein, weil
1. ihr die Ausübung eines Rechtes nach diesem Gesetz verweigert oder
2. eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde.“
IdgF (BGBl I 2015/85) lautet diese – seitdem mehrfach, ua durch BGBl I 2013/195 geänderte – Bestimmung nunmehr:
„Einspruch an das Gericht steht jeder Person zu, die behauptet, im Ermittlungsverfahren durch [ergänze: die] Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil
1. ihr die Ausübung eines Rechtes nach diesem Gesetz verweigert oder
2. eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde.“
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten die mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2013 (BGBl I 2013/195) erfolgten Änderungen in § 106 und 107 StPO ua sicherstellen, dass die Einbringung eines Einspruchs nicht mehr mit dem Ende des Ermittlungsverfahrens befristet ist, weil es der Bedeutung der Verletzung subjektiver Rechte entspreche, eine gerichtliche Entscheidung darüber auch in jenen Fällen zu ermöglichen, in denen das Ermittlungsverfahren bereits beendet wurde. Damit sollte insbesondere nicht beschuldigten Betroffenen von Zwangsmaßnahmen effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden. Ausdrücklich sollten aber auch Fälle behaupteter Verletzungen in einem subjektiven Recht durch Verweigerung eines Rechts nach diesem Gesetz (zB auf Gewährung von Akteneinsicht) „über das Stadium des Ermittlungsverfahrens hinaus einer gerichtlichen Entscheidung zugeführt werden“ (ErläutRV 2402 BlgNR 24. GP 10 f).
Dieser Gesetzeszweck spricht geradezu dafür, dass durch den Wegfall der Unzulässigkeit eines Einspruchs „nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens“ gerichtlicher Rechtsschutz – innerhalb der Einspruchsfrist – gewährleistet werden sollte und nicht bloß in jenen Fällen, wo Anklage erhoben wurde oder die (wenn auch erst danach) behauptete Rechtsverletzung noch vor Beendigung des Verfahrens im Sinn des 10. oder 11. Hauptstücks erfolgte. Schließlich wurde auch nicht erklärt, dass und weshalb ein solcher Rechtsschutz nunmehr (nur mehr) dann ausgenommen sein sollte, wenn die Staatsanwaltschaft die Ausübung eines in der StPO eingeräumten subjektiven Rechts erst nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens durch Einstellung oder Rücktritt von der Verfolgung (vgl § 1 Abs 2 letzter Satz erster und zweiter Fall StPO) verweigert.
Immerhin sieht die StPO zahlreiche (subjektive) Rechte vor, die für Betroffene über das Ende eines Strafverfahrens (§ 1 Abs 2 letzter Satz StPO) hinaus Bedeutung haben können. Solche Rechte betreffende prozessuale Handlungspflichten der Staatsanwaltschaft können sich auch (noch oder erst) nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens ergeben (vgl Pilnacek/Stricker, WKStPO § 107 Rz 8).
Auch im Fall der Verweigerung von (subjektiven) Rechten nach Beendigung eines Strafverfahrens durch eine Entscheidung (§ 1 Abs 2 letzter Satz dritter Fall StPO) erfolgt eine im Beschwerdeweg überprüfbare gerichtliche Entscheidung (vgl § 35, 86, 87 StPO), obwohl die StPO nach ihrem Wortlaut genau genommen bloß die Tätigkeit und Zuständigkeit von erstinstanzlichen Gerichten „im Strafverfahren“, „im Ermittlungsverfahren“ oder „im Hauptverfahren“ vorsieht (§ 29 Abs 1 Z 1 und 2, § 31, 32, 36, § 98 Abs 2 StPO), nicht aber ausdrücklich auch – von einigen besonderen Bestimmungen abgesehen (vgl etwa § 357, 364 StPO) – für weitere sich aus dem Regelungsinhalt der StPO ergebende Entscheidungen, die mit den bereits beendeten Verfahrensabschnitten zusammenhängen (vgl § 1 Abs 1 erster Satz StPO).
Versteht man aber in diesem Kontext die Wendungen „im Ermittlungsverfahren“ oder „im Hauptverfahren“ nicht als Ausdruck einer strikten zeitlichen Begrenzung auf diesen Verfahrensabschnitt, sondern als allgemeine Unterscheidung zwischen den Verfahrensstadien, auf die sich die nach der StPO zu treffende Entscheidung (vgl § 1 Abs 1 erster Satz StPO) bezieht, kann vor dem Hintergrund des aufgezeigten Gesetzeszwecks bei § 107 StPO auch der Wendung „im Ermittlungsverfahren“ in § 106 Abs 1 erster Satz StPO ein solcher Sinn beigemessen werden.
Welches Gericht über einen Einstellung des Ermittlungsverfahrens erhobenen Einspruch zu entscheiden hat, der eine noch vor der Verfahrensbeendigung erfolgte Rechtsverweigerung durch die Staatsanwaltschaft betrifft, ließ der Gesetzgeber nämlich gleichfalls offen, obwohl gerade solche Fälle – selbst nach Auffassung der Generalprokuratur – einer gerichtlichen Kontrolle unterstellt werden sollten. Ausdrücklich Bezug nimmt das Gesetz vielmehr bloß auf den Fall, dass Anklage eingebracht wurde, und stellt klar, dass (selbst) dann jenes Gericht über den Einspruch zu entscheiden hat, das „im Ermittlungsverfahren zuständig gewesen wäre“ – und nicht etwa das für das Hauptverfahren zuständige Gericht (§ 107 Abs 1 letzter Satz StPO).
Aus den dargelegten Gründen haben das Landesgericht St. Pölten (ON 36) und das Oberlandesgericht Wien (ON 42) zu Recht meritorisch über den gegenständlichen Einspruch wegen Rechtsverletzung bzw die darauf bezogene Beschwerde entschieden (in diesem Sinn ersichtlich auch Pilnacek/Stricker, WK-StPO § 107 Rz 5–10; Fabrizy, StPO13§ 106 Rz 7 und § 107 Rz 1), sodass die Nichtigkeitsbeschwerde zu verwerfen war.
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2018:0150OS00113.18H.1212.000 |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.