OGH vom 24.02.2009, 10Ob111/08h
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Nicol K*****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie Bezirk 10, 1100 Wien, Van-der-Nüll-Gasse 20), infolge Revisionsrekurses der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 610/08m-U-46, womit über Rekurs der Minderjährigen der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom , GZ 2 P 189/01s-U-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben.
Text
Begründung:
Die Minderjährige und ihre in Wien, nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Eltern sind österreichische Staatsbürger. Der Vater ist zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 160 EUR verpflichtet. Seit Dezember 2007 hält sich die Minderjährige nicht mehr bei ihrer Mutter in Wien, sondern bei ihrem Onkel in Polen auf, den das Erstgericht mit Beschluss vom mit der Obsorge vorläufig betraute.
Ab April 2008 bezog der Vater Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung oder war er als Arbeiter pflichtversichert. In Form eines Aktenvermerks ordnete das Erstgericht am die „gänzliche Innehaltung" der Auszahlung der mit Beschluss vom gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG der Minderjährigen bis weiter gewährten Unterhaltsvorschüsse nach dem Vater ab an, weil der Mutter die Obsorge für das Kind entzogen worden sei und sich das Kind in Polen aufhalte.
Mit Schriftsatz vom beantragte der Jugendwohlfahrtsträger, die Unterhaltsvorschüsse an den Onkel der Minderjährigen auszuzahlen.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Minderjährigen gegen die Innehaltungsanordnung nicht Folge. § 16 Abs 2 UVG sei im Fall des Bestehens beachtlicher Bedenken gegen den Fortbestand der Voraussetzungen für die Vorschussgewährung (§ 2 UVG) analog anzuwenden. § 2 Abs 1 UVG knüpfe den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss auch an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Inland. Im Anlassfall sei davon auszugehen, dass die Minderjährige ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach Polen verlegt habe. Der Weiterbestand des Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss hänge von der Anwendbarkeit der Wanderarbeitnehmerverordnung ab. Der hiefür notwendige grenzüberschreitende Bezug werde dadurch hergestellt, dass der Unterhaltsverpflichtete oder derjenige, bei dem sich das Kind aufhalte, von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbstständiger Gebrauch mache oder Grenzgänger sei. Dass der Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten im Ausland gelegen sei, genüge alleine nicht. Im Anlassfall sei noch nicht geklärt worden, ob der Vater oder der mit der Obsorge vorläufig betraute Onkel jemals von der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten. Sollten die Voraussetzungen nach dem UVG weiter gegeben sein, werde auch zu klären sein, ob die Minderjährige nach dem Recht ihres nunmehrigen Wohnsitzstaats einen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse habe. In jenem Umfang, in dem dieser Anspruch zustehe, bestünde ein Anspruch nach dem UVG nicht. Angesichts dieser ungeklärt gebliebenen Umstände sei eine Innehaltung geboten. Das Rekursgericht sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob § 16 Abs 2 UVG in einem zwecks Überprüfung der Voraussetzungen der Vorschussgewährung im Sinn der Wanderarbeitnehmerverordnung eingeleiteten Einstellungsverfahren sinngemäß angewendet werden könne.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Minderjährigen ist zulässig und auch berechtigt.
1. Die in Form eines Aktenvermerks gekleidete Anordnung der gänzlichen Innehaltung der Vorschussauszahlung ist infolge des daraus klar hervorleuchtenden Entscheidungswillens des Erstgerichts ein Beschluss, der abweichend von § 16 Abs 2 letzter Satz UVG anfechtbar ist, weil er sich auf ein laufendes, wegen Wegfalls einer der in § 2 Abs 1 UVG genannten Bedingungen eingeleitetes Einstellungsverfahren (§ 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG; Neumayr in Schwimann, ABGB³ § 20 UVG Rz
12) gründet (vgl RIS-Justiz RS0076752; RS0076687; 1 Ob 78/03g = SZ 2003/118; Neumayr aaO § 19 Rz 33).
Die Möglichkeit der Innehaltung im Herabsetzungs- und im Einstellungsverfahren (§§ 19, 20 UVG; vgl RIS-Justiz RS0118178; RS0076752) wird auch von der Rechtsmittelwerberin nicht in Zweifel gezogen.
2. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.
3. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ist eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (vgl 10 Ob 36/08d mN der Rsp des EuGH).
4. Als Konsequenz aus dieser Qualifikation des österreichischen Unterhaltsvorschusses als Familienleistung im Sinne der VO 1408/71 resultiert aus der Gebietsgleichstellung in Art 73, 74 dieser Verordnung auch eine - vom , Humer, Slg 2002, I-1205 aufgegriffene - „Exportverpflichtung", wenn sich der Unterhaltsschuldner im Inland aufhält (vgl 10 Ob 36/08d mwN; Neumayr aaO § 1 UVG Rz 20).
5. Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, hat jüngst in der Entscheidung 10 Ob 36/08d mit ausführlicher Begründung die Auffassung, dass der für die „Exportverpflichtung" notwendige grenzüberschreitende Bezug im EWR (+ Schweiz, siehe 1 Ob 183/04z; BGBl III 2002/133) nicht schon allein dadurch verwirklicht werde, dass das unterhaltsberechtigte Kind in einem EWR-Mitgliedstaat (in der Schweiz) wohnt (8 Ob 100/06y; 6 Ob 214/06y; 9 Ob 129/06w), ausdrücklich abgelehnt, weil sie mit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Humer nicht verträglich ist.
