OGH vom 08.10.1996, 10ObS2308/96a

OGH vom 08.10.1996, 10ObS2308/96a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Karlheinz Kux (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Paul Binder (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ursula N*****, Sekretärin, ***** im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 24/96w-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 27 Cgs 230/94i-21, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird keine Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die am geborene Klägerin war nach ihrem Schulabschluß (Volks- und Hauptschule) in diversen, vom Erstgericht im einzelnen festgestellten Firmen (teilweise auch im Ausland) als Bürokraft, Sekretärin und kaufmännische Angestellte tätig. Nach dreijähriger Arbeitslosigkeit zwischen 1979 bis 1982 (im Ersturteil unrichtig: 1972) arbeitete sie zuletzt 1982 einen Monat als kaufmännische Angestellte im Sekretariat der Firma Gebr. N***** in L*****. 1982/83 war sie sodann wiederum arbeitslos. 1983 absolvierte sie eine dreimonatige Schulung nach dem Arbeitsmarktförderungsgesetz BGBl 1969/31 idgF (AMFG). Seit 1983 ist sie wiederum durchgehend arbeitslos.

Im maßgeblichen Zeitraum vor dem Stichtag hat die Klägerin damit nur vier Beitragsmonate erworben, nämlich einen Monat als Sekretärin und drei Monate als Umschülerin nach dem AMFG. Bei dieser Umschulung hatte sie allerdings lediglich "banale Korrekturen auf vorgedruckten Arbeitsblättern durchzuführen", die sie an die Arbeitsmarktverwaltung schicken mußte.

Auf Grund der vom Erstgericht im einzelnen festgestellten Leiden (vorrangig Wirbelsäulen- und Bandscheibenbeschwerden ohne relevante neurologische Ausfälle, leichtgradige zyklothyme Persönlichkeitsstörung ohne das Vollbild einer Manie sowie beidseitige Augenschwäche im Sinne eines Nystagmus) ist die Klägerin nur mehr in der Lage, leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, vorwiegend jedoch in sitzender Körperhaltung zu verrichten, wobei diese Haltung ca stündlich oder spätestens eineinhalbstündlich durch kurzdauerndes Aufstehen oder Herumgehen unterbrochen werden soll. Zu vermeiden sind mittelschwere und schwere Arbeiten, solche in gebückter Haltung, unter extremer Kälte- und Nässebelastung sowie auf Leitern und Gerüsten. Weiters scheiden aus Schicht-, Akkord- und Nachtarbeiten sowie solche, die mit psychisch belastendem Parteien- und Kundenverkehr verbunden sind. Auch für Bildschirmarbeit und Büroarbeiten, die ständige Naharbeit sowie das Lesen kleiner Drucke erfordern, ist sie nicht geeignet. Bei Einhaltung dieser Einschränkungen sind Arbeitspausen, die über das physiologische Ausmaß hinausgehen, nicht erforderlich. Bezüglich des Arbeitsweges besteht keine Einschränkung. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist zumutbar. Dieser Zustand besteht seit Antragstellung am .

Bei der Klägerin sind keine Einschränkungen der Einordenbarkeit in ein Arbeitsmilieu vorhanden. Sie ist auch unterweisbar und anlernbar. Intelligenz, Merkfähigkeit, Belastung der Ausdauer und Konzentration liegen im Normbereich.

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung einer Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

In ihrer Klage stellte sie das Begehren auf Zuerkennung einer solchen im gesetzlichen Ausmaß ab .

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Den eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Sachverhalt beurteilte es rechtlich dahingehend, daß die festgestellte Umschulung wie eine schulmäßige Berufsausbildung zu behandeln sei, sodaß von einer Berufstätigkeit nicht gesprochen werden könne. Die einmonatige Berufstätigkeit als Sekretärin in den letzten fünfzehn Jahren vor dem Stichtag bewirke daher Berufsschutz. Innerhalb dieses Rahmens könne sie jedoch auf einfache Bürotätigkeiten verwiesen werden, wofür es im gesamten Bundesgebiet auch mehr als hundert Arbeitsplätze gebe.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin erhobenen Berufung Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ es zu, um der beklagten Partei Gelegenheit zu geben, seine Rechtsansicht zufolge Fehlens einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vor Entstehen weiteren Verfahrensaufwandes an diesen heranzutragen.

