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VfGH vom 09.03.2011, B1085/10

VfGH vom 09.03.2011, B1085/10

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Leitsatz

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch ein Straferkenntnis wegen illegaler Beschäftigung von Ausländern; keine Rechtfertigung der Verfahrensdauer von fast drei Jahren; im Übrigen Abweisung der Beschwerde

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art 6 Abs 1 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird im Strafausspruch und im Kostenausspruch aufgehoben.

II. Im Übrigen ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Insofern wird die Beschwerde abgewiesen und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III. Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 1.420,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.

1. Mit Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom wurden über den Beschwerdeführer 27 Geldstrafen im Ausmaß von je € 4.200,-- (bzw. je eine Woche, vier Tage und fünf Stunden Ersatzfreiheitsstrafe) gemäß § 3 Abs 1 iVm § 28 Abs 1 Z 1 lita AuslBG iVm § 9 Abs 1 VStG verhängt, da er es als handelsrechtlicher Geschäftsführer einer Gesellschaft zu verantworten habe, dass diese 27 Personen polnischer bzw. kroatischer Staatsbürgerschaft zur Durchführung der Montage bzw. der Verspachtelung von Gipskartonplatten auf einer Baustelle ohne Vorliegen entsprechender arbeitsmarktrechtlicher Bewilligungen beschäftigt habe.

2. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung wurde mit dem am mündlich verkündeten und am ausgefertigten Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien insofern Folge gegeben, als das erstinstanzliche Straferkenntnis hinsichtlich der Beschäftigung von acht Arbeitern behoben und das Verfahren diesbezüglich gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG eingestellt wurde.

In der Schuldfrage nahm die belangte Behörde insofern Abänderungen vor, als sie hinsichtlich einiger Verwaltungsstrafen die Zeiträume der Beschäftigung richtig stellte.

Im Übrigen wurden zehn der verhängten Geldstrafen von je € 4.200,-- auf je € 3.000,-- (bzw. je sechs Tage Ersatzfreiheitsstrafe), sechs Geldstrafen auf je € 2.500,-- (bzw. je fünf Tage Ersatzfreiheitsstrafe) und drei Geldstrafen auf je € 3.500,-- (bzw. je sieben Tage Ersatzfreiheitsstrafe) herabgesetzt. Der Bescheidbegründung zufolge erfolgte die Reduktion des Strafausmaßes unter anderem auf Grund der Heranziehung der langen Verfahrensdauer als Milderungsgrund.

3. In der dagegen erhobenen, auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde wird die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 EMRK wegen unangemessener Verfahrensdauer behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt:

Einerseits hätte die belangte Behörde die bis zur Verkündung der - erst "kurz vor Verjährung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Verwaltungsüberschreitungen" [sic] ergangenen - Entscheidung bereits "außerordentlich lange" Verfahrensdauer im Rahmen der Strafbemessung stärker berücksichtigen müssen. Andererseits sei die Verfahrensdauer durch die Zustellung der schriftlichen Bescheidausfertigung um zusätzliche drei Jahre verlängert worden.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, "im Hinblick auf die Bescheidbegründung" von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II.

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die Beschwerde ist insofern begründet, als die überlange Dauer des Verwaltungsstrafverfahrens, soweit diese durch die Verzögerung der Zustellung des angefochtenen, mündlich verkündeten Bescheides bewirkt wurde, durch die belangte Behörde im Rahmen der Strafbemessung nicht berücksichtigt werden konnte:

1.1. Art 6 Abs 1 EMRK bestimmt unter anderem, dass jedermann "Anspruch darauf [hat], dass seine Sache … innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem … Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. VfSlg. 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005, 18.743/2009; vgl. auch Frowein/Peukert, EMRK3, 2009, Art 6 Rz 251, sowie Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4, 2009, § 24 Rz 69). Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des EGMR ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg. 16.385/2001 mH auf die Rechtsprechung des EGMR; 17.821/2006, 18.066/2007, 18.509/2008).

1.2. In der Rechtsprechung des EGMR zu Strafverfahren wird für den Beginn der Frist jener Zeitpunkt angenommen, "in which a person is charged", dh. sobald ein Beschuldigter durch offizielle Mitteilung oder auch in sonstiger Weise darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass gegen ihn wegen des Verdachts, eine strafbare Handlung begangen zu haben, Ermittlungen mit dem Ziel strafrechtlicher Verfolgung durchgeführt werden und seine Lage dadurch in erheblicher Weise beeinträchtigt wird (Frowein/Peukert, aaO, Art 6 Rz 240; EGMR , Fall Eckle, Appl. 8130/78; VfSlg. 16.385/2001, 17.339/2004, 17.854/2006).

Im vorliegenden Fall erlangte der Beschwerdeführer mit Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung durch den Magistrat der Stadt Wien am erstmals offiziell Kenntnis von dem gegen ihn erhobenen Tatvorwurf. Als Zeitpunkt des Beginns des Verwaltungsstrafverfahrens ist daher dieser Tag anzunehmen.

