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OGH vom 24.01.2017, 10ObS100/16b

OGH vom 24.01.2017, 10ObS100/16b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Dr. Franz Gütlbauer und andere Rechtsanwälte in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, wegen Entziehung der Waisenpension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 41/16k-24, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 17 Cgs 99/15k-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger leidet infolge von Komplikationen bei der Geburt an einer hochgradigen linksbetonten spastischen Tetraparese mit Sprachstörung.

Mit Bescheid vom wurde dem Kläger die Waisenpension ab über das 18. Lebensjahr hinaus weiter gewährt.

Mit Bescheid vom entzog die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Waisenpension mit Ablauf des Kalendermonats Mai 2015 mit der Begründung, dass Arbeitsunfähigkeit nicht mehr gegeben sei.

Zum Zeitpunkt der Weitergewährung der Waisenpension über das 18. Lebensjahr hinaus stand der Kläger beim Verein zur Förderung von Arbeit und Beschäftigung (FAB) in einem Beschäftigungsverhältnis (Zweiter Arbeitsmarkt) und war am allgemeinen Arbeitsmarkt aus gesundheitlichen Gründen nicht einsetzbar.

Seit ist der Kläger als Angestellter im Ersten Arbeitsmarkt berufstätig. Er arbeitet an einem Büroarbeitsplatz an einem PC in der Datenerfassung und Dokumentation und bezieht ein monatliches Gehalt in Höhe von zumindest 3.000 EUR brutto. Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt 38,5 Stunden. Es ist durchaus wahrscheinlich, wenn auch nicht hoch wahrscheinlich, dass diese Beschäftigung auf einem besonderen Entgegenkommen des Arbeitgebers beruht und der Kläger insbesondere im Hinblick auf seine motorischen und sprachlichen Einschränkungen im Zusammenhang mit einer wesentlichen Verlangsamung am allgemeinen Arbeitsmarkt nach wie vor ohne besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers nicht einsetzbar ist.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Waisenpension über den hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Angesichts des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses des Klägers mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 3.000 EUR komme es nicht darauf an, ob eine wesentliche Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes als Voraussetzung für die Entziehung der Leistung eingetreten sei. Der Zweck der Waisenpension liege darin, den durch den Tod entgangenen Unterhaltsanspruch in einer generalisierten Weise zu substituieren. Sobald der Unterhalt durch eigene Einkünfte gesichert sei, sei eine Sicherung der Lebenshaltung in Form der Weitergewährung der Waisenpension nicht länger erforderlich. Eine besondere Klarstellung in dieser Hinsicht sei durch die am in Kraft getretene Bestimmung des § 252 Abs 3 ASVG (Novelle BGBl I 2014/56) erfolgt. Diese Novelle wäre nicht notwendig gewesen, wenn die Ansicht richtig wäre, dass neben einem sozialversicherungspflichtigen Dienstverhältnis mit einem die Selbsterhaltungsfähigkeit sichernden Einkommen auch eine Waisenpension wegen Erwerbsunfähigkeit über das 18. Lebensjahr hinaus parallel bezogen werden könne. Da der Kläger nunmehr seit 18 Jahren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Angestellter stehe und ein monatliches Bruttoentgelt von 3.000 EUR beziehe, lägen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Waisenpension über das 18. Lebensjahr hinaus aktuell nicht mehr vor, sodass die beklagte Partei die Leistung zu Recht entzogen habe.

Das Berufungsgericht bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und ließ die Revision im Hinblick auf das Fehlen von Rechtsprechung zur Auslegung der Bestimmung des § 252 Abs 3 ASVG zu.

Rechtliche Beurteilung

Die von der beklagten Partei nicht beantwortete Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

In seiner Revision stellt der Kläger in den Vordergrund, § 252 Abs 3 ASVG sei keineswegs so zu verstehen, dass bei Ausübung einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit die Waisenpension ex lege und unabhängig vom Gesundheitszustand wegfalle. Durch die Einfügung des § 252 Abs 3 ASVG habe vielmehr eine Absicherung und somit ein Anreiz für Behinderte geschaffen werden sollen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auch eine verfassungskonforme Interpretation spreche gegen das von den Vorinstanzen erzielte Auslegungsergebnis. Messe man dieser Regelung das von den Vorinstanzen vertretene Verständnis bei, so wäre ein schwerwiegender und plötzlicher Eingriff in erworbene Rechtspositionen gegeben, auf deren Bestand der Normunterworfene mit guten Gründen habe vertrauen können. Da keine Übergangsregelung bestehe, die zusätzliche Dispositionsmöglichkeiten einräume und das Gewicht des Eingriffs fühlbar mindern würde, wäre die Gesetzesänderung unverhältnismäßig und verstieße gegen den Vertrauensgrundsatz. Eine Entziehung der Waisenpension dürfe nur erfolgen, wenn sich zwischen dem Zeitpunkt ihrer Zuerkennung und dem Zeitpunkt ihrer Entziehung die Verhältnisse wesentlich geändert hätten, sodass keine Erwerbsunfähigkeit mehr gegeben sei.

Dazu wurde erwogen:

1. Der Oberste Gerichtshof hat in der denselben Kläger betreffenden Entscheidung vom , 10 ObS 59/16y, ausführlich zur gleichlautenden, ebenfalls mit der Novelle BGBl I 2014/56 eingeführten Parallelbestimmung des § 119 Abs 3 BSVG Stellung genommen und ist zum Schluss gekommen, dass für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 119 Abs 2 Z 3 BSVG (gleichlautend § 252 Abs 2 Z 3 ASVG) ausschließlich medizinische Gesichtspunkte ausschlaggebend sind, dies ohne Bedachtnahme darauf, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch etwa auf Kosten seiner Gesundheit oder aufgrund eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers weiterhin ein Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bezieht.

2. Ausgehend von ihrer – vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten – Rechtsansicht haben die Vorinstanzen bisher im Verfahren zur Frage, ob der Kläger
– wie er vorbringt – weiterhin erwerbsunfähig im oben dargelegten Sinn ist oder ob – wie die beklagte Partei behauptet – eine wesentliche Besserung seines Gesundheitszustands (zumindest in Form einer Anpassung und Gewöhnung) eingetreten ist, die die Verrichtung von Arbeiten ermöglicht, keine eindeutigen Feststellungen getroffen. Dies wird im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein.

3. In diesem Sinn sind die die Klage abweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen zur neuerlichen Beurteilung durch das Erstgericht aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00100.16B.0124.000
Schlagworte:
Sozialrecht

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