VfGH vom 15.12.1994, b1045/94

VfGH vom 15.12.1994, b1045/94

Sammlungsnummer

13987

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die Zurückweisung eines Devolutionsantrages betreffend einen in einem Verwaltungsstrafverfahren gestellten Wiedereinsetzungsantrag; Bestehen der Entscheidungspflicht über die Wiedereinsetzung auch in Verwaltungsstrafsachen trotz des Ausschlusses der Anwendbarkeit von § 73 AVG im Verwaltungsstrafverfahren; Zuständigkeit der Unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über Wiedereinsetzungsanträge in Verwaltungsstrafsachen

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Strafbescheid des Bezirkshauptmannes von Kufstein vom wurde über den Beschwerdeführer eine Verwaltungsstrafe wegen Verletzung von Bestimmungen des AuslBG verhängt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer in der Meinung, dies sei die zuständige Berufungsbehörde, Berufung an das Amt der Tiroler Landesregierung. Dieses leitete die Berufung an den zuständigen Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol weiter, allerdings erst nach Ablauf der zweiwöchigen Berufungsfrist, sodaß das Rechtsmittel vom Unabhängigen Verwaltungssenat mit Bescheid vom als verspätet zurückgewiesen wurde.

Mit Schriftsatz vom stellte der Beschwerdeführer dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens beim Bezirkshauptmann von Kufstein einen Wiedereinsetzungsantrag und erhob gleichzeitig Berufung gegen den Bescheid des Bezirkshauptmannes. Den Wiedereinsetzungantrag begründete er damit, daß die Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Bescheides unrichtig gewesen sei. Da über diesen Wiedereinsetzungsantrag nach sechs Monaten noch nicht entschieden worden war, stellte der Beschwerdeführer am einen Devolutionsantrag an den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol.

Mit Bescheid vom wies der Unabhängige Verwaltungssenat diesen Antrag als unzulässig zurück.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, eine Verletzung des Art 6 EMRK, weitere Rechtsverletzungen und eine Rechtsverletzung wegen Anwendung des als verfassungswidrig erachteten § 24 VStG behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof begehrt wird.

Der belangte Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das Grundrecht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird unter anderem dann verletzt, wenn die Behörde dem Antragsteller zu Unrecht eine Sachentscheidung vorenthält (vgl. etwa VfSlg. 11496/1987, 11601/1988 und 12221/1989). Dies ist der Behörde im Ergebnis vorzuwerfen:

a) Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol hat seinen Bescheid damit begründet, daß gemäß § 24 VStG § 73 AVG in Verwaltungsstrafsachen nicht anzuwenden sei. Da Entscheidungen über Wiedereinsetzungsanträge als verfahrensrechtliche Bescheide grundsätzlich denselben Vorschriften unterlägen, die für den Instanzenzug in der den Gegenstand des Verfahrens bildenden Angelegenheit maßgebend sind, sei gemäß § 24 VStG auch für Wiedereinsetzungsanträge in Strafverfahren die Anwendung des § 73 AVG ausgeschlossen. In Verwaltungsstrafsachen sei aber eine Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht (abgesehen von den hier nicht vorliegenden Fällen der Privatanklage und von Finanzstrafsachen) nicht zulässig. Unter dem Begriff der Verwaltungsstrafsachen des Art 132 B-VG seien auch Verfahren über Wiedereinsetzungsanträge im Zuge von Verwaltungsstrafsachen zu verstehen.

b) Mit dieser zuletzt genannten Zuordnung von Wiedereinsetzungsangelegenheiten im Verwaltungsstrafverfahren zum Begriff der Verwaltungsstrafsachen im Sinne des Art 132 B-VG stimmt die belangte Behörde der Sache nach mit einer Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes überein, die dieser in VwSlg. 11.682 A/1985 entwickelt hat. Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol übersieht aber, daß sich die Funktion des die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes auf Verfassungsebene bestimmenden Art 132 B-VG (bei dem es u.a. um die Abhilfe gegen eine Säumnis der unabhängigen Verwaltungssenate geht) von der Funktion des die Zuständigkeit der unabhängigen Verwaltungssenate regelnden Art 129a Abs 1 B-VG wesentlich unterscheidet.

Selbst wenn dem Verwaltungsgerichtshof auch unter Einbeziehung verfassungssystematischer Überlegungen zuzustimmen wäre (was der Verfassungsgerichtshof im vorliegenden Fall nicht zu beurteilen hat), kann daher daraus für die Auslegung des Art 129a Abs 1 B-VG nichts gewonnen werden. Denn die Rechtsschutzlücke, die bei der vom Verwaltungsgerichtshof für geboten erachteten Auslegung des Begriffes "Verwaltungsstrafsachen" in Art 132 B-VG entsteht (und die der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung selbst erkennt), ist angesichts der Tribunalqualität der unabhängigen Verwaltungssenate viel geringer, als sie es wäre, wollte man Art 129a B-VG in ähnlicher Weise auslegen und damit die Nichtentscheidung über Wiedereinsetzungsanträge in Verwaltungsstrafverfahren durch Verwaltungsbehörden gänzlich einer Kontrolle durch eine unabhängige Kontrollinstanz entziehen. Ein derartiges Ergebnis käme in noch stärkerem Maß in Konflikt mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Bundesverfassung, als die Auslegung des Art 132 B-VG in dem genannten Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes.

