VfGH vom 28.11.2003, B1019/03
Sammlungsnummer
17063
Leitsatz
Keine Verletzung im Recht auf eine mündliche Verhandlung bei Zurückweisung einer Berufung in einem straßenpolizeilichen Verwaltungsstrafverfahren wegen einer Geschwindigkeitsübertretung als verspätet; keine inhaltliche Entscheidung iSd Art 6 EMRK, keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Normierung über den Entfall einer öffentlichen mündlichen Verhandlung bei Zurückweisung einer Berufung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom , Zl. VK-6651-2001, wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 363,-
(Ersatzfreiheitsstrafe 120 Stunden) sowie die Verpflichtung zum Ersatz eines Verfahrenskostenbeitrags verhängt, weil er als Lenker eines PKW am um 12:24 Uhr auf der A 12 Inntalautobahn die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h um 54 km/h überschritten habe.
2. Die gegen das Straferkenntnis erhobene Berufung wies der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (in der Folge: UVS) mit Bescheid vom , Zl. uvs-2002/15/100-4, als verspätet zurück. Er begründete dies damit, daß der Beschwerdeführer zwar in der 9. Kalenderwoche des Jahres 2002 (als das Straferkenntnis hinterlegt worden sei) ortsabwesend gewesen sei, daß er aber "innerhalb der Abholfrist", nämlich am an die Abgabestelle zurückgekehrt sei. Die Zustellung gelte daher "mit als rechtskräftig erfolgt", weshalb die am zur Post gegebene Berufung nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen erhoben und sohin verspätet sei.
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die gemäß Art 144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer verfassungswidrigen gesetzlichen Bestimmung (§51e Abs 2 Z 1 VStG) sowie die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine mündliche Verhandlung ("fair hearing") vor einem Tribunal im Sinne von Art 6 Abs 1 EMRK und auf Befragung von Zeugen im Sinne des Art 6 Abs 3 litd EMRK behauptet wird. Der Beschwerdeführer beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Die dem angefochtenen Bescheid in verfahrensrechtlicher Hinsicht zugrundeliegende Vorschrift des § 51e Abs 2 Z 1 VStG (in der Fassung BGBl. I Nr. 65/2002) lautet, soweit hier maßgeblich:
"Öffentliche mündliche Verhandlung (Verhandlung)
§51e. (1) ...
(2) Die Verhandlung entfällt, wenn
1. der Antrag der Partei oder die Berufung zurückzuweisen ist
..."
1.2. In der Beschwerde wird der Vorwurf erhoben, die Bestimmung des § 51e Abs 2 Z 1 VStG sei verfassungswidrig und verstoße gegen Art 6 EMRK, weil sie zwingend den Entfall der mündlichen Verhandlung vorsieht, wenn die Berufung zurückzuweisen ist. Dadurch widerspreche die Bestimmung dem in Art 6 Abs 1 EMRK normierten Mündlichkeitsgebot, wonach jedermann darauf Anspruch hat, "von einem unabhängigen und unparteiischen [...] Gericht" gehört zu werden, das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" bzw. über "die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage" zu entscheiden hat. Nach Auffassung des Beschwerdeführers sei es sachlich nicht begründbar,
"daß die mündliche Verhandlung ... zwingend entfällt, wo doch
die Annahme des UVS, die Berufung sei verspätet eingebracht worden,
nur eine vorläufige sein kann, weil der UVS ... aufgrund der
Aktenlage keinerlei Tatsachengrundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage hat, ob nun die Hinterlegung rechtswirksam war".
2. Soweit der Beschwerdeführer mit diesem Vorbringen eine öffentliche mündliche Verhandlung im Sinne des Art 6 EMRK bereits in dem der Zurückweisung vorangehenden Verfahrensstadium einfordert, ist ihm folgendes zu entgegnen:
2.1. Eine zurückweisende Entscheidung, in der nur darüber abgesprochen wird, ob ein Rechtsmittel zulässig ist, nicht aber über die Sache selbst, ist aus Sicht des Art 6 EMRK keine (inhaltliche) Entscheidung "über eine strafrechtliche Anklage" oder "über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen" (vgl. EKMR , X., Y., und Z. gg. Schweiz, Beschwerde Nr. 6916/75, DR 6, 101; vgl. auch Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit [1997], 87 f.). Die Verfahrensgarantie des "fair hearing" iSd. Art 6 Abs 1 EMRK kommt nicht zur Anwendung, wenn einer Entscheidung in der Sache Prozeßhindernisse entgegenstehen (vgl. das Urteil des EGMR vom , Golder, EuGRZ 1975, 91, insb. den letzten Absatz der Rz. 32; vgl. auch EKMR , Blay gg. Deutschland, Beschwerde Nr. 10865/84, DR 47, 188, mit Hinweis auf EKMR , X gg. Schweiz, Beschwerde Nr. 8000/77, DR 13, 81).
2.2. Die Regelung des § 51e Abs 2 Z 1 VStG, die den Entfall der mündlichen Verhandlung in jenen Fällen vorsieht, in denen zwar eine (negative) Entscheidung über den Zugang zu einem Verfahren vor dem Tribunal, nicht aber eine Entscheidung über die Sache selbst, nämlich über die "strafrechtliche Anklage", gefällt wird, verstößt nicht gegen das in Art 6 Abs 1 EMRK normierte Mündlichkeitsgebot, zumal sich dann, wenn - zulässigerweise - schon der Zugang zu einem Verfahren in der Sache beim Tribunal beschränkt ist, die Frage der Einhaltung der von einem Tribunal allenfalls zu erfüllenden Garantien nicht stellen kann. Art 6 EMRK steht einer prozeßrechtlichen Regelung nicht entgegen, die den Zugang zu einem Verfahren in der Sache von der Einhaltung von Fristen und Formerfordernissen abhängig macht; solche Regelungen dienen der Rechtssicherheit und einer geordneten Rechtspflege ("good administration of justice", vgl. EKMR , X. gg. Schweiz, Beschwerde Nr. 8407/78; EGMR , Ashingdane, EuGRZ 1986, 8, Rz 57; EGMR , Philis, ÖJZ 1991, 859; EKMR , Beschwerde Nr. 15780/89, ÖJZ 1994, 391; EGMR , Levages Prestations Services, ÖJZ 1997, 476).
2.3. Die dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Regelung begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken im Lichte des verfassungsgesetzlich in Art 6 Abs 1 EMRK verankerten Mündlichkeitsgebots.
2.4. Der von der belangten Behörde erlassene Zurückweisungsbescheid (bzw. das vorangehende Verfahren), mit dem die Berufung wegen Verspätung zurückgewiesen wurde, ist daher vom Verfassungsgerichtshof nicht anhand der in Art 6 EMRK für das Verfahren in der Sache normierten speziellen Garantien zu messen.
3. Sonstige vom Verfassungsgerichtshof wahrzunehmende Rechtsverletzungen wurden in der Beschwerde nicht behauptet. Die belangte Behörde hat vor Bescheiderlassung Ermittlungen durchgeführt, dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und ihren Bescheid begründet; in die Verfassungssphäre reichende Mängel sind im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht hervorgekommen. Die Beschwerde ist daher abzuweisen, ohne daß der belangten Behörde Vorlageaufwand zuzusprechen war (VfSlg. 11444/1987).
4. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.