6. Im Anlassfall weist der Aufenthalt der Minderjährigen in Polen ins EU-Ausland. Dies reicht für die Bejahung des für die Anwendung der VO 1408/71 auch notwendigen gemeinschaftlichen grenzüberschreitenden Bezug aus (vgl 10 Ob 36/08d mwN).
7. Art 1 lit a Z 1 VO 1408/71 versteht unter Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Dieser Begriff des Arbeitnehmers setzt nicht eine umfassende Vollversicherung voraus, vielmehr genügt schon die Pflichtversicherung gegen ein Risiko - so etwa die verpflichtende Unfallversicherung für geringfügig Beschäftigte - zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77). Als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung gilt auch eine Person, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezieht oder die Voraussetzungen für den Bezug aus der Arbeitslosenversicherung erfüllt (4 Ob 124/05x). Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung ist der geldunterhaltspflichtige Vater nach dem Akteninhalt im relevanten Zeitraum als Arbeitnehmer im Sinn der VO 1408/71 anzusehen.
8. In den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 fallen „Arbeitnehmer ..., für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind ...," sowie für deren Familienangehörige (Art 2 Abs 1 VO 1408/71).
Nach Art 3 Abs 1 VO 1408/71 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.
9. Nach der Rechtsprechung des EuGH beweist der Wortlaut des Art 2 Abs 1 VO 1408/71 (Einbeziehung von Personen, „für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten"), dass die Verordnung keineswegs nur für Wanderarbeitnehmer im strengen Sinn des Worts gilt, sondern für alle Arbeitnehmer, die sich in einem der in der Verordnung geregelten Rechtsverhältnisse mit internationaler Anknüpfung befinden (10 Ob 36/08d mN aus der Rsp des EuGH).
10. Ein tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer (im Sinn der VO 1408/71), der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Vorschriften des ersten Staats, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten (Art 73, 74 VO 1408/71).
11. Nach alldem liegt der Anlassfall nach der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts der Minderjährigen nach Polen im Anwendungsbereich der VO 1408/71. Im Sinn der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Humer ist die „Exportverpflichtung" zu bejahen (vgl 1 Ob 289/01 h).
12. Für dasselbe Kind können für den gleichen Zeitraum sowohl nach nationalem Recht als auch Ansprüche nach Art 73, 74 VO 1408/71 bestehen. Für Familienleistungen enthalten die Art 75, 76 VO 1408/71 und die sie ergänzende Durchführungsverordnung (EWG) Nr 574/72 (in Art 10) Regeln über die Leistungszuständigkeit sowie Antikumulierungsregeln für das mögliche Zusammentreffen von - den gleichen Zweck abdeckenden - Leistungen aus verschiedenen Mitgliedstaaten (vgl RIS-Justiz RS0116832; Neumayr in Schwimann, ABGB³ § 1 UVG Rz 39). Es muss im Anlassfall nicht weiter geprüft werden, ob nach diesen Regeln eine Leistungszuständigkeit Polens in Betracht kommen könnte. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, ist Folgendes zu beachten:
Die sinngemäße Anwendung des § 16 UVG in den Fällen der amtswegigen Einleitung eines Herabsetzungs- oder eines Einstellungsverfahrens bedeutet, dass die Innehaltung nur dann anzuordnen ist, wenn beachtliche Gründe dafür sprechen, dass nach den noch durchzuführenden Erhebungen begründete Bedenken gegen eine weitere Auszahlung des Unterhaltsvorschusses (in der bisherigen Höhe) bestehen (vgl RIS-Justiz RS0118178). In diesem Sinn ist bei begründbaren Zweifeln zu prognostizieren, ob sich diese voraussichtlich zu begründeten Bedenken verdichten werden oder nicht:
Ist dies zu erwarten, ist innezuhalten; ist dies nicht zu erwarten (oder liegt eine non-liquet Situation vor), ist nicht innezuhalten (Neumayr aaO § 19 UVG Rz 32; vgl RIS-Justiz RS0118178). Verlegt der österreichische Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt vom Inland in einen EWR-Mitgliedstaat (in die Schweiz), setzen begründbare Zweifel am Weiterbestehen des Unterhaltsvorschussanspruchs in bisheriger Höhe aus dem Blickwinkel des Zusammentreffens mit einer gleichartigen Leistung aus einem anderen Staat voraus, dass dem Gericht bekannt ist, dass das Recht dieses Staats eine dem österreichischen Unterhaltsvorschuss gleichartige Leistung vorsieht, auf die das Kind einen Anspruch haben könnte. Im Anlassfall war es bislang nicht möglich zu klären, ob das polnische Recht eine dem Unterhaltsvorschuss gleichartige Leistung kennt. Die Minderjährige verneint in ihrem Rechtsmittel diese Frage. Der Bund nimmt in seiner Revisionsrekursbeantwortung zu der Frage nicht Stellung. Erhebungen des Erstgerichts haben nach der Aktenlage noch zu keinem Ergebnis geführt. Unter Bedachtnahme auf den Zweck des Unterhaltsvorschusses ist unter diesen Umständen die Anordnung der Innehaltung nicht begründet, sodass dem Revisionsrekurs stattzugeben war.