OGH vom 18.07.2017, 10Ob1/17w

OGH vom 18.07.2017, 10Ob1/17w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder 1. I*****, geboren ***** 2001, 2. B*****, geboren ***** 2004, 3. K*****, geboren ***** 2005, und 4. N*****, geboren ***** 2010, alle vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Amt für Jugend und Familie – Rechtsvertretung, Bezirk 21, 1210 Wien, Franz-Jonas-Platz 12), wegen Einstellung von Unterhaltsvorschüssen, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 386/16x, 45 R 387/16v, 45 R 388/16s und 45 R 389/16p-255, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Floridsdorf vom , GZ 2 Pu 222/12h-231, 232, 233 und 234, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Mit Beschluss des Erstgerichts vom , GZ 5 Pu 147/10d-67, war der Vater der Kinder zu einer monatlichen Unterhaltsleistung in Höhe von 150 EUR für I***** und von je 127 EUR für B*****, K***** und N***** ab verpflichtet worden. Dieser Unterhaltsbemessung lag ein geschätztes bzw auf dem Anspannungsgrundsatz beruhendes monatliches Durchschnittseinkommen in Höhe von 1.400 EUR inklusive anteiliger Sonderzahlungen zu Grunde. Mit Beschluss des Erstgerichts vom , GZ 2 Pu 222/12h162, wurde die Unterhaltspflicht des Vaters jeweils ab für I***** und B***** auf je 185 EUR, und für K***** auf 150 EUR erhöht. Aus der Begründung dieser Entscheidung ergibt sich, dass sich der Vater zum Unterhaltserhöhungsantrag nicht geäußert hat, obwohl er ihm persönlich zur Kenntnis gebracht worden war.

Mit Beschlüssen vom (ON 231–234) stellte das Erstgericht die den vier Kindern ab gewährten Unterhaltsvorschüsse rückwirkend mit gemäß § 20 UVG ein. Das im Verfahren eingeholte berufskundliche Sachverständigengutachten (ON 229) habe ergeben, dass es dem unterhaltspflichtigem Vater mit hoher Wahrscheinlichkeit ab auch bei intensiver Arbeitssuche nicht möglich gewesen wäre, eine reguläre bzw dauerhafte Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung mit einem Einkommen über dem Unterhaltsexistenzminimum zu erlangen. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sei das wenig attraktive Bewerberprofil mit niedrigem Arbeitsmarktwert (ua wegen des eingeschränkten Leistungskalküls, der fehlenden Berufsausbildung, der bereits mehrjährigen Arbeitsmarktkarenz).

Das Rekursgericht gab den Rekursen der Kinder, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger, nicht Folge. Nach Vorliegen des Sachverständigengutachtens seien die Annahmen über die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners für den Zeitraum ab Jänner 2013 widerlegt. Einer Bevorschussung auf Basis des vom Unterhaltsschuldner bezogenen Mindestsicherungs-einkommens stehe die ständige Rechtsprechung zur allgemeinen Belastungsgrenze entgegen, nach der sich die Belastungsgrenze des Unterhaltspflichtigen nach dem (niedrigsten) Unterhaltsexistenzminimum gemäß § 291b EO zu richten habe, wobei für das Jahr 2014 die allgemeine Belastungsgrenze bei 750 EUR gelegen sei. Dem Argument, dass beim Unterhaltsschuldner aufgrund wiederkehrender Aufenthalte in Ägypten (und der dort niedrigeren Lebenshaltungskosten) die absolute Belastungsgrenze zu unterschreiten sei, könne schon deshalb nicht gefolgt werden, da sich aus der Aktenlage keine konkreten Umstände für diese Annahme ergäben.

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich unter Hinweis darauf zu, möglicherweise könnte eine gänzliche Leistungsunfähigkeit des Unterhaltsschuldners doch nicht gegeben sein, weil die Höhe der von ihm bezogenen bedarfsorientierten Mindestsicherung (Richtsatz für eine alleinstehende Person) über der „normalen“ Belastungsgrenze liege.

Rechtliche Beurteilung

Der von den Kindern erhobene Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1.1 Der Regelung des § 20 UVG, der die (gänzliche) Einstellung der Vorschüsse regelt, liegt die Erwägung zugrunde, dass dem Gericht, auch wenn die Vorschüsse jeweils nur auf bestimmte Zeit gewährt werden, doch die Möglichkeit gegeben werden muss, die Vorschüsse auch vor Ablauf dieser Zeit aus bestimmten Gründen einzustellen, wobei die Einstellung nicht erst mit der gerichtlichen Beschlussfassung, sondern (rückwirkend) mit dem Eintritt des Einstellungsgrundes wirksam werden soll.

1.2 Einer der Einstellungsgründe ist der materielle Wegfall der Unterhaltspflicht (§ 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG;§ 7 Abs 1) etwa wegen Wegfalls der Anspannbarkeit (1 Ob 7/04t). Auch im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für eine „Anspannung“ des Unterhaltsschuldners auf eine Erwerbstätigkeit ab 2013 bis auf weiteres weggefallen. Dass den Unterhaltsschuldner an der Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit kein Verschulden trifft, wird im Revisionsrekurs nicht mehr in Zweifel gezogen.

