VfGH vom 27.09.1993, b1041/93
Sammlungsnummer
13520
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit mangels Vornahme der gebotenen Interessenabwägung zwischen öffentlichen und familiären Interessen
Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin, zu Handen ihres Rechtsvertreters, die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Bundespolizeidirektion Wien versagte mit Bescheid vom gemäß § 10 Abs 1 Z 4 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, der Beschwerdeführerin (einer Staatsangehörigen des früheren Jugoslawien) die beantragte Erteilung eines Sichtvermerkes.
2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie (subsidiär) die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
3. Die Bundespolizeidirektion Wien als jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor. Von der Erstattung einer Gegenschrift nahm sie Abstand.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:
1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs 2 FrG).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.
2. Gemäß § 10 Abs 1 Z 4 FrG ist die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen, wenn der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.
Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , B302/93, dargetan, daß er gegen § 10 Abs 1 Z 4 FrG keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt.
Auch gegen die sonstigen präjudiziellen Gesetzesbestimmungen sind keine solchen Bedenken entstanden. Die Beschwerdeführerin wurde sohin durch den bekämpften Bescheid nicht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.
3. Hingegen verletzt der angefochtene Bescheid die Beschwerdeführerin in dem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:
a) Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom , G212-215/92 u.a. Zlen., Pkt. IV.3.a, mit näherer Begründung ausgeführt:
"Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des § 25 Abs 3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen."
Gleiches gilt infolge seiner inhaltlichen Identität mit § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 (siehe das oben zitierte Erkenntnis vom , B302/93) auch für § 10 Abs 1 Z 4 FrG.
b) Ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).
c) Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:
Die Beschwerdeführerin hat enge familiäre Bindungen in Österreich; sie ist nämlich mit einem offenbar im Inland wohnhaften österreichischen Staatsbürger verheiratet. Dieser Umstand war der belangten Behörde auch bekannt. Die Behörde hat dennoch nicht die nach dem Gesagten (s. die vorstehende lita) gebotene Interessensabwägung vorgenommen. Dies ist nur damit erklärbar, daß sie davon ausgegangen ist, sie habe hier nach dem Gesetz von einer solchen Abwägung abzusehen. Damit hat sie dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt (vgl. hiezu u.a. Zlen., sowie ).
Der angefochtene Bescheid war sohin wegen Widerspruchs zu Art 8 EMRK aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.