Abweichend vom Erstgericht beurteilte das Berufungsgericht den wiedergegebenen Sachverhalt - zusammengefaßt - dahingehend, daß mit dem berufskundlichen Sachverständigen die Frage, ob es tatsächlich auch einen ausreichenden Arbeitsmarkt für Büroarbeitsplätze ohne Bildschirmarbeit gebe, nicht erörtert worden sei. Die Klägerin dürfe aber auch nicht auf Berufe verwiesen werden, die für sie einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden, wozu aber zuvor das Verweisungsfeld beurteilt werden müßte, also alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zugehörten; die Feststellung der abstrakten Berufsbezeichnung "Sekretärin" allein sei hiefür zu wenig. Auch wenn sie in den letzten fünfzehn Jahren vor dem Stichtag nur einen Monat als solche gearbeitet habe, sei doch diese letzte Angestelltentätigkeit maßgeblich und ihre Invalidität materiell nach den Kriterien der Berufsunfähigkeit des § 273 ASVG zu beurteilen, zumal ihre vor dem Stichtag erworbenen Beitragsmonate überwiegend auf Beschäftigungen zurückgingen, die ihrem Inhalt nach gemäß § 14 ASVG die Zugehörigkeit zur Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten begründet hätten. Bei in einem Lehrverhältnis stehenden Personen könne von der Ausübung einer Berufstätigkeit im Sinne des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG nicht gesprochen werden. Ihre nach dem damals geltenden AMFG erworbenen Versicherungszeiten seien Beitragsmonate der Pflichtversicherung gewesen, näherhin solche mit Ausbildungscharakter ohne Ausübung einer Berufstätigkeit, auch wenn dafür Beihilfen durch Zuschüsse zur Deckung des Lebensunterhaltes gewährt worden seien. Die drei Beitragsmonate als Umschülerin nach dem AMFG seien daher bei der Beurteilung der Rechtsfrage, ob der Versicherungsfall nach § 273 oder nach § 255 ASVG zu beurteilen sei, außer Betracht zu lassen. Sofern die Klägerin also (nach den zur Ergänzung aufgetragenen) Feststellungen tatsächlich eine Angestelltentätigkeit in dem einen (und einzigen) Versicherungsmonat als Sekretärin ausgeübt habe, sei der Versicherungsfall nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen.

Gegen diesen Aufhebungsbeschluß richtet sich der auf den Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, diesen aufzuheben und das Klagebegehren abzuweisen.

Eine Rekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zwar zulässig; ihm kommt jedoch keine Berechtigung zu.

Das Rekursvorbringen läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die vom Obersten Gerichtshof bisher zur Lehrzeit ergangenen Entscheidungen hier nicht anwendbar seien. Die von der Klägerin erworbenen drei AMFG-Monate seien weder in zeitlicher noch in qualitativer Hinsicht ausreichend gewesen, einen Beruf zu erlernen bzw anzulernen. Eine Besserstellung solcher von der öffentlichen Hand getragener Umschulungsmaßnahmen im Rahmen der Arbeitsmarktförderung gegenüber solchen von privater Seite durchgeführten Schulungsmaßnahmen sei weder vom Gesetzgeber beabsichtigt noch wirtschaftspolitisch gewünscht; hiedurch würde eine geradezu gleichheitswidrige Rechtslage herbeigeführt werden. Das Berufungsgericht hätte daher zum Ergebnis kommen müssen, daß die Klägerin im Wege der Umschulung zwar Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben habe, die in ihrer Gesamtzahl jedoch ein Überwiegen einer nicht qualifizierten Tätigkeit zur Folge hätten; da sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei, liege Invalidität nicht vor.

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu folgendes erwogen:

1. Vorauszuschicken ist, daß die Leistungszuständigkeit der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, obwohl es sich bei der von der Klägerin zuletzt und maßgeblich ausgeübten Tätigkeit einer "Sekretärin" um eine Angestelltentätigkeit (im Sinne des § 1 Abs 1 AngG) handelt (SSV-NF 9/21), unstrittig ist, weil in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nur ein Angestellten-Monat, hingegen drei Arbeitermonate (nämlich jene nach dem AMFG) liegen (§ 13 ASVG).

2. Anders als im § 255 ASVG, wo es auf die während der letzten fünfzehn Jahre vor dem Stichtag ausgeübte Berufstätigkeit ankommt, ist in § 273 Abs 1 ASVG von den letzten fünfzehn Jahren vor dem Stichtag keine Rede (SSV-NF 8/45). Als berufsunfähig gilt danach vielmehr der (die) Versicherte, dessen (deren) Arbeitsfähigkeit infolge seines (ihres) körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Daß ihre (zuletzt) ausgeübte einmonatige Tätigkeit als angestellte Sekretärin in diesem Fünfzehn-Jahre-Zeitraum liegt, spielt also grundsätzlich für die Beurteilung des Begriffes der Berufsunfähigkeit (nach § 273 ASVG) keine Rolle. Ihre im Sinne (ua) der zitierten Entscheidung maßgebliche "zuletzt nicht bloß vorübergehend ausgeübte Tätigkeit" als Angestellte wäre demnach unter Umständen auch dann erheblich, wenn sie länger als fünfzehn Jahre zurückläge (siehe etwa SSV-NF 6/135 bei einer zuletzt zwanzig Jahre vor dem Stichtag als Buchhalterin beschäftigt gewesenen Versicherten). Schon aus diesem Grunde kommt es auf die vom Berufungsgericht in den Vordergrund gestellten Ausführungen über den Charakter von Schulungen nach dem AMFG (vgl SSV-NF 8/57) nicht an. Ganz gleichgültig, wie man diese drei Schulungsmonate der Klägerin 1983 einschätzt, sind diese für die Frage ihres Berufsschutzes schon deshalb irrelevant, weil nach dem Vorgesagten ausschließlich ihre letzte "nicht bloß vorübergehend" ausgeübte Angestelltentätigkeit maßgeblich ist. Damit ist aber auf ihre gesamte zuletzt ausgeübte Angestelltentätigkeit (seit 1957:

Einstieg ins Berufsleben als Bürokraft nach Absolvierung der Handelsschule - Ersturteil S 2) abzustellen. Ausschlaggebend - für die zu lösende Rechtsfrage der Wahrung des Berufsschutzes - ist ihr Beruf als Angestellte insgesamt und schlechthin, nicht bloß die einen einzigen Monat lang ausgeübte Tätigkeit (1982).

3. Daraus folgt, daß entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes die Frage, ob die geminderte Arbeitsfähigkeit der Klägerin (auch) nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen ist, tatsächlich nicht (mehr) geprüft werden muß. Die Klägerin hat die Handelsschule absolviert und eine kaufmännische Ausbildung erworben. Sie war - wenngleich mit Unterbrechungen - immer als kaufmännische Angestellte tätig. Ihr Versicherungsverlauf weist ausschließlich Angestelltenbeitragszeiten auf. Daß die Klägerin in Wahrheit bloße Arbeiterin gewesen sei, wurde von keiner der Parteien behauptet und läßt sich aus den Feststellungen der Vorinstanzen nicht (etwa überschießend) ableiten.

4. Bereits in der zitierten Entscheidung SSV-NF 6/135 hat der Senat ausgesprochen, daß die Frage, ob mit einem Verweisungsberuf ein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden wäre, nach dem sozialen Wert zu beurteilen ist, den die Ausbildung und die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit von Bedeutung waren, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtages hätten. Dort ging es - wie bereits erwähnt - um eine zuletzt zwanzig Jahre vor dem Stichtag als Buchhalterin beschäftigt gewesene Versicherte (in diesem Sinne auch die weiteren Entscheidungen SSV-NF 3/108, 4/97 sowie jüngst 9/48). Im vorliegenden Fall fehlen aber hiezu jegliche Feststellungsgrundlagen. Dies betrifft nicht bloß die Grundanforderungen des Sekretärinnenberufes, sondern auch die inzwischen gerichtsbekanntermaßen (§ 269 ZPO) auch in diesem Berufsbereich eingesetzte Computerisierung durch Einsatz von EDV-Geräten etc. Ausgehend vom Gedanken, daß jemand, der - wie die Klägerin - viele Jahre lang nicht mehr gearbeitet hat, gegenüber Versicherten, die bis zuletzt ihrem Beruf nachgegangen sind, nicht begünstigt werden darf (und soll), für den Pensionsanspruch also jene Behandlung nicht außer Betracht gelassen werden darf, die einem solchen Versicherten im Berufsleben tatsächlich zuteil würde (SSV-NF 9/48), könnte sich unter Umständen - für die rechtliche Beurteilung maßgeblich - ergeben, daß die Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin, die sie aus ihrer (erlernten und ausgeübten) Angestelltentätigkeit erworben hat, am Stichtag nur mehr einen geringen Wert haben und heute zu einer niedrigeren Einstufung führen könnten.

Es wird daher festzustellen sein, wie die Klägerin am Stichtag () einzustufen (gewesen) wäre. Erst daraus kann sich dann das maßgebliche Verweisungsfeld ermitteln lassen (siehe hiezu erneut SSV-NF 9/48 im vergleichbaren Fall einer seit Jänner 1984 keiner Berufstätigkeit mehr nachgehenden Büroangestellten). Daß für die Prüfung des Berufsschutzes die Feststellung der abstrakten Berufsbezeichnung "Sekretärin" nicht ausreicht, hat der Senat erst jüngst in seiner in SSV-NF 9/21 veröffentlichten Entscheidung mit ausführlicher Begründung dargelegt.

5. Dem Rekurs war daher aus den dargelegten Erwägungen ein Erfolg zu versagen.

6. Eine Kostenentscheidung entfiel, da sich die Klägerin am Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof nicht beteiligte.