2.1 Dennoch ist im Hinblick auf den Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung noch nicht abschließend beurteilbar, ob die Voraussetzungen für eine (gänzliche) Einstellung nach § 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG gegeben sind:

2.2 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass auch Sozialleistungen, die nicht dem Ausgleich eines bestimmten Mehraufwands für einen Sonderbedarf dienen oder nach gesetzlichen Bestimmungen auf den Unterhalt nicht anrechenbar sind, als Einkommen in die Unterhaltsbemessungsgrundlage einbezogen werden (RIS-Justiz RS0080395; RS0047465). Auch der vom Unterhaltspflichtigen bezogene Grundbetrag der bedarfsorientierten Mindestsicherung im Sinn des § 7 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes – WMG fällt in die Unterhaltsbemessungsgrundlage (8 Ob 88/15x; 9 Ob 27/16k = RIS-Justiz RS0080395 [T27]). Auch im vorliegenden Fall sind keine Gründe dafür ersichtlich, warum die Mindestsicherung nicht in die Unterhaltsbemessungsgrundlage einzubeziehen sein sollte. Dabei ist nicht nur auf den Richtsatz abzustellen, sondern es sind auch zusätzliche Beihilfen, beispielsweise für Unterkunft und Heizung, deren Bedarf von den Richtsätzen nicht erfasst wird, zu berücksichtigen (10 Ob 96/05y; 8 Ob 88/15x).

2.3 Die Beträge des Mindeststandards für volljährige alleinstehende Personen lagen in Wien bei 794,91 EUR im Jahr 2013, bei 813,99 EUR im Jahr 2014, bei 827,82 EUR im Jahr 2015 und bei 837,76 EUR ab (vgl § 1 der Verordnung zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien [WMG-VO]). Diese Beträge lagen über dem relevanten Unterhaltsexistenzminimum (732,75 EUR im Jahr 2013, 750 EUR im Jahr 2014, 762,75 EUR im Jahr 2015 und 771,75 EUR im Jahr 2016; zu den heranzuziehenden Tabellen siehe RIS-Justiz RS0120639).

3.1 Dem Unterhaltsschuldner hat aber jedenfalls ein Betrag zu verbleiben, der zur Erhaltung seiner Körperkräfte und seiner geistigen Persönlichkeit notwendig ist (RIS-Justiz RS0008667). Die Unterhaltsbemessung kann zwar im Hinblick auf § 292b EO über die Grenze des § 291b EO hinausgehen, jedoch ist zu berücksichtigen, dass der Unterhaltspflichtige nicht so weit belastet wird, dass er in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet wäre (RIS-Justiz RS0047455; RS0047686 [T8] ua). Nur in ganz besonderen Ausnahmefällen – etwa bei ganz geringem Einkommen und zahlreichen Unterhaltsverpflichtungen – kann unter das
– auch als „absolute Belastungsgrenze“ bezeichnete – niedrigste Existenzminimum in Höhe von 75 % des allgemeinen Grundbetrags herabgegangen werden (1 Ob 160/09z [verst Senat]).

4.1 Während im Bewilligungsverfahren der Unterhalt dem Minderjährigen möglichst rasch zur Verfügung gestellt werden soll, kommt in einem Stadium, in dem der Unterhalt bereits durch Vorschussgewährung in gewissen Grenzen gesichert ist, der Stoffsammlungsgrundsatz des § 16 AußStrG voll zum Tragen (RIS-Justiz RS0088914 [T9]). Das Gericht hat daher die erforderlichen Beweise von Amts wegen aufzunehmen (Neumayr in Schwimann, ABGB4 § 19 UVG Rz 7 mwN).

4.2 Im fortzusetzenden Verfahren werden daher ergänzende Feststellungen zu treffen sein, die im Hinblick auf die dargestellten Grundsätze der Rechtsprechung eine Beurteilung zulassen, ob die Unterhaltspflicht des Unterhaltsschuldners ab 2013 tatsächlich zur Gänze erloschen ist und aus diesem Grund ein Einstellungsgrund gegeben ist.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher aufzuheben.

5. Im Hinblick auf die behaupteten wiederholten Auslandsaufenthalte des Unterhaltsschuldners ist bereits im derzeitigen Verfahrensstadium darauf hinzuweisen, dass gemäß § 4 Abs 1 Z 2 Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG) Anspruch auf Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung nur derjenige hat, dessen Lebensmittelpunkt in Wien gelegen ist, der sich tatsächlich in Wien aufhält und seinen Lebensunterhalt in Wien bestreiten muss (vgl auch § 21 Abs 1 WMG zur Anzeigepflicht bei länger als zwei Wochen dauernden Abwesenheiten vom Wohnort).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0100OB00001.17W.0718.000
Schlagworte:
Unterhaltsrecht

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