c) Zu einem solchen Ergebnis zwingen aber die anzuwendenden Rechtsvorschriften keineswegs. Denn den zur Klärung der Zuständigkeit des Unabhängigen Verwaltungssenates im vorliegenden Fall anzuwendenden Rechtsvorschriften ist ein Sinngehalt entnehmbar, der das vom Verwaltungsgerichtshof konstatierte Rechtsschutzproblem auf der Ebene der Kontrolle durch die unabhängigen Verwaltungssenate gar nicht entstehen läßt:

Gemäß § 24 VStG sind die Regelungen des § 73 AVG im Verwaltungsstrafverfahren nicht anzuwenden. Diese Bestimmung hat der Verwaltungsgerichtshof in VwSlg. 9935 A/1979 so verstanden, daß im Falle eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einer Verwaltungsstrafsache ungeachtet der Bestimmung des § 24 VStG Entscheidungspflicht im Sinne des § 73 AVG hinsichtlich der Entscheidung über die Wiedereinsetzung besteht, zumal im Verwaltungsstrafverfahren auch die Vorschriften der §§71 und 72 AVG über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzuwenden sind. Dies könne nur bedeuten, daß das von einer Partei anläßlich der Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung im Verwaltungsstrafverfahren in Anspruch genommene Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung als ganzes, also auch mit der - entsprechend dem Regelungszusammenhang innerhalb des AVG bestehenden - Entscheidungspflicht der Behörde im Sinne der Bestimmungen des § 73 AVG gilt.

Dem ist sowohl aus den vom Verwaltungsgerichtshof ins Zentrum seiner Begründung gestellten systematischen wie auch aus teleologischen Gründen zuzustimmen, ist doch das (Rechtsschutz)Interesse eines Betroffenen an der Geltendmachung der Entscheidungspflicht über einen Wiedereinsetzungsantrag im Verwaltungsstrafverfahren in der Regel grundlegend anders gelagert als das allfällige (Rechtsschutz)Interesse gegenüber einer in der Sache selbst untätig bleibenden Verwaltungsstrafbehörde.

Nach § 73 Abs 2 AVG (die derzeit geltende Fassung geht auf die Novelle BGBl. 357/1990 zurück) geht die Zuständigkeit der Entscheidung im Falle der Säumnis der zur Bescheiderlassung zuständigen Behörde "auf die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde, wenn aber gegen die ausständige Entscheidung die Berufung an den unabhängigen Verwaltungssenat vorgesehen ist, auf diesen über". Nach § 72 Abs 4 AVG steht dem Antragsteller gegen die Ablehnung eines Antrages auf Wiedereinsetzung das Recht auf Berufung zu, die an den unabhängigen Verwaltungssenat geht, wenn in der Sache eine Berufung an diesen vorgesehen ist. Das bedeutet, sieht man diese Vorschriften in ihrem Kontext, daß eine Säumnisbeschwerde an den unabhängigen Verwaltungssenat gegen die Nichtentscheidung über Wiedereinsetzungsanträge in Verwaltungsstrafsachen nach den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehen ist.

d) Dem steht auch Art 129a Abs 1 B-VG nicht entgegen. Denn nach Art 129a Abs 1 Z 4 B-VG sind die unabhängigen Verwaltungssenate nicht nur zur Entscheidung über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in Angelegenheiten der Z 1 dieses Absatzes (d.s. Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen (ausgenommen Finanzstrafsachen des Bundes)), soweit es sich um Privatanklagesachen oder Landesabgabenstrafsachen handelt, berufen, sondern auch - worauf im angefochtenen Bescheid nicht reflektiert wird - in Angelegenheiten der Z 3 dieses Absatzes. Z 3 aber überträgt den unabhängigen Verwaltungssenaten die Kompetenz zur Entscheidung in sonstigen Angelegenheiten, die ihnen durch die die einzelnen Gebiete der Verwaltung regelnden Gesetze des Bundes und der Länder zugewiesen werden. Die Zuständigkeit zur Entscheidung über Wiedereinsetzungsanträge in Verwaltungsstrafsachen ist den unabhängigen Verwaltungssenaten aber - wie dargelegt - durch § 73 Abs 2 iVm § 72 Abs 4 AVG zugewiesen. Der Verfassungsgerichtshof sieht kein Hindernis, in Wiedereinsetzungsangelegenheiten die genannten Vorschriften des AVG als Gesetze im Sinne des Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG anzusehen, zumal nur durch eine solche Betrachtung eine dem rechtsstaatlichen Prinzip zuwiderlaufende Rechtsschutzlücke vermieden werden kann.

e) Indem der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol dies verkannt hat, hat er seine Zuständigkeit zu Unrecht verneint und den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

2. Der Kostenausspruch beruht auf § 88 VerfGG. Im zugesprochenen Betrag sind S 3.000,-- an Umsatzsteuer enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.