Das Verfahren endete in erster Instanz mit dem Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom , zugestellt am . Die am durch den Beschwerdeführer gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung langte am selben Tag beim Magistrat der Stadt Wien ein und wurde der belangten Behörde am zur Entscheidung übermittelt.

Als Zeitpunkt des vorläufigen Endes des der Beurteilung durch den Verfassungsgerichtshof unterliegenden Verfahrens ist grundsätzlich der Tag der Zustellung des das Verfahren abschließenden, angefochtenen Bescheides maßgeblich (vgl. ). Im vorliegenden Fall wurde der angefochtene Bescheid jedoch nicht durch Zustellung, sondern durch mündliche Verkündung erlassen; zugestellt wurde lediglich die schriftliche Ausfertigung des bereits erlassenen Bescheides.

Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR (vgl. EGMR , Fall Jancikova, Appl. 56.483/00) sowie jener des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 18.066/2007 zur Zustellung des angefochtenen Bescheides mehr als ein Jahr und acht Monate nach dessen Verkündung; vgl. ferner VfSlg. 18.533/2008 zum Fall der verzögerten Zustellung eines - nicht bereits mündlich erlassenen - Bescheides) ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass auch die Zeitspanne zwischen der mündlichen Verkündung und der Ausfertigung des Bescheides zur Verfahrensdauer iSd Art 6 Abs 1 EMRK zählt.

Als Zeitpunkt des Endes des zu überprüfenden Verfahrens ist daher, wenn auch der angefochtene Bescheid bereits durch mündliche Verkündung erlassen wurde, der Tag der Zustellung des am mündlich verkündeten und am ausgefertigten Bescheides der belangten Behörde, somit der anzusehen.

1.3. Im vorliegenden Fall vermag die Länge des Zeitraums zwischen der Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung am und der mündlichen Verkündung des Bescheides der belangten Behörde am keine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art 6 Abs 1 EMRK zu begründen, zumal die belangte Behörde diese lange Verfahrensdauer in ihrem Bescheid im Rahmen der Strafbemessung als Milderungsgrund gewertet hat.

Ins Gewicht fällt jedoch, dass zwischen der mündlichen Verkündung des angefochtenen Bescheides am und zwischen der Zustellung der mit datierten Ausfertigung am mehr als zwei Jahre und elf Monate vergangen sind.

Die ungewöhnliche Länge des Zeitraums zwischen der mündlichen Verkündung und der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Bescheides ist allein dem Verhalten der belangten Behörde zuzuschreiben; insbesondere kann dem Beschwerdeführer kein Vorwurf gemacht werden, das Verfahren unnötig verzögert zu haben.

Im Beschwerdeverfahren sind keine besonderen Umstände hervorgekommen, welche die Dauer des Verfahrens zwischen der mündlichen Verkündung und der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Bescheides von über zwei Jahren und elf Monaten rechtfertigen könnten.

1.4. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art 6 Abs 1 EMRK verletzt worden (s. auch ).

1.5. Der angefochtene Bescheid ist - abgesehen vom Kostenausspruch - lediglich im Umfang des Strafausspruchs aufzuheben, weil die festgestellte Rechtsverletzung den Ausspruch über die Schuld unberührt lässt und eine Änderung nur im Rahmen der Strafbemessung gemäß § 19 VStG in Betracht kommt, insbesondere durch die verfassungskonforme Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund iSd § 19 Abs 2 VStG unter sinngemäßer Anwendung des § 34 Abs 2 StGB (vgl. VfSlg. 17.854/2006; , sowie , und , 2008/09/0095; vgl. zur Verhängung von Disziplinarstrafen in Fällen der überlangen Verfahrensdauer , sowie ). Die belangte Behörde wird zu überprüfen haben, inwieweit bei der Strafbemessung neben der objektiven Schwere der Verwaltungsübertretungen und Gründen der General- und Spezialprävention das Vorliegen des Milderungsgrundes der - hinsichtlich der Ausfertigung vorliegenden - unangemessenen Verfahrensdauer zu berücksichtigen ist.

Der Bescheid ist auch im Umfang des Kostenausspruchs aufzuheben, da der Beitrag zu den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens sich nach der Höhe der verhängten Geldstrafe richtet (§64 Abs 2 VStG) und daher mit dem Strafausspruch in Zusammenhang steht.

2. Im Übrigen ist die Beschwerde nicht begründet:

Eine Verletzung in weiteren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten wurde in der Beschwerde nicht behauptet. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, dass er in seinen Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.

Die Beschwerde ist daher im Übrigen abzuweisen und gemäß Art 144 Abs 3 B-VG antragsgemäß dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Da der Beschwerdeführer nur zum Teil obsiegte, wird diesem angesichts des Gesamtergebnisses lediglich die Hälfte der Kosten des Verfahrens zuerkannt (vgl. VfSlg. 14.492/1996, 16.385/2001, 16.573/2002, 18.066/2007). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 200,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